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Stéphane Maffli: Migrationsliteratur aus der Schweiz | Rezension

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Stéphane Maffli: Migrationsliteratur aus der Schweiz. Beat Sterchi, Franco Supino, Aglaja Veteranyi, Melinda Nadj Abonji und Ilma Rakusa (Gegenwartsliteratur, Bd. 12). Bielefeld: Transcript Verlag 2022. 303 S.

Was ist eigentlich Migrationsliteratur? Genau das versucht Stéphane Maffli im ersten Kapitel seiner jüngst in Buchform erschienenen Dissertation zu klären, und das ist angesichts einer gewissen Begriffsverwirrung rund um dieses Phänomen auch dringend geboten. Der Verfasser setzt sich zum Ziel, am Leitfaden der Geschichte der Einwanderung in die deutschsprachige Schweiz ab 1950 zu untersuchen, wie in fünf recht unterschiedlichen literarischen Texten das Phänomen der Migration dargestellt wird und wie deren Hauptthemen – „Fremdheit, Familie, Sozialisierung, Traditionen und Fremdenfeindlichkeit“ – sprachlich modelliert werden. (S. 11) Wobei Maffli davon ausgeht, dass jegliche Literatur, die Aspekte der Migration zur Sprache bringt und gestaltet, immer auch Fragen der Mehrsprachigkeit verhandelt und von daher „eine besondere Aufmerksamkeit für Sprachproblematiken“ (S. 15) aufweist. Zentral für seinen Analyseansatz ist, dass literarische Texte grundsätzlich als fiktionale Darstellungen betrachtet werden – und nicht als Lebenszeugnisse ihrer Autorinnen und Autoren. Das ermöglicht ihm, die immer schon problematische Trennung zwischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern mit oder ohne Migrationshintergrund aufzuheben. Somit kann er den Roman Blösch (1983) des 1949 in Bern geborenen Beat Sterchi, dessen Hauptfigur Ambrosio den klassischen „Gastarbeitern“ der 1960er-Jahre zugeordnet werden kann, als Migrationsliteratur lesen, und er kann die von vielen Leserinnen und Lesern als selbstverständlich betrachtete Relevanz der Herkunftsländer von Franco Supino (Italien), Aglaja Veteranyi (Rumänien), Melinda Nadj Abonji (Serbien) und Ilma Rakusa (Slowakei/Slowenien/Italien) souverän ignorieren. Das Herkommen der Autorinnen und Autoren ist für Maffli irrelevant – Migrationsliteratur heißt hier „erzählende Literatur über Migration“ und nicht „literarische Texte von Migrierenden“. (S. 43)

Den Verfasser interessiert vor allem, welche Informationen zur Schweiz als Gesellschaft die fünf ausgewählten Werke vermitteln und auf welche Weise sie ihre eingewanderten Protagonisten als Subjekte wie als Modellfiguren sprachlich inszenieren. Es geht ihm aber nicht bloß darum zu erklären, „wie die Texte als historische und subjektive Dokumente zu lesen sind und welche Daten man daraus in Bezug auf Migration ziehen kann“, sondern auch um die jeweilige literarische Form – die Analyse soll auch zeigen, „mit welchen Erzählstrategien und mit welcher Literatursprache die Inhalte dargestellt werden“. (S. 27) Von daher hat die Studie sowohl eine hermeneutisch-strukturalistische als auch eine literatursoziologische Dimension, und beide werden, wie es sich für eine akademische Qualifizierungsarbeit gehört, literaturtheoretisch gründlich erörtert. Nicht nur für Fachleute aufschlussreich ist der das Einleitungskapitel abschließende Forschungsbericht, in dem das hier entwickelte Verständnis von „Migrationsliteratur“ gegenüber anderen Konzepten wie „Literatur der Migration“, „interkulturelle Literatur“ oder „transkulturelle Literatur“ gedankenscharf perspektiviert und plausibel profiliert wird. Wie weit aber trägt diese Präzisierung des Begriffs „Migrationsliteratur“? Welche neuen Erkenntnisse ergeben sich aus Stéphane Mafflis Analysen, von denen hier diejenigen genauer betrachtet werden sollen, die sich auf Texte von Autorinnen mit südosteuropäischem Hintergrund beziehen?

