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Ingeborg Geyer, Barbara Piringer (Hgg.): Sprachinseln und Sprachinselforschung heute | Rezension

Ingeborg Geyer, Barbara Piringer (Hgg.): Sprachinseln und Sprachinselforschung heute (Beiträge zur Sprachinselforschung, Bd. 25). Wien: Praesens Verlag 2021. 319 S.

 

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Von Adelheid Manz

Der Jubiläumsband Sprachinseln und Sprachinselforschung heute erschien im Auftrag des Vereins der Freunde der im Mittelalter von Österreich aus besiedelten Sprachinseln und fasst Vorträge einer internationalen Tagung zusammen, die in Wien vom 23. bis 24. November 2018 anlässlich des 45-jährigen Jubiläums des Vereins stattfand. Forscherinnen und Forscher aus Deutschland, Italien, Österreich und Ungarn stellten ihre Forschungsprojekte zur Sprachinselforschung aus unterschiedlichsten Perspektiven vor. Jeder Beitrag wurde auch ins Italienische übersetzt, entsprechend den Sprachen dieses Vereins.

Aus dem Beitrag der Vorsitzenden Ingeborg Geyer (Wien) geht hervor, dass der Verein seinen etwas umständlichen Namen bei der Gründung 1973 bekam. In ihrem Artikel werden die Aufgaben und die Umsetzung der Ziele des Vereins erläutert, der zahlreiche Kontakte zu örtlichen Organisationen und wissenschaftlichen Institutionen pflegt, um die Sprachforschung, die Sprachpflege und die Dokumentation der deutschen Sprache in ihren Gebieten zu fördern. Durch seine Publikationen und die jahrzehntelange Sammeltätigkeit werden Impulse gesetzt, die sich auf das sprachliche Selbstbewusstsein positiv auswirken. Anliegen der Vereinsleitung ist es, die linguistische Sprachinselforschung in Zukunft weiterhin zu fördern und die Forschergemeinschaften mit den lokalen Einrichtungen vor Ort zu vernetzen.

Elisabeth Knipf-Komlósi (ELTE, Budapest) geht in ihrem Beitrag Ein Umriss zur deutschen Sprachminderheitenforschung der Gegenwart zunächst auf die begriffliche Uneinheitlichkeit von Sprachinsel und Sprachminderheit ein. Nach einem kurzen Überblick zu Forschungsgeschichte und -methoden der Sprachinselforschung in Ungarn werden die aktuellen Forschungsaufgaben der Sprachinsel-/Sprachminderheitenforschung erläutert. Die Autorin ist der Meinung, dass der Begriff „Sprachinsel“ in unserer globalisierten und vernetzten mobilen Welt nicht mehr gebraucht werden kann. Anstelle der Wesensmerkmale der frühen Phase der Sprachinselforschung (Arealität, Territorialität, räumliche Abgrenzung von der Umgebung, sprachlich-kulturelle Isoliertheit) treten neue Merkmale auf; aus diesem Grunde wäre es treffender, den Oberbegriff „Minderheitensprache“ zu gebrauchen, denn dieser umfasst die gesprochenen sprachlichen deutschen Varietäten, Ortsdialekte sowie die Dialekt- und Kontakterscheinungen und Mischvarietäten. In Ostmitteleuropa hat jede Region mit einer deutschen Minderheit ihre eigene Prägung wie zum Beispiel die russlanddeutsche Kontaktvarietät, Rumäniendeutsch oder Ungarndeutsch.

