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Alice Buzdugan: Stadttexte in „Großrumänien“ | Rezension

Alice Buzdugan: Stadttexte in „Großrumänien“. Nationale Propaganda und Kulturphilosophie im literarischen Werk von Adolf Meschendörfer und Oscar Walter Cisek (Schnittstellen. Studien zum östlichen und südöstlichen Europa, Bd. 20). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 234 S.

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Von Alexandru Cizek

 

Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um die überarbeitete Fassung einer 2018 an der Universität Regensburg angenommenen Dissertation. Ziel der Untersuchung ist die Interpretation zweier Prosawerke, die als „Stadttexte“ bezeichnet werden und von zwei im letzten Jahrhundert lebenden deutschsprachigen Autoren in Rumänien verfasst wurden. Der Gebrauch der an sich irritierenden, in der Forschung aber gängigen Bezeichnung „Großrumänien“ wird in den einleitenden Bemerkungen überzeugend begründet.

Im ersten, einleitenden Kapitel der Arbeit werden zunächst die Eigenarten der deutschen Minderheiten in Rumänien in einer diachronischen Übersicht erläutert, dann die Biografien der zwei Autoren, die sowohl bezüglich ihres Lebenslaufs als auch ihrer ideologischen Orientierung grundverschieden sind. Schließlich werden die städtischen Schauplätze der zwei Romanhandlungen vorgestellt: die Ortschaften Kronstadt (rum. Brașov, ung. Brassó) im Roman Die Stadt im Osten von Adolf Meschendörfer beziehungsweise Bukarest (rum. București) und Galatz (rum. Galați) als Schauplätze des Romans Eine unbequeme Liebe von Oscar Walter Cisek.

Das Kapitel Begriffe und Methodologie (S. 33–62) geht auf literarhistorische, soziologische, komparatistisch angelegte Begriffe wie auch auf auf das städtische Wesen bezogene Klischees der Stadtgestaltung und des Stadtnarrativs im modernen Sinn ein. Das folgende Kapitel Zur Ästhetik nationaler Identität. Adolf Meschendörfer und Oscar Walter Cisek (S. 63–113) fokussiert auf ästhetische Aspekte; zum einen bezüglich des städtischen Wesens im Allgemeinen, zum anderen bezüglich der ethnischen und nationalen Identität der Rumäniendeutschen. Dies wird anhand der Bewertung essayistischer Beiträge und ebenso anhand einzelner individueller Bekenntnisse der zwei Autoren untersucht. Diese Analyse zieht zeitgenössische rumänische Ideologen wie Basil Munteanu, Eugen Lovinescu, Lucian Blaga oder Alexandru Bădăuță, die unterschiedliche beziehungsweise entgegengesetzte Doktrinen vertraten, heran; ebenso deutsche Theoretiker wie Wilhelm Worringer und Georg Simmel. Mit Recht verweist die Verfasserin auf die starke Einwirkung Worringers auf die Ästhetik Ciseks.