Im Mittelpunkt des aus der Perspektive eines traumatisierten Kindes erzählten Romans Warum das Kind in der Polenta kocht von Aglaya Veteranyi (1999) steht der mühsame Prozess der Identitätsbildung der anfangs fast analphabetischen Ich-Erzählerin. Die „zersplitterte Darstellungsweise“, die interessanterweise mit dem Werk des russischen Autors Daniil Charms (1905–1942) und mit Texten aus dem Umfeld der Dadaisten in Zusammenhang gebracht wird, „bildet das Gefühl des Verlorenseins in der Welt nicht nur ab, sondern die Notsituation der Erzählerin wird dadurch dem Leser erfahrbar gemacht. Die Gewaltsamkeit der Handlung passt zur scheinbaren Rohheit der Narration“. (S. 141) Strukturiert werde der Text durch das Verhältnis der Ich-Erzählerin zur Mutter – manche Aussagen ließen sogar offen, ob sie oder die Mutter spricht. Der Roman thematisiere einen sprachlichen Befreiungsprozess, an dessen Ende die Hauptfigur durch den Erwerb einer Fremdsprache ihren Weg zur Mündigkeit findet. Dabei würden die Grenzen der Gattung Roman gesprengt – Warum das Kind in der Polenta kocht besitze auch „Eigenschaften des Tagebuchs, des Gedichts und des Märchens“ (S. 151), worauf auch die Namenlosigkeit der Figuren und Orte hinweise: „Lediglich Rumänien als Herkunftsland der Zirkusartisten und die Schweiz, wo die Erzählerin in einem Kinderheim untergebracht wird, sind ungefähr geografisch verortbar.“ (S. 155) Genau und behutsam interpretiert der Verfasser den in der bisherigen Forschung oft zitierten Romansatz „Meine Familie ist im Ausland wie Glas zerbrochen.“ (S. 132) Er verdeutlicht, weshalb man den merkwürdigen, eine verlorene Kindheit bereits andeutenden Titel des Romans als „Warum die Erzählerin leidet“ lesen kann (S. 175), und er führt zudem vor Augen, dass die mitunter verstörende Lektüre dieses Werks auch damit zu tun haben kann, dass es an die „Grenzen des Sagbaren“ rührt – den Lesenden bleibe am Ende nichts anderes übrig als die „Unlösbarkeit des Textes“ zu akzeptieren. (S. 178) Zusammenfassend kann man sagen, dass Stéphane Mafflis Interpretation von Warum das Kind in der Polenta kocht mehr Erhellendes zu Tage fördert, als es die bisherigen Analysen dieses wichtigen Migrationsromans getan haben – auch wenn man seiner Fokussierung der Formanalyse auf die Innenperspektive der Protagonisten nicht immer und überall folgen möchte.

Für ihren auch in der Literaturwissenschaft stark beachteten Roman Tauben fliegen auf erhielt Melinda Nadj Abonji 2010 sowohl den Deutschen als auch den Schweizer Buchpreis. Wiederum geht es um die Identitätssuche einer jungen Frau, und wiederum erinnert sich die Ich-Erzählerin an ihre Kindheit, die sie, nachdem die Eltern aus der Vojvodina in die Schweiz ausgewandert waren, in den 1970er-Jahren bei ihrer Großmutter verbracht hat. In der Erzählgegenwart arbeitet Ildikó Kocsis, die meistens als für ihre Familie mitsprechende „Wir-Erzählerin“ (S. 188) auftritt, als Kellnerin im seit Kurzem von ihren Eltern geführten Café Mondial am Zürichsee, ehe sie Ende 1993 von zu Hause auszieht. Stéphane Maffli stellt die sichtbar werdenden Unterschiede zwischen den migrantischen Generationen besonders heraus – Stichwort Familiennachzug: Während sich die Eltern an Werten und Normen der 1950er-Jahre orientieren, identifizieren sich Ildikó und ihre Schwester Nomi mit dem Schweizer Lebensgefühl der 1990er-Jahre. Vor allem Ildikós „sprachliche Sensibilität“ gerät dabei in den Blick: „Sie erkennt den mehrsprachigen Kontext, in dem sie sich bewegt, und hat einen fremden Blick auf das Deutsche.“ (S. 195) Der Roman, der primär die Erfahrungen der zweiten Einwanderergeneration erzähle, aber auch Auseinandersetzungen zwischen frühen Migranten und nicht unbedingt freundlichen Einheimischen thematisiere, enthalte „zahlreiche Anspielungen, die sich auf die Einwanderungspolitik der Schweiz beziehen“ (S. 205), und zeichne insgesamt „ein differenziertes Bild des Phänomens der Fremdenfeindlichkeit in diesem Land“. (S. 211) Tauben fliegen auf besitze „eine eindeutige politische Dimension“ (S. 221) und gewähre intensiven „literarischen Einblick in die Migration […], weil der Text verschiedene Haltungen und Verhaltensweisen von Einwohnern und Einwanderern vorführt“. (S. 222) Nicht zuletzt durch seine „eigenartige und assoziative Erzählweise […], die das Gedachte mit dem Erlebten verbindet“, mache der Text deutlich, „dass die Situation als Einwanderer der zweiten Generation in der Schweiz auch positiv gedeutet werden kann“. (S. 222)