Auch Sebastian Franz (Augsburg) stellt in seinem Beitrag Deutsch, oder? das vom Inselbild getragene klassische Konzept in Frage und kritisiert die Vorstellung der Insel und die damit verbundenen gängigen Konzeptionen (Abgeschlossenheit, Altertümlichkeit, Konservativität). Als unzutreffend erachtet er auch das Merkmal Isolation sowie die Annahme, dass die „Sprachinselmundarten“ ältere Sprachzustände des Binnenraums konservieren. In seinen Anmerkungen zum Terminus Identität in einer Sprachinselsituation wird betont, dass bei der Identitätsbildung auch die Mehrheitssprache eine wesentliche Rolle spielt. Die Minderheiten handeln in einem dauerhaften Wechselspiel mit ihrer direkten Umgebung ihre Identität stets neu aus und entwickeln dabei ein originäres Selbstkonzept. Im Fersental/Bersntol[1] bezeichnen sie sich als „Mócheno“ oder „Bersntoler“, zu ihrer Sprache sagen sie „Móchenisch“ oder „Fersentalerisch“ oder „Bersntolerisch“. In der Westukraine benennen die „Schwoben“ ihre deutschbasierte Varietät „Schwobisch“ oder „Schwäbisch“, auch wenn es sich dabei nicht um schwäbische Varietäten handelt[2].

Im Beitrag Sprachdokumentation und linguistische Forschung in Luserna[3] anhand von 40 Jahren Tonaufnahmen geht es um das Projekt ADOC (Archivo Digitale Online Cimbro/Zimbrisches Online-Digitalarchiv), das zwischen 2017 und 2018 durchgeführt wurde und dessen Ziel der Aufbau eines Digitalarchivs war. Der Beitrag wurde von zwei Autoren verfasst. Ermenegildo Bidese (Trient) schreibt über die Dokumentationsmaterialien, die in drei Kategorien aufgeteilt werden: Es handelt sich um 60 Tonaufnahmen, die in den Jahren 1952 bis 1982 von Eberhard Kranzmayer und Maria Hornung zusammengetragen wurden, und um schriftliche Zeugnisse (Märchen, Sagen, Geschichten und Volkserzählungen), die schon Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts veröffentlicht wurden und den Volksglauben der zimbrischen Gemeinschaft darstellen. Die dritte Kategorie besteht aus Fotos und Diapositiven, die in verschiedenen Archiven der Vereine von Lusern aufbewahrt sind. Francesco Zuin (Udine) beschreibt den Prozess der Bearbeitung der unterschiedlichen Dokumente. Man bekommt Lust eigene Materialien mit denselben Methoden und Verfahren zu bearbeiten und zu veröffentlichen, denn der Bearbeitungsprozess wird auch mit Beispielen illustriert und das Katalogisierungsschema für die Tonaufnahmen vorgeführt. Interessant erscheint auch die zweite Bearbeitungsphase, in der die Aufnahmen mit Hilfe des vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik zur Bearbeitung sprachlicher Dateien entwickelten Programms ELAN überarbeitet werden, da dieses Programm eine dreistufige Analyse der Tonspur ermöglicht. Unter folgender Internet-Adresse kann das Archiv aufgerufen und konsultiert werden: http://mediateca.istitutocimbro.it/ADOC.page.

Márta Müller (ELTE, Budapest) schreibt zum Thema Sprachlandschaftsforschung über die Mehrsprachigkeit der Deutschen in Ungarn und erforscht Citycape und Schoolscape in Werischwar/Pilisvörösvár in der Umgebung von Budapest. Die Sichtbarkeit der inneren und äußeren Mehrsprachigkeit der hier lebenden Deutschen wurde untersucht, indem Aufschriften und Schilder auf den Straßen und Gassen des historischen Stadtkerns und in den öffentlichen Kultur- und Bildungseinrichtungen (städtische Bibliothek, Kulturhaus, sämtliche Kindergärten, Grund- und Mittelschulen) fotografiert wurden. Hier tauchen die Fragen auf, welche Varietäten des Deutschen bzw. welche Sprachen visuell in der Siedlung anzutreffen sind, in welchem Verhältnis diese stehen, welchen Status sie haben und welche Funktion sie erfüllen. Ein Ziel der Untersuchung war, die Verteilung zwischen der lokalen bairischen Mundart und der Standardsprache auf Schildern zu vergleichen. Es entstanden 795 Fotos, davon 221 (28 Prozent) auf öffentlichen Plätzen und 574 (72 Prozent) in den Bildungseinrichtungen. Im Beitrag werden die Ergebnisse der Untersuchung präsentiert.

