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Tagungsbericht | Zwischen Kronen und Nationen

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Die zentraleuropäischen Priesterkollegien in Rom vom Risorgimento bis zum Zweiten Weltkrieg

Im Rahmen der Tagung, die vom 22. bis 24. Januar 2020 am Campo Santo Teutonico in Rom stattfand, wurden mehrere zentraleuropäische Priesterkollegien und ihre Kollegiaten in Rom und dem Vatikan in den Blick genommen. Organisiert wurde die Tagung von Franz Xaver Brandmayr (Päpstliches Institut Santa Maria dellʼAnima, Rom), Stefan Heid (Römisches Institut der Görres-Gesellschaft), Florian Kührer-Wielach (Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU München) und Tamara Scheer (Universität Wien) mit Unterstützung der Erzdiözese Wien, dem ÖAD-Kooperationsbüro Lemberg/Lwiw und der Ungarischen Botschaft beim Heiligen Stuhl. Ziel der Tagung war es, aktuelle historische Fragestellungen zu individueller und kollektiver Zugehörigkeit, Identifikation und Loyalität im zentral-, ostmittel- und südosteuropäischen Raum mit kirchengeschichtlichen Perspektiven zu verknüpfen. Mit einem interdisziplinären, institutionsgeschichtlichen wie akteursbezogenen Ansatz wurde das sich wandelnde Verhältnis von Staat und Kirche in einen größeren zeitlichen und geografischen Rahmen diskutiert.

Im Untersuchungszeitraum, der sich, beginnend mit dem italienischen Einigungsprozesses ab den 1850er-Jahren bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, über mehrere politische Zäsuren erstreckt, lässt sich ein Prozess der Neuordnung der europäischen Staaten feststellen, der mit dem Zerfall jahrhundertealter Reiche und der Entstehung neuer Staaten verbunden war. Diese bezeichneten sich in der Regel selbst als Nationalstaaten, wiesen jedoch in der Realität eher die Merkmale eines Nationalitätenstaates beziehungsweise einer multiethnischen Gesellschaft auf.

Der Vatikan mit der Kuppel des Petersdoms, aufgenommen von der Stazione San Pietro, © Tobias Weger

Der Vatikan mit der Kuppel des Petersdoms, aufgenommen von der Stazione San Pietro, © Tobias Weger

Florian Kührer-Wielach (München) bettete in seinem einleitenden Beitrag „Confessio–Natio–Patria: (Post-)imperialer Wandel zwischen Reaktion und Adaption“ die Tagung in einen theoretisch-methodischen Rahmen ein. Er stellte neun relevante Faktoren vor, die er den Kategorien „Feld“, „Umfeld“ und „Phänomene der Moderne“ unterordnete. Im „Feld“ verortete er institutionelle und individuelle Akteure – die Kollegien und bestimmte Persönlichkeiten – sowie die Stadt Rom selbst als „Soziotop“. Die Kirche, das Imperiale und den Wandel nannte er als Faktoren des „Umfelds“. In Bezug auf den Wandel unterstrich Kührer-Wielach den Begriff der Adaption, den er als Alternative zur üblichen dualistischen Perspektive auf Kontinuitäten und Brüche vorstellte. Unter „Phänomenen der Moderne“ fasste er das Nationale, mit einem Augenmerk auf Bindestrich-Identitäten, das Konfessionelle, für das er sowohl Überschneidungen wie auch Abgrenzungen zu ersterem feststellte, und das Ideologische, womit er sich auf religiös-politische Allianzen bezog. Ein zentrales Anliegen war es ihm, die deutschen Kollegien in Rom als handelnde, sich wandelnde, von Individuen gelenkte Institutionen „zwischen Adaption und Reaktion“ zu begreifen. In der Diskussion stellte Stefan Heid (Rom) die Frage nach dem Faktor Kultur in diesem Modell, da es Kollegien grundsätzlich anstreben würden Orte der Kultur zu sein. Kührer-Wielach erklärte, dass Kultur als Konzept das gesamte Modell umschließen würde.