Die folgenden zwei Kapitel stellen den komparatistischen Schwerpunkt der Abhandlung dar, und zwar Ciseks Unbequeme Liebe (1932) zwischen rumänischer Propaganda und Kulturphilosophie (S. 115–156) und Meschendörfers Die Stadt im Osten (1931) zwischen deutscher Kulturpolitik und großrumänischer Zensur (S. 157–206). Im ersteren bezieht sich die Untersuchung des „Großstadtnarrativs“ auf die zwei in der Handlung sukzessiv auftretenden Schauplätze des Romans; zunächst auf die altrumänische Provinzstadt Galatz – die jedoch schwer als Großstadt anzusehen ist, was auch die Verfasserin anmerkt – und die Landeshauptstadt Bukarest. Die überwiegend soziologisch und kulturhistorisch fokussierte Analyse hebt die doppelte Zugehörigkeit dieser Ortschaften aufgrund ihrer sozialen und ethnischen Vielfalt als Identitätsmodelle hervor: dem Levant und zugleich dem Abendland zugehörig. Die damit einhergehenden Umbruchserscheinungen jener Zeit scheinen jedoch nicht ausreichend berücksichtigt zu sein. Auch die ausführlich als ideologische Quelle betrachteten kultursoziologischen und psychologischen Großstadtkonzepte Georg Simmels (unter anderem in Die Großstädte und das Geistesleben, 1903) dürften eigentlich nur beschränkt aufschlussreich sein, zumal diese Abhandlung ausschließlich auf das Narrativ der abendländischen Großstadt fokussiert, wobei die dortige Untersuchung von Baudelaires Paris angesichts der Entstehungszeit des Romans Ciseks als Hauptreferenz nur anachronistisch anmuten kann. Aufschlussreicher hätten allerdings rumänische soziologische Beiträge über das Stadtwesen jener Zeit, zum Beispiel die Abhandlungen von Traian Herseni, Anton Golopenția oder Dimitrie Gusti, sein können. Ohne Zweifel hätten diesbezüglich auch die Bukarester Romane der 1930er- und 1940er-Jahre betrachtet werden müssen: außer des nur zu knapp berücksichtigten Craii de Curtea Veche [Die Ritter vom alten Fürstenhof] von Mateiu Caragiale wären Sfârșit de veac în București [Jahrhundertende in Bukarest] von Ion Marin Sadoveanu und vor allem București, Orașul prăbușirilor [Bukarest, Stadt der Zusammenbrüche] von Octav Dessila oder aber neben anderen, die gleiche Thematik behandelnden Werken vor allem die Bukarester Stadtromane von Camil Petrescu und Cezar Petrescu zu erwähnen. Auch das satirische Werk Maghrebinische Geschichten des deutschsprachigen Bukowiners Gregor von Rezzori käme in Frage. Bei allen finden sich noch akzentuierter und facettenreicher die von der Verfasserin im Roman Ciseks hervorgehobenen Negativmerkmale des Bukarester Stadtlebens: etwa soziale Oberflächlichkeit, Arrivismus und Zynismus, Werte- und Sittenverfall, Korruption, wie der emblematische Titel des Romans von Dessila eindeutig verkündet. Im erwähnten Roman und noch mehr in seinen späteren wichtigeren Prosawerken erweist sich Cisek als Analytiker rumänischer Gesellschaft und Kultur zugunsten einer deutschen Leserschaft außerhalb der Grenzen Rumäniens. Als Nachkomme von bereits mehrere Generationen zuvor aus Mitteleuropa, aber auch aus Siebenbürgen und dem Banat Eingewanderten, die alle in Bukarest ansässig wurden, war Cisek ein Assimilierter, der viele Jahre im rumänischen Kulturbetrieb und diplomatischen Apparat tätig war, wobei er rumänische Mentalität und Lebensweise im deutschen Sprachgewand mit aller Konsequenz vermittelte. Diese Aspekte wie auch die ästhetischen Schriften Ciseks werden berücksichtigt und reichlich dokumentiert.

Biografisch, gesinnungsmäßig und auch intellektuell völlig anders geartet, befindet sich Adolf Meschendörfer am anderen Pol der deutschrumänischen Kulturlandschaft. Die Autorin erläutert ausführlich die „Bodenständigkeit“ des Siebenbürger Sachsen, in specie eines Kronstädters, zu dessen Vorfahren ‒ zu Anfang des 17. Jahrhunderts ‒ der Torhüter dieser Stadt zählte. Sein Nachkomme war viel mehr als das. Adolf Meschendörfer ist sozusagen ein Gralshüter des Sachsentums gewesen, dessen Seele er 1927 in seiner Siebenbürgischen Elegie zum hymnischen Ausdruck brachte Seinem Geburtsort widmete er Die Stadt im Osten, sein bestes Werk, das zuerst 1931 in Siebenbürgen erschien, also zwölf Jahre nach der Vereinigung Transsilvaniens mit Altrumänien.