Philipp Stöckle (Wien) führte vom Dezember 2015 bis Januar 2016 eine empirische Studie bei den Nachfahren deutscher Auswanderer in Sao Bento du Sul durch. Ziel seines Beitrags Deutsch in Sao Bento du Sul (Brasilien) ist, einen Einblick in die Variationen der verschiedenen deutschen Varietäten als auch zwischen Deutsch und Portugiesisch zu geben sowie eine Einschätzung zum Stellenwert des Deutschen im Sprachleben von Sao Bento vorzunehmen. Es werden einige Hintergründe zur Geografie, Geschichte und Kultur dargelegt, ein kurzer Überblick zur sprachlichen Situation in Sao Bento geliefert und die Interviews ausgewertet.

Wilfried Schabus (Wien) führt uns in seinem Beitrag Die sprachlichen Verhältnisse bei den Hutterern in Kanada in das Leben der Hutterer heute ein, präsentiert kurz ihre Geschichte und beschreibt die Entstehung dieser Wandersprachinsel. Anschließend stellt er das Schrifttum der Hutterer und dessen Überlieferungen vor. Ausführlicher geht er auf das „Hochdeutsch“ der Hutterer und ihren hutterischen Alltagsdialekt (HuttDt) ein. Eine wichtige Frage ist auch das konfessionelle Bildungssystem („Kleine Schule“, „Deutsche Schule“), und er befasst sich mit der Entstehung einer neuen Schriftsprache, der Standardisierung des HuttDt.

Anthony Rowley (München) berichtet im Beitrag Meine Arbeit im Fersental aus seiner persönlichen Perspektive über seine 40 Jahre andauernden Kontakte, die Erlebnisse und Forschungstätigkeit vor Ort. Letztere begann er als Student 1973, als er erstmals nach Trient und ins Fersental reiste. In den darauffolgenden Jahren konnte er viele Familien kennenlernen und sich in der linguistischen Feldarbeit üben. Obwohl er Brite ist, hielten ihn die Leute schlicht für einen Deutschen und er erlernte auch das Fersentalerische. Die Aufnahmen hat er mit einem UHER-Aufzeichnungsgerät der Uni Regensburg gemacht, das damals zwar modern war, aber sehr schwer, besonders wenn man zum Gesprächspartner steil bergan steigen musste. Im Werdegang des linguistischen Feldforschers können auch die Kontakte und die Zusammenarbeit mit namenhaften Experten wie Robert Hinderling, Peter Wiesinger, Maria Hornung, Giuilana Sellan, Ludwig Eichinger, Hans Tyroller und anderen verfolgt werden.

Die vorliegende Rundschau über die früheren Sprachinselgebiete einiger Nachbarländer Österreichs und auch aus zwei anderen Regionen der Welt zeigt ein in jeder Hinsicht vielfältiges Bild, das dank der unermüdlichen Forschungstätigkeit von Wissenschaftlern, dank des Vereins, dem an dieser Stelle herzlich gedankt und eine Gratulation ausgesprochen wird, erforscht, dokumentiert und auch publiziert wurde. Dadurch konnten viele der wertvollen sprachlichen Besonderheiten für die heutige Forschung als Motivation, aber auch der Nachwelt eine frühere sprachliche Etappe – auch abgeschiedener Gebiete – erhalten bleiben. Hoffentlich wird der Jubiläumsband viele Leserinnen und Leser finden, vor allem aus jenen Gebieten und Fachkreisen, in denen heute noch deutsche Minderheiten leben und diese weiterhin – unter völlig anderen Lebensumständen – erforscht, dokumentiert und den Interessenten vorgestellt werden.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2022), Jg. 17, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 161–164.

 

[1] Auf Italienisch Valle del Fersina oder Valle dei Mocheni; eine der deutschen Sprachinseln in Norditalien, in der Region Trentino-Südtirol.

[2] „Sprecherschwaben“, vgl. Erb 1994: S. 271

[3] Lusern (italienisch Luserna) ist eine Sprachinsel der Zimbern in Norditalien. Sie sprechen die bairische Sprachvarietät Zimbrisch.