Stefan Heids (Rom) Beitrag „Deutsch ohne Grenzen: Die Nationenfrage am Priesterkolleg beim Campo Santo Teutonico (1875–1939)“ räumte dem Begriff der Kulturnation eine zentrale Stellung ein. Insbesondere behandelte er die Rolle des niederrheinischen Priesters Anton de Waal, von 1872 bis 1917 Rektor der Erzbruderschaft, bei der Transformation des Campo Santo zur treibenden Kraft deutscher Nationalinteressen in Rom. De Waal verstand sich stets als „preußischer Untertan“ und versuchte, den deutschen Anspruch auf den Campo Santo kulturgeschichtlich zu legitimieren. De Waal konstruierte eine Kontinuität, die die Gründung des Campo Santo als deutsches „Nationaleigentum“ bis auf Karl den Großen zurückführte. Ein Gründungsakt im engeren Sinne ist jedoch erst für das 15. Jahrhundert nachgewiesen. De Waal, der in seinem 45-jährigen Rektorat den Campo Santo neben der „Anima“ zur zweiten deutschen Nationalstiftung ausformte, verstand „deutsch“ von seinem patriotischen Gefühl her als reichsdeutsch, in historischer Perspektive aber als großdeutsch. Heid hob in der Diskussion hervor, dass die nationale Zugehörigkeit als individuelles Motiv, Teil des Kollegs zu werden, letztlich nie eine große Rolle gespielt habe.

Andreas Gottsmann (Wien und Rom) behandelte in seinem Beitrag den „Konflikt zwischen dem Priesterkolleg Santa Maria dellʼAnima und der österreichisch-ungarischen Botschaft um die Aufgaben der Agentie“ und insbesondere um die Wahrnehmung privater und staatlicher Rechtsgeschäfte beziehungsweise deren Vermittlung aus dem Ausland beim Heiligen Stuhl. Die habsburgischen Herrscher sahen den direkten Kontakt ihrer Bischöfe mit dem Heiligen Stuhl kritisch. Die bei der Botschaft am Heiligen Stuhl angesiedelte kaiserliche Agentie wurde daher zu einem Instrument des kaiserlich-österreichischen Staatskirchentums. Mit der Revolution 1848/49 wurden der staatlichen Agentie ihre rechtlichen Grundlagen entzogen. Sie verlor mit der Gewährung des freien Verkehrs der Bischöfe ihre Monopolstellung. Die Anima versuchte jedoch, privaten Agenten zuvorzukommen und sich diese Aufgaben und die damit anfallenden Gebühren als Einkünfte zu sichern, was wiederum zu Konflikten führte. Jedoch spielte auch die „nationale“ Positionierung der Anima für alle „deutschen“ Gebiete eine Rolle, denn diese stand im Widerspruch zur habsburgischen Strategie eines übernationalen Herrschaftsanspruchs. Tamara Scheer (Rom und Wien) wies in der Diskussion darauf hin, dass die Anima, in deren Verwaltungsrat der österreichisch-ungarische Botschafter saß, bewusst die übernationale Gegenposition der Habsburgermonarchie zum deutschnational konnotierten Campo Santo bezog.

Markus Pillat (Rom) widmete seinen Beitrag dem „Pontificium Collegium Germanicum et Hungaricum in Rom zwischen internationalem Anspruch und nationalen Interessen im 19. und 20. Jahrhundert“. Das Collegium Germanicum et Hungaricum (CGU) appellierte „bereitwillig an Kronen und Nationen, um seine Funktion als Ausbildungsstätte für Priesterkandidaten ausüben zu können“, so Pillat. Es wurde vom Jesuitenorden mitbegründet und war somit von Beginn an von einem internationalen Geist geprägt, was national gesinnte Akteure dazu veranlasste, das CGU als „national unzuverlässig“ anzusehen. Pillat zeigte auf, wie das CGU ein internationales Angebot an Seminaristen stellte, im 19. und 20. Jahrhundert aber zunehmend nationale Tendenzen entwickelte. Letztlich sei das CGU jedoch nie als „rein“ nationale Institution, also weder deutsch noch ungarisch aufgetreten, da die Übernationalität immer auch als Schutz vor einer Einmischung von „Kronen und Nationen“ dienen konnte. In der Diskussion wurde die Frage nach einer internen Debatte bezüglich der eigenen Identität aufgeworfen. Pillat führte daraufhin aus, dass sich die Internationalität auch in einer gewissen Zurückhaltung bei nationalen Festen ausdrückte und im Haus vermieden worden sei, das Thema Nation oder Nationalität anzusprechen.

