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Würdigung eines hervorragenden Literaturwissenschaftlers. Stefan Sienerth zum 75. Geburtstag

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Von Maria Sass

Den Hochschullehrer und Literaturwissenschaftler Prof. h.c. Dr. Dr. h.c. Stefan Sienerth, dem die folgenden Zeilen gewidmet sind, kenne ich seit meiner Studienzeit an der Hermannstädter Germanistik Ende der 1970er-Jahre. Obwohl damals noch sehr jung, beeindruckte Stefan Sienerth seine Studentinnen und Studenten sowohl durch das umfassende Wissen als auch durch sein Auftreten. Auch heute noch lasse ich mich in langen Telefongesprächen von ihm zu Fragen der rumäniendeutschen Literatur gerne beraten.

Als renommierter Vertreter germanistischer Forschung europäischer Reichweite prägte der Jubilar wie „kein anderer Germanist aus Siebenbürgen […] die Forschungsdebatten in der Bundesrepublik Deutschland“ (Iulia-Karin Patrut), die er mit soliden wissenschaftlichen Beiträgen bereicherte. Denn Sienerths Forschungstätigkeit läuft über ein halbes Jahrhundert, wenn man den Zeitraum vom ersten in der dreisprachigen Klausenburger Zeitschrift Echinox veröffentlichten Aufsatz (1968) bis zum jüngst erschienenen umfangreichen Konvolut Bespitzelt und bedrängt – verhaftet und verstrickt. Rumäniendeutsche Schriftsteller und Geisteswissenschaftler im Blickfeld der Securitate (2022) berücksichtigt.

Stefan Sienerth wurde am 28. März 1948 im siebenbürgischen Dorf Durles (rum. Dârlos) geboren. Er besuchte die Grundschule im Heimatort, das Gymnasium in Mediasch (rum. Mediaș) und studierte anschließend Germanistik und Rumänistik (1966–1971) an der Babeș-Bolyai-Universität in Klausenburg (rum. Cluj-Napoca).

Nach dem Abschluss des Studiums lehrte er für kurze Zeit am Pädagogischen Institut in Neumarkt am Mieresch (rum. Târgu Mureș). 1974 kam Sienerth als Hochschulassistent an die Germanistikabteilung in Hermannstadt (rum. Sibiu). Hier unterrichtete er bis zu deren Auflösung (1986) durch einen willkürlichen Akt des Staatschefs Ceaușescu. Als Dozent an der Hermannstädter Philologischen Fakultät blieb Stefan Sienerth dem didaktischen Kanon treu, wobei er Studierende in Forschungsmethoden und literarische Strömungen (Vormärz, bürgerlicher Realismus, in die pluralistischen Tendenzen der Jahrhundertwende) einführte. Von 1986 bis zu seiner Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland (1990) war Sienerth am Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut Hermannstadt im Bereich der sächsischen Dialektologie und Lexikografie aktiv.

Die schon während seiner Studienzeit aufgenommene Forschungstätigkeit, die vorwiegend in der rumäniendeutschen Literaturgeschichte und -kritik verortet ist, konnte Sienerth unter unterschiedlichen sozialpolitischen Konstellationen nach divergierenden Maßstäben entfalten. Sie fußt auf einem gründlichen Recherchieren beachtlicher Primär- und Sekundärliteratur und zahlreicher Archivquellen etwa zum Humanismus und zur Aufklärung rumäniendeutscher Prägung sowie zur Geschichte der deutschen Literatur vom 19. Jahrhundert bis Anfang des 21. Jahrhunderts. Geleitet von der Überzeugung, dass in seiner Heimat ein literarischer Schatz verborgen liegt, der verwertet und der fachlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden muss, hat sich Stefan Sienerth mit Beharrlichkeit dieser Aufgabe angenommen und 1979 seine Promotion (Deutsche Lyrik aus Siebenbürgen, Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts) an der Universität Bukarest erfolgreich abgeschlossen.

Nach der Wende (1990) hätte Stefan Sienerth seine Lehrtätigkeit und wissenschaftliche Laufbahn an der neugegründeten Universität in Hermannstadt erneut aufnehmen und den Professorentitel erwerben können. Umso mehr hat sein Entschluss zur Ausreise viele Fachkollegen und Bekannte überrascht.

