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Wilhelm Kühlmann, Gábor Tüskés: Ungarn als Gegenstand und Problem der fiktionalen Literatur

Wilhelm Kühlmann, Gábor Tüskés (Hgg.): Ungarn als Gegenstand und Problem der fiktionalen Literatur (ca. 1550–2000) (Beihefte zum Euphorion, Bd. 112). Heidelberg: Universitätsverlag WINTER 2021. 587 S.

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Von Tünde Katona

 

Dem Konzept des Bandes liegt die internationale Tagung zugrunde, die im Oktober 2019 in Budapest unter demselben Titel stattgefunden hat und deren Veranstalter das Institut für Literaturwissenschaft der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sowie das Germanistische Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg waren. Den Band ergänzt im Anhang der um ein Vorwort erweiterte Katalog der begleitenden Kabinettausstellung in der Széchényi-Nationalbibliothek (Budapest).

Der thematische Bogen der insgesamt sechsundzwanzig chronologisch geordneten Beiträge führt vom 17. Jahrhundert bis in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur Siebenbürgens im heutigen Rumänien und zeichnet sich durch eine beeindruckende thematische und methodologische Vielfalt aus. Durch die mannigfaltige Annäherung der Beiträgerinnen und Beiträger an das Grundkonzept der Herausgeber, „ein komplexeres Bild der Perspektive auf Ungarn und die Wahrnehmung ungarischer Kultur in der fiktionalen Literatur zu erarbeiten“ (S. 14), wird eine reiche Palette von Untersuchungen präsentiert, in denen die Autorinnen und Autoren ihre Aufmerksamkeit lateinischen, ungarischen, deutschen, französischen und englischen Werken unterschiedlichster Genres widmen. Der Hauptakzent liegt dabei eindeutig auf den deutschsprachigen Texten.

Das im vergangenen Vierteljahrhundert in Europa erkennbare Interesse für die ungarische Literatur des letzten Jahrhunderts zog die Frage nach sich, was „Ungarn, die ungarische Geschichte und die ungarische Literatur für Europa und die europäische Literatur bedeuteten und heute bedeuten“ (S. 10). Bei der Antwort darauf ist es unumgänglich, die in den unterschiedlichen Zeiten und verschiedenen literarischen Gattungen entstandenen und rezipierten Selbst- und Fremdbilder zu berücksichtigen. Eine wünschenswerte Folge eines systematischen Vergleiches der „Länder- und Geschichtsbilder in einer anderen Literatur mit den historischen, politischen und kulturellen Selbstdeutungen in der Literatur des eigenen Landes“ (S. 10) ist, dass die jeweilige Nationalliteratur neu eingeordnet und alles Ahistorische möglichst getilgt wird.

Der Sammelband verfolgt die Intention, die vor mehr als anderthalb Jahrzehnten erworbenen Erkenntnisse über die „Entwicklung des Ungarnbildes in der deutschsprachigen Literatur von Horst Fassel“[1] (S. 12) an mehreren Punkten zu ergänzen und zu nuancieren. Das Thema des Sammelbandes gliedert sich in eine längere vielschichtige Forschungstradition ein, es baut auf deren Erkenntnissen auf und nimmt daraus resultierende weitere Fragen ins Visier. Die Herausgeber Kühlmann und Tüskés haben zusammen mit Dieter Breuer in den Jahren 2002 (zu Daniel Speers Ungarischer oder Dacianischer Simplicissimus) und 2007 (Militia et litterae: Die beiden Nikolaus Zrínyi und Europa) selbst internationale Tagungen organisiert.

Nach dem von den beiden Herausgebern gezeichneten Vorwort eröffnet Wilhelm Kühlmann die Reihe der Beiträge mit seinem Aufsatz über Caroline Pichlers Roman Die Wiedereroberung von Ofen (1829). Das bislang wenig beachtete Werk wird im Spektrum der Geschichtskonstruktionen und Geschichtserzählungen komplexer (und demzufolge labiler) Großregionen untersucht und als ein bemerkenswertes Beispiel „vaterländischer“ Romanproduktion im Habsburgerreich und dessen Provinzen bewertet.