Tamara Scheer veranschaulichte in ihrem Vortrag „Die habsburgische Nationalitätenfrage am Collegium Teutonicum di Santa Maria dellʼAnima (1859–1915)“, inwiefern sich die in der späten Habsburgermonarchie virulente Frage nach nationaler Zugehörigkeit im Mikrokosmos der Anima widerspiegelte. Im Jahr 1859 blickte die Anima bereits auf mehrere Jahrhunderte als Hospiz und Kirchengemeinde in Rom zurück, stets unter der Patronanz habsburgischer Herrscher als Anlaufstelle für Pilger und Priester aus dem Heiligen Römischen Reich (deutscher Nation). Für die Anima fanden viele Namen Verwendung: Deutsches Nationalinstitut, Deutsche National-Stiftung oder auch Deutsche National-Kirche. Obwohl in der Innen- wie Außenkommunikation das Deutsche als Identitätszuschreibung dominierte, war die Anima sowohl was Verwaltung, Geistliche, Gemeinde und Mitarbeiter betraf ein „Abklatsch von Mitteleuropas Nationalitäten“, wie Scheer anhand mehrerer Quellen aufzeigte. Exemplarisch für die Zusammensetzung der Geistlichkeit steht das Zitat des Bischofs von Triest, der feststellte, dass ihm bei der Entsendung von Kollegiaten die Vorgabe „teutonicus“ im Wege stünde, da er nur Slawen und Italiener in seiner Diözese habe, und griff bisweilen auf den Begriff des „Austriacus“ zurück. Sämtliche im Untersuchungszeitraum vorgeschlagene Priester nicht-deutscher Nationalität wurden in die Anima aufgenommen.

Franz-Josef Kos (Kerpen) behandelte in seinem Vortrag das Verhältnis zwischen „Deutschem Reich und den katholischen Institutionen in Rom, Campo Santo und Anima, vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1933“. Er veranschaulichte, dass sich das Interesse der deutschen Kulturpolitik an den beiden katholischen Institutionen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausbildete, da sie sich in dieser Periode von vorwiegend wohltätigen Organisationen zu stärker wissenschaftlich ausgerichteten Institutionen und sogenannten nationalen Heimstätten entwickelten. Beide Institutionen, Campo Santo und Anima, pflegten enge Kontakte zur Habsburgermonarchie. Im deutschen Auswärtigen Amt kam man bezüglich der Anima um 1885 aber zu der Auffassung, vorläufig an dem Status quo nichts zu ändern, sofern die deutschen Interessen durch „deutschfreundliche“ österreichische Rektoren gewahrt blieben. Das Auswärtige Amt wollte sich nicht ausschließlich auf den Campo Santo konzentrieren, sondern insbesondere den Zugriff auf die finanziell wesentlich besser gestellte Anima sichern. Paradoxerweise erwies es sich für das Deutsche Reich als schwieriger, die Beziehungen zum Campo Santo zu intensivieren als jene zur Anima, was vor allem am Verhalten des Rektors des Campo Santo, Anton de Waal, lag. In der Diskussion wiesen Heid und Scheer darauf hin, dass diese dualistische Haltung auch im Campo Santo und der Anima Resonanz fand, beispielsweise im Rahmen nationaler Feste, wenn je nach Anlass einmal der preußische und einmal der habsburgische Kaiser durch die strategische Platzierung ihrer Bilder prominenter repräsentiert war.