Der von der Kindheit und Jugend seiner Autorin handelnde Text Mehr Meer (2009), „ein Buch über Herkünfte im Plural“ (S. 224), müsse, anders als die Romane von Aglaya Veteranyi und Melinda Nadj Abonji, als Werk mit einem gewissen „Realitätsanspruch“ gelten. „Drei Bereiche spielen eine wichtige Rolle: die Menschen, mit denen Ilma Rakusa zu tun hat, die Orte, in denen sie lebt oder die sie bereist, und schließlich die Entdeckung und der Umgang mit Kunst, insbesondere mit Musik und Literatur.“ (S. 224) Der Verfasser erläutert schlüssig, weshalb er, angesichts der „Dualität von Fiktionalität und Faktizität“ (S. 235), Mehr Meer als Autofiktion betrachtet, und er macht wohl als Erster auf strukturelle Bezüge zu Benjamin und Baudelaire aufmerksam: „Ausgewählte Momente des Lebens, die das Gedächtnis selektiv und intuitiv gespeichert hat, werden poetisiert und gedeutet.“ (S. 238) Das von Ilma Rakusa kunstvoll literarisierte Kinderleben bewegt sich zwischen dem Slowenischen (Vater), Ungarischen (Mutter) und Italienischen (Triest) – die deutsche Sprache erreicht das lebenslange „Unterwegskind“ (S. 240) erst später. Der Verfasser untersucht die dem Werk inhärente Ästhetik der Mehrstimmig- und Mehrsprachigkeit, die sich auch nach dem Wechsel des Lebensmittelpunkts der Erzählerin von Triest nach Zürich namhaft und dingfest machen lässt. Insofern zähle Mehr Meer, so Maffli, unbedingt zur Migrationsliteratur – auch wenn die Migration hier eindeutig positiv erscheine und die Fremdheit als Gewinn betrachtet werde, die den entscheidenden Impuls für die nicht nachlassende Reiselust einer Erzählerin darstelle, die sich im Unterwegssein heimisch und glücklich fühlt. (S. 256)

In der das Buch abschließenden „Synthese“ macht sich, noch mehr als in den vorangegangenen Kapiteln, Stéphane Mafflis Hang zur Redundanz besonders bemerkbar. Noch einmal wird betont, dass „sich der literarische Einblick in die Migration in den fünf Beispielen in erster Linie auf die zweite Generation bezieht“ (S. 272), erneut wird herausgestellt, das in allen fünf Texten die Mehrsprachigkeit „sowohl ein ästhetisches Merkmal als auch ein wichtiges Thema“ (S. 274) ist, und einmal mehr erfährt man, dass die fünf Werke „eine Idee davon“ geben, wie sich der Schweizer Umgang mit Migrantinnen und Migranten zwischen 1960 und 2000 verändert hat. (S. 277) Das wurde bereits in der Einleitung erörtert, und es war auch später mehrfach wiederholt worden – der Verfasser hatte sich von Anfang an bemüht, jeden der fünf ausgewählten Texte nicht nur in seiner Besonderheit zu würdigen, sondern zugleich die gemeinsamen Merkmale seines Textcorpus’ herauszuarbeiten. Das ist ihm zumeist recht eindrucksvoll gelungen, und deshalb lohnt sich das Studium seiner Arbeit, die die Erforschung der Migrationsliteratur, nicht nur der aus der Schweiz, bereichern und anregen wird.

Klaus Hübner

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2022), Jg. 17, IKGS Verlag, München, S. 118–121.

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