Die erste große Gruppe von Beiträgen trägt die Überschrift Faktualität und Fiktionalität – Zur älteren ungarischen Geschichte als literarischem Produkt und enthält sechs Aufsätze. Heiko Ullrich stellt in seinem Beitrag eine Festbeschreibung Georg Rudolf Weckherlins vor, in deren Mittelpunkt eine fiktive Figur steht, die auf die Heroenfamilie Hunyadi anspielt und an zeitgenössische Diskurse wie den Türkenkrieg erinnert. Peter Mathes und Hermann Wiegand liefern in ihrem Aufsatz die Erstübersetzung (samt Kommentar) der lateinischen Ode von Jacob Balde auf die historische Figur János Hunyadi. György Gömöri präsentiert in seinem Aufsatz einen Überblick der in englischen Memoiren, Reiseberichten oder eben Dramen zu findenden Erwähnungen und Reflexionen der ungarischen Geschichte und historischer Gestalten wie Gábor Bethlen, Miklós und Péter Zrínyi sowie Imre Thököly. Die Figur des zuletzt genannten Fürsten von Siebenbürgen und Oberungarn bildet den Übergang zum nächsten Beitrag, in dem sich Béla Köpeczi der etwas spärlichen deutschen Rezeption Thökölys im Vormärz widmet, um dann auf die auffällig hohe Resonanz Thökölys in der französischen Literatur einzugehen. Gábor Tüskés vergleicht drei autobiographische Schriften von Ferenc Rákóczi II. und Kelemen Mikes und fokussiert das Interesse auf die Frage, wie Patriotismus zum Objekt affektiver Fiktionalisierung in dieser halbfiktionalen Kunstprosa wird. Im letzten Aufsatz dieses Themenbereichs setzt sich Andrea Seidler mit der Wahrnehmung des Königreichs Ungarn in den Medien der Kaiserstadt auseinander, indem sie sich dem 1771 von Dániel Tersztyánszki gegründeten Magazin Privilegierte Anzeigen widmet, einer Zeitschrift ersten Ranges auf dem Gebiet der Wissensdistribution.

Die zweite große Themengruppe Motive, Signaturen und Probleme nationaler Identität im europäischen Horizont eröffnet der Aufsatz von Gergely Fórizs. Er legt in seiner komparatistischen Detailstudie die intertextuellen Bezüge zwischen Friedrich von Matthissons und Dániel Berzsenyis Texten dar, denen eine gemeinsame Antikerezeption zugrunde liegt. Reinhard M. Möller analysiert die „Erkennbarkeit und Darstellbarkeit von ,Nationalgesichtern‘“ in Clemens Brentanos Die mehreren Wehmüller … und bewertet diese als „ein von kontingenten Faktoren abhängiges und durch spontane Interventionen und Inventionen veränderbares Phänomen“ (S. 220). Kálmán Kovács untersucht im Zusammenhang mit der Hunyadi-Oper Texte aus der Zeit vor und nach der Französischen Revolution und prüft sie auf die Frage hin, ob und inwieweit darin „der aufgeklärte Patriotismus im 18. Jahrhundert und der Nationalismus des frühen 19. Jahrhunderts als getrennte Phänomene“ (S. 237) zu erkennen sind. Réka Lengyel stellt in ihrer Studie das bunte Ungarnbild in der Sammlung Hungarian Tales vor, in der Catherine Gore ihre Leser und Leserinnen in erster Linie unterhalten wollte, wobei die Figuren in ihren Erzählungen jedoch bereits über die politischen und sozialen Bedingungen des Landes sprechen. Im nächsten Aufsatz geht Orsolya Lénárt in lyrischen und epischen Genres dem Topos fertilitas Pannoniae mit dem Motiv des Tokajers im Zentrum nach. Ralf Georg Bogner widmet sich jenen