Jitka Jonova (Olmütz/Olomouc) referierte über „Monsignore František Zapletal und das böhmische und spätere tschechoslowakische Kolleg in Rom“, zu dem Priester aus Böhmen Zugang hatten, unabhängig davon, ob sie deutscher oder tschechischer Nationalität waren. Um nationale Konflikte zu vermeiden, wurde als Umgangssprache im Kolleg das Italienische festgelegt. Nach der Entstehung der Tschechoslowakei als Folge des Ersten Weltkriegs wurde das Böhmische Kolleg unter dem Namen Nepomucenum zum tschechoslowakischen Kolleg erweitert.

Tomislav Mrkonjić (Rom) unterstrich in seinem Vortrag „Das kroatische Priesterkolleg in Rom und seine Bedeutung für die kroatische Nation in der Zeit der Habsburgermonarchie“, dass das Päpstliche Kroatische Kolleg vom Heiligen Hieronymus zu Rom von seiner Gründung im Jahre 1901 bis zum Untergang der Habsburgermonarchie als Symbol der „kroatischen katholischen Nation“ galt. Dennoch vermied man im Kolleg eine demonstrative Betonung des Kroatischen, da man den Widerstand der Habsburgermonarchie fürchtete – angesichts der Tatsache, dass viele Kroaten im habsburgischen Staatsverband lebten.

Ulyana Uska (Lemberg/Lwiw) referierte, ausgehend von einzelnen Biografien, über „Ukrainische Kollegiaten in Rom: Biographien als Spiegelbilder einer Epoche“. Dabei nahm sie nicht nur die Anfänge des Athanasiums, des ruthenischen/ukrainischen Kollegiums, das 1845 in Collegium Graeco-Ruthenorum umbenannt wurde, in den Blick, sondern auch die Rolle einzelner Geistlicher in späteren Krisenzeiten. Iwan Bučko beispielsweise gründete 1942 ein Hilfskomitee für ukrainische Flüchtlinge in Rom. Mykola Czarneckij und Josyf Slipjj wurden beide, wie viele andere Mitglieder der griechisch-katholischen Kirche, die vom Sowjetregime verboten und mit der orthodoxen Kirche zwangsvereinigt worden war, verfolgt und in sibirischen Lagern interniert. Slipjj wurde 1963 aus der Haft entlassen und ging ins Exil nach Rom. In der Diskussion betonte Katrin Boeckh (Regensburg und München), dass das Sowjetregime Verfolgungen offiziell stets mit einer antisowjetischen Haltung der Betroffenen begründete und niemals mit religiösen.

Urban Fink (Oberdorf-Solothurn) widmete sich in seinem Vortrag einer „biografischen und strukturellen Spurensuche“, indem er „Schweizer Germaniker und weitere Schweizer Romstudenten und ihr Wirken in der Kirche in der Schweiz des 19. und 20. Jahrhunderts“ vorstellte. Aus der Schweiz kamen im 19. Jahrhundert ein Viertel der Germaniker im Collegium Germanicum et Hungaricum. Schweizer wurden auch im Campo Santo und in der Anima aufgenommen. Sein Augenmerk legte Fink auf das spätere Wirken dieser Romstudenten in der Heimat oder anderen Teilen der Welt. Auch wenn die Schweizerische Eidgenossenschaft offiziell erst seit 1994 mit dem Heiligen Stuhl diplomatische Beziehungen unterhielt, waren und sind die Beziehungen der katholischen Schweiz zu Rom intensiv, wie die Existenz der Schweizergarde wohl am deutlichsten belegt. Jedoch stehe man, so der Referent, ähnlich wie in Deutschland, momentan vor einem Traditionsbruch, da kaum mehr Seminaristen nach Rom geschickt werden.