Die Autorin dekonstruiert in aller Ausführlichkeit dieses eigenartige, komplexe Werk, in dem sowohl die fast tausendjährige dramatisch wechselhafte Stadtgeschichte wie auch die die Hauptfigur traumatisierende Gegenwart veranschaulicht werden, indem der Protagonist eine unglückliche Liebesgeschichte erlebt, wobei er auch sozialen Rivalitäten ausgesetzt wird. Zum epischen Strang gehören monologisierte Memoiren, kurze Erzählungen, außerdem Gedichte. Buzdugan führt aus, wie dieses Werk rezipiert wurde, und zwar, dass es sogar hundert Male rezensiert wurde, sowohl zuhause, wo es ins Rumänische und Ungarische übersetzt wurde, als auch ‒ und vornehmlich ‒ in Deutschland, hauptsächlich im Dritten Reich. Anhand der Auswahl wichtigster Stellungnahmen, darunter derjenigen des Siebenbürger Sachsen Karl Kurt Klein, befasst sich die Autorin ausführlich und mit Fingerspitzengefühl mit der im Lauf der Zeit kontroversen Interpretation und Rezeption dieses national/nationalistisch gesinnten Werks. Seine Botschaft soll sinngemäß als ein an die Weltöffentlichkeit gerichtetes Klagelied über die akute Untergangsgefährdung des sächsischen Kulturwesens als Folge von dessen Eingliederung in die Staatsstruktur Rumäniens verstanden werden. Dabei handele es sich auch um einen Hilferuf, um die Suche nach einem Retter, der impliziterweise nur der „große Bruder“ aus dem Reich sein konnte. Hierbei soll Meschendörfer der Spagat zwischen dem (auch ferngesteuerten) nationalistischen Drang und der Wachsamkeit gegenüber der rumänischen Staatszensur gelungen sein. Anders als im Falle des dezidiert durch die Naziideologie geprägten Romans Bruder, nimm deinen Bruder mit von Erwin Wittstock, dessen Veröffentlichung in Rumänien untersagt wurde. Auch bei Meschendörfer erfolgte im Lauf der 1930er-Jahre eine Gesinnungsradikalisierung, die ihn in die Nähe des Nationalsozialismus führte, wie sein 1935 in Deutschland erschienenes Werk Der Büffelbrunnen eindeutig bezeugt. Dessen ungeachtet blieb er unter dem kommunistischen Regime in Rumänien so gut wie unbehelligt, wie sonst auch Wittstock. Er wurde sogar gefördert, indem Die Stadt im Osten im literarischen Kanon der deutschsprachigen Schulen figurierte. 1984 wurde das Werk in Bukarest neu veröffentlicht.

Cisek war kein eigentlicher Epiker oder Chronist des Stadtlebens und umso weniger der Großstadt Bukarest, wenn wir von den zwei wenig bedeutenden Stadtbildern aus Unbequeme Liebe absehen. Sein Geburtsort wurde auch sonst in seinen späteren, bedeutenderen Prosawerken nicht evoziert. Wie von der Verfasserin ausgeführt, war der Gegenstand seiner epischen Schilderungen die rurale Welt und diejenige der târguri (Kleinstädte) überwiegend aus den Donaugebieten Altrumäniens mit ihrer gemischten Bevölkerung, wo neben Rumänen jeweils Lipowaner oder Tataren bzw. Armenier, Juden und Roma lebten. Cisek bevorzugte Naturlandschaften, aber auch Sitten und Charaktere einer bunten, exotisch-malerisch anmutenden Welt. Bekannt ist diesbezüglich seine Verwandtschaft mit Panait Istrati. Nur ausnahmsweise wurde zum Gegenstand seiner Epik das transsilvanische Bauerntum, so in Vor den Toren und in seiner ‒ an die Ideologie des neuen Regimes nur mühsam angepassten ‒ voluminösen Trilogie Reisigfeuer aus den späten 1950er-Jahren, in der es um den von Horia Cloșca und Crișan geführten Bauernaufstand aus der Zeit Josephs II. geht.

Die von Alice Buzdugan aufgrund einer beeindruckenden Recherche zustande gebrachte kontrastierende Parallelisierung der Lebensläufe und Werke Ciseks und Meschendörfers wirkt ebenso überzeugend wie aufschlussreich. Der bodenständige, in seinem sächsischen Lokalpatriotismus fest verankerte Gymnasiallehrer erscheint als Antipode zu dem deutschstämmigen, jedoch seit Generationen assimilierten Bukarester, der ein kosmopolitisch gesinnter Schriftsteller und Kunstkritiker und viele Jahre im Propagandaapparat und im diplomatischen Dienst des alten Regimes tätig war. Ironisch/tragischerweise wurde Cisek, der konsequente linke Antifaschist und als solcher Mitglied eines internationalen Widerstandsnetzwerkes, Anfang der 1950er-Jahre (im Laufe einer groß angelegten politischen Säuberung) für mehrere Jahre zur Zwangsarbeit in den rumänischen Gulag gesperrt. Dies soll als ein weiterer Kontrast zwischen ihm und den während der gleichen Zeit so gut wie unbehelligt gebliebenen, aber zuvor von den Nationalsozialisten geförderten Wittstock und Meschendörfer hervorgehoben werden.

Die Doktorarbeit der Germanistin Alice Buzdugan, deren beeindruckendes Quellen- und Literaturverzeichnis eine ebenso große Vertrautheit mit der rumänischen wie mit der bundesdeutschen Forschung bezeugt, ist ohne jeden Zweifel eine verdienstvolle und bewundernswerte wissenschaftliche Leistung. Angesichts seines komparatistischen Charakters empfiehlt sich dieses Werk der Aufmerksamkeit der Germanisten und Literaturwissenschaftler im Allgemeinen wie auch der Historiker, Soziologen und Politologen aus deutschsprachigen Ländern und aus Rumänien.

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 93–96.