Doch auch in der neuen Heimat sollte in Fachkreisen sein Name bald einen guten Klang haben, was ihm Ansehen und auch den Beinamen des „Großen“ einbringen sollte. In Deutschland nahm er die günstige Gelegenheit wahr, die in Rumänien begonnene Forschungsarbeit zur rumäniendeutschen Literatur und Kultur fortzusetzen und damit auch die Verbundenheit mit seiner alten Heimat zu bewahren. Ab 1991 wirkte Stefan Sienerth bei Forschungsvorhaben des Südostdeutschen Kulturwerks, dem späteren Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, mit. Ein Jahr später wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter dieser Forschungseinrichtung, die er von 2005 bis 2013 auch leitete. Auch seine Unterrichtstätigkeit setzte Sienerth fort: Er war an der LMU als Lehrbeauftragter für neuere deutsche und rumänische Literatur tätig und hielt regelmäßig Blockvorlesungen an der Universität Bukarest, die ihm 2002 eine Ehrenprofessur verlieh.

Die intensive Forschungstätigkeit von Stefan Sienerth lässt sich mit seinem umfassenden Werk belegen, das groß angelegte Studien, Aufsätze, Rezensionen, Monografien, Anthologien, Literaturgeschichten, Sammelbände, die er als (Mit)Herausgeber zeichnet, einschließt. Zu seinen bedeutendsten und früheren Bandveröffentlichungen mit unverkennbarer Signatur gehören unter anderem: Geschichte der siebenbürgisch-deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts (1984), Beiträge zur rumäniendeutschen Literaturgeschichte (1989), Geschichte der siebenbürgisch-deutschen Literatur im 18. Jahrhundert (1990), Wintergrün. Anthologie siebenbürgisch-deutscher Lyrik aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (1978), Wahrheit vom Brot. Anthologie siebenbürgisch-deutscher Lyrik der Jahrhundertwende (1980), Ausklang. Anthologie siebenbürgisch-deutscher Lyrik der Zwischenkriegszeit (1982), Das Leben ein Meer. Anthologie der Anfänge (1986), Kritische Texte zur siebenbürgisch-deutschen Literatur. Vom Ende des 18. bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1996).

Wie vielseitig Stefan Sienerths Forschungsarbeit und gediegenes Wissen ist, belegen nicht nur die von ihm angeregten und oft in Zusammenarbeit herausgegebenen Sammelbände, die das Verlagsprogramm des IKGS mit thematisch wertvollen Bänden und Überblicksdarstellungen ergänzen, sondern auch die 2008 im gleichnamigen Verlag veröffentlichte zweibändige Ausgabe seiner wichtigsten Studien (Studien und Aufsätze zur Geschichte der deutschen Literatur und Sprachwissenschaft in Südosteuropa).

Nach dem Fall der Diktatur in Rumänien hat sich Stefan Sienerth intensiv mit der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit beschäftigt. Zwei umfassende Bände dokumentieren Machtmissbrauch, Rechtswillkür und Verfolgungsaktionen des rumänischen Geheimdienstes Securitate während der Diktatur: Worte als Gefahr und Gefährdung. Fünf deutsche Schriftsteller vor Gericht (zusammen mit Peter Motzan, 1993) und Bespitzelt und bedrängt – verhaftet und verstrickt. Rumäniendeutsche Schriftsteller und Geisteswissenschaftler im Blickfeld der Securitate. Studien und Aufsätze (2022).

Für sein Werk und Wirken wurde der Jubilar mit dem Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturpreis (2011) geehrt, und zum 70. Geburtstag verlieh ihm die Lucian-Blaga-Universität in Hermannstadt die Ehrendoktorwürde.

In alter Verbundenheit gratulieren wir dem Jubilar herzlich und wünschen ihm noch viele gesunde, arbeits- und segensreiche Jahre mit Familie und Freunden.

Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Herr Sienerth!

 

Maria Sass ist Professorin für Neuere deutsche und rumäniendeutsche Literatur an der Lucian-Blaga-Universität Hermannstadt (rum. Sibiu). Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind neuere deutsche und rumäniendeutsche Literatur, deutsch-rumänische Literaturkontakte und literarisches Übersetzen.

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 216–218.