Die Weitläufigkeit der Beziehungs- und Wirkungsgeschichte des Campo Santo wurde auch im Beitrag von Hartmut Benz (Ruppichteroth) deutlich, der sich dem Thema „Der Campo Santo Teutonico und die Nord-Amerikanische Mission“ widmete. Im Mittelpunkt stand der Brief-Nachlass Anton de Waals, in dem es primär um Gefälligkeiten wie finanzielle Unterstützung, Bitten um Reliquien oder Quartiermöglichkeiten, Publikationen und Übersetzungen ins Englische ging. Das deutschsprachige Element war im US-Katholizismus sehr präsent, so Benz, da ein Drittel der Katholiken in den USA im 18. Jahrhundert deutschsprachig gewesen seien. De Waal propagierte die Idee des „Deutsch-Römischen“ und schrieb im Sinne des „Nationalen als Kosmopolitischen“ für viele deutschsprachige Zeitungen in deutschen Kommunen und Gemeinschaften in den USA.

Stefan Samerski (München) referierte über das „Salvatorianer-Kolleg in Rom“, das er im Spannungsfeld „Internationalität versus deutsches Regulativ“ verortete. Er betonte, dass das Erlernen von Fremdsprachen in der 1881 in Rom gegründeten Ordensgemeinschaft obligatorisch war, und unterstrich die Wichtigkeit römischer Sozialisierung und Internationalität für Salvatorianer Missionsinstitute in aller Welt. Dabei hob er hervor, dass um 1900 eine strenge „Assimilierung und Ambientierung“ im römischen Umfeld und Kontext vorangetrieben wurde und erwähnte den Begriff des „Deutschrömers“. In der anschließenden Diskussion wurde der Begriff des „Deutschrömers“ präzisiert: mit ihm sollte auf das Konzept einer Mischidentität verwiesen, aber gleichzeitig eine klare Definition vermieden werden.

Mit dem Zitat Ottokár Prohászkas (1858–1927) – „Ich bin ein römischer Theologe“ – begann András Fejérdy (Budapest) sein Referat über „Die Rolle der Römischen Studienjahre im Leben und theologischen Wirken des späteren Bischofs von Székesfehérvár, Ottokár Prohászka (1858–1927)“, der von 1875 bis 1882 Mitglied des Collegium Germanicum et Hungaricum war. Auf Basis von Prohászkas Tagebüchern, seiner im katholischen Periodikum Magyar Sion publizierten Artikelreihe und seiner weiteren (theologischen) Werke argumentierte Fejérdy, dass sich Prohászka drei wichtige Elemente seiner Theologie in Rom angeeignet hatte. Im CGU konnte er einerseits die Spiritualität von Ignatius von Loyola vertiefen, andererseits hat er im Collegio Romano die für einen Dialog mit der modernen Welt offene „Römische Schule“ der Theologie kennengelernt und auch eine solide Ausbildung in der neothomistischen Philosophie erworben.  Vor diesem Erfahrungshorizont hatte er eine wichtige Rolle in der Entfaltung der katholischen Renaissance der ungarischen Zwischenkriegszeit gespielt, die sich auch in Prohászkas antisemitischen Tendenzen widerspiegelte, wie in der anschließenden Diskussion thematisiert wurde.

Ein weiterer Akteur, der während seines Studiums der Theologie und Philosophie am Germanicum in Rom maßgeblich geprägt wurde, war Alexander Frison (1875–1937) den Katrin Boeckh in ihrem Beitrag „Russlanddeutsche am Germanicum“ vorstellte. Frison, ein „Russlanddeutscher“, erhielt 1926 nach der Zerschlagung der katholischen Kirchenhierarchie in der Sowjetunion seine Bischofweihe ohne Wissen der sowjetischen Behörden. Er konnte bis zu seinem gewaltsamen Tod – er wurde nach einem geheimen Prozess wegen „antisowjetischer Tätigkeit“ hingerichtet – über verborgene Netzwerke Kontakt mit dem Heiligen Stuhl halten. Boeckh erwähnte in diesem Zusammenhang verschlüsselte Nachrichten mit eher einfach gehaltenen Decknamen (Frison wurde beispielsweise als „der Frisierte“ bezeichnet), die über seine Nichte ins Ausland und den Vatikan gelangten. In der Diskussion wurde der Unterschied zur zaristische Zeit herausgearbeitet, in der die Staatsmacht ein relativ liberales Regime gegenüber Katholiken pflegte.

Mit Ignac Žitnik, der während seiner Studienzeit in Rom an der Anima wirkte, wurde von Rok Stergar (Laibach/Ljubljana) „Ein Politiker zwischen Nationalismus, politischem Pragmatismus und Kaisertreue“ vorgestellt. Žitnik erklärte als Abgeordneter 1912 im österreichischen Reichsrat, dass in der Armee Deutsch die einzige Dienst- und Kommandosprache in der k. u. k. Armee bleiben solle. Um die anderen slawischen Abgeordneten zu beruhigen, argumentierte er: „[D]urch die gemeinsame einheitliche Kommandosprache wurde noch kein Mann entnationalisiert“. Stergar betonte, dass die habsburgischen Nationalitäten nicht immer im Konflikt mit dem Habsburgerstaat standen, sondern eher miteinander um Einfluss rangen. Žitnik wollte in diesem Sinne auf die Unterschiede zwischen den kaisertreuen Slowenen und den rebellischen Ungarn aufmerksam machen. Zwar strebten er und andere slowenisch-katholische Nationalisten, die sich in der Volkspartei versammelt hatten, vor dem Ersten Weltkrieg keineswegs eine Abkehr von der Habsburgermonarchie an, waren jedoch zugunsten nationaler Ziele bereit, die Demokratie aufzugeben. Jedoch merkte Stergar an, dass die Haltung slowenischer Nationalisten nicht außergewöhnlich war, denn für viele Nationalisten der Zeit galt die eigene Nation als der erste und wichtigste Wert. Demokratie und individuelle Menschenrechte waren zweitrangig. In der Diskussion wies Stergar darauf hin, dass die junge Generation der Slowenischen Volkspartei vor dem Ersten Weltkrieg, so wie Žitnik, zu einem großen Teil in Rom studiert und meistens in der Anima gelebt hätten. Scheer unterstrich, dass durch Kontakte und insbesondere auch der transnationale Austausch in der Anima nationale Vorgehensweisen weitergegeben und kopiert wurden.

Marija Wakounigs (Wien) Vortrag, der verlesen wurde, stellte den slowenischen, römisch-katholischen Priester Lambert Ehrlich als einen „Wanderer zwischen Welten“ vor. Sie argumentierte, dass sich Ehrlichs Leben nicht nur zwischen „Kronen und Nationen“ bewegte, sondern auch zwischen verschiedenen Weltanschauungen. Im Zeitraum zwischen 1938 und 1941 driftete Ehrlich ins erzkonservative Lager ab. Nach dem Überfall Deutschlands auf Jugoslawien 1941 formulierte er sein politisches Programm, in dem er als Option die Selbstständigkeit Sloweniens innerhalb einer Zwischeneuropa-Föderation vorschlug. Dazu installierte er sogenannte Ehrlich-Wachen. Als entschiedener Gegner des Kommunismus und auch der slowenischen Widerstandsbewegung (Partisanen) verfolgten die Wachen unerbittlich politische Gegner. Zugleich kritisierte er die italienische Besatzungsmacht und deren Gewaltherrschaft. Ehrlich wurde 1942 im Rahmen eines kommunistisch-motivierten Attentats getötet. Wakounig unterstrich, dass sich die katholische Kirche für Ehrlich, dem Wanderer zwischen Welten, letztlich als einzige Konstante seines Lebens, sozusagen als sicherer Hafen, erwies.

Tobias Weger (München) stellte in seinem Vortrag „Von Oberschlesien und Böhmen über Rom in die rumänische Dobrudscha: Exemplarische Priesterbiographien“ mehrere katholische Gemeinden vor, die sich in dieser multiethnischen und multireligiösen Region an der unteren Donau gebildet hatten. Viele dieser Gemeinden waren von deutschsprachigen Siedlern gegründet worden, die ursprünglich aus katholischen Gemeinden im Deutschen Bund stammten und ab 1840 in mehreren Phasen aus dem Russländischen Reich in die Dobrudscha eingewandert waren. Weger zeigte anhand mehrerer Biografien auf, inwiefern man in den 1930er Jahren nach und nach davon abkam, Seminaristen nach Rom zu senden, um zu vermeiden „fremde Ideen zu importieren“. Außerdem sprach er die in den 1950er-Jahren stattfindenden Aussiedlungen Deutscher aus der Dobrudscha und darauffolgende kommunistische Schauprozesse und Verurteilungen an.

Den letzten Tagungsbeitrag widmete Karl-Joseph Hummel (Meckenheim) der „Theorie und Praxis der gespaltenen Seelsorgepolitik von Bischof Alois Hudal“ zwischen „Ecclesiae et Nationi“. Hudal war 1923 zum Rektor der Anima ernannt worden, 1933 wurde er zum Titularbischof von Ela geweiht. Der Referent näherte sich in seinem Beitrag von verschiedenen Seiten an die ambivalente Biografie Hudals an und betonte, dass für den Anima-Rektor und späteren Bischof sich-widersprechende Dinge gleichzeitig möglich waren. Im Christentum erkannte Hudal einen Zersetzungsprozess, dem durch Krieg und Nationalismus im Dienst Gottes entgegengesteuert werden könne. In der Gedankenwelt des Nationalsozialismus erkannte Hudal einerseits eine linksradikale, religionsfeindliche Ideologie, identifizierte darin aber andererseits auch eine von ihm positiv bewertete, rechtskonservative Haltung. Hudals weitere Bemühungen zielten darauf ab, eine „Versöhnung“ zwischen Nationalsozialismus und Christentum herbeizuführen. Andererseits verfocht Hudal offen drei „Zeitirrtümer“ des NS-Regimes: den totalitären Staatsbegriff, den radikalen Rassismus und den radikalen Nationalitätsbegriff.

Im Rahmen der Tagung fand die Podiumsdiskussion „Zwischen Kronen und Nationen: Religion und Nationalismen in Geschichte und Gegenwart“ am Päpstlichen Institut Santa Maria dellʼAnima statt, die von Florian Kührer-Wielach moderiert wurde. Olof Heilo (Lund und Istanbul) richtete seinen Blick auf das vormoderne Byzanz und stellte das Narrativ eines homogenen Glaubens und die Vorstellung, dass der Kaiser das Christentum „kontrollierte“, in Frage. Er sprach über die enorme Spannweite an Perspektiven zwischen Theologie und politischer Realität und Spannungen zwischen Imperium und Kirche. Er zog einen Vergleich mit dem Sassanidenreich, das relativ tolerant gegenüber unterschiedlichen Religionen gewesen sei. Außerdem erwähnte Heilo mehrere Brüche – wie im 7./8. Jahrhundert durch den Islam, als sich das Papsttum mit dem Kaisertum überwarf, oder im 17./18. Jahrhundert, als sich im Laufe des Ägyptenfeldzugs Napoleons die christlichen Kommunen im Osmanischen Reich vom Papst abwandten. Nach dem 18. Jahrhundert begannen auch im Osmanischen Reich, nationale Ideen ihre Wirkung zu zeigen.

Podiumsdiskussion im Bibliothekssaal des Päpstlichen Instituts Santa Maria dell‘Anima; v.l.n.r.: Dr. Florian Kührer-Wielach, Hofrat Msgr. Dr. Franz Xaver Brandmayr, Prof. Dr. Pieter Judson, Dr. Olof Heilo, Prof. Dr. Dominik Markel SJ, © Tobias Weger

Podiumsdiskussion im Bibliothekssaal des Päpstlichen Instituts Santa Maria dell‘Anima; v.l.n.r.: Dr. Florian Kührer-Wielach, Hofrat Msgr. Dr. Franz Xaver Brandmayr, Prof. Dr. Pieter Judson, Dr. Olof Heilo, Prof. Dr. Dominik Markel SJ, © Tobias Weger

Mit Pieter M. Judson (Florenz) richtete sich der Fokus auf die späte Habsburgermonarchie. Er griff die zuvor von Heilo angesprochene Frage nach Vieldeutigkeit auf und leitete auf die Sprachenvielfalt in der Monarchie über, wies jedoch darauf hin, dass diese keine imperiale Besonderheit darstellte. Die Habsburgermonarchie, so Judson, versuchte immer wieder pragmatische Lösungen für den so bunt zusammengesetzten Staat zu finden. Man versuchte, wie er am Beispiel Galiziens erläuterte, Patriotismus mit Nationalismus und Religion zu verbinden. Identifikationen waren selbst im 19. Jahrhundert mehr regional denn national, und die Religionszugehörigkeit spielte im Alltag eine größere Rolle als jene zur Nation. Judson unterstrich den Einfluss des Eisenbahnwesens, der Alphabetisierung und Massenmedien für religiöse Erneuerung und Nationalismus. Er betonte, dass sowohl Religion als auch Nationalismus zu Quellen sozialer Konflikte wurden, während der kaiserliche Staat mehr als ein Ort der Versöhnung gedeutet werden könnte.

Dominik Markl (Rom) wies in seinem Beitrag auf eine mögliche Versöhnung zwischen „Nation“ und Bibel hin. Dabei blickte er auf das Verhältnis der theologischen Relevanz der Bibel zu ihrer Entstehungsgeschichte. Markl sprach von den zwei Extremen der Bibel. Einerseits wurde die Menschlichkeit universalistisch konzipiert, andererseits wurden die Israeliten im Alten Testament als erwähltes Gottesvolk genannt. Erst „im Neuen Testament werden wir alle eins in Christus“, so Markl. Diese kollektive Identität sei in Rom mit dem Imperium zusammengeführt worden, mit dem Ziel, viele Völker und Ethnien in einer gemeinsamen Ideologie zu einen. Im 16. Jahrhundert erkannte Markl protonationalistische Identitäten, wenn sich Engländer, Niederländer etc. als das „eigentliche Volk Gottes“ bezeichneten; diese wären von alttestamentlichen Ideen durchtränkt gewesen. Damit unterstrich er, dass auch religiöse Konzepte politische Relevanz bekommen konnten und bekommen.

An den Rektor der Anima Franz Xaver Brandmayr richtete Kührer-Wielach die Frage: „Wie politisch ist die Anima heute?“. Brandmayr antwortete mit einem Schmunzeln, dass im Kolleg elf verschiedene Nationen unter einem Dach leben würden und sich die Anima daher nur als übernational begreifen könne. Er erzählte die Anekdote, dass er Lieder mitsingen könne, ohne den Text zu verstehen, da es der gemeinsame Raum und die Spiritualität wären, die die Bewohnerinnen und Bewohner einen und prägen.

Theresa Gillinger

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung vor dem Eingang zum Campo Santo Teutonico, © Stefan Heid

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung vor dem Eingang zum Campo Santo Teutonico, © Stefan Heid

 

Internationale Tagung: „Zwischen Kronen und Nationen. Die zentraleuropäischen Priesterkollegien in Rom vom Risorgimento bis zum Zweiten Weltkrieg“

Veranstalter: Universität Wien, Päpstliches Institut Santa Maria dellʼAnima, Römisches Institut der Görres-Gesellschaft, Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU München mit Unterstützung der Erzdiözese Wien, des ÖAD-Kooperationsbüros Lemberg/Lwiw und der Ungarischen Botschaft beim Heiligen Stuhl

Rom, 22. bis 24. Januar 2020

Das Programm der Tagung sowie die Abstracts zu den einzelnen Vorträgen sind hier abzurufen.
Eine gekürzte Fassung des Tagungsberichts ist auf H-Soz-Kult zu finden.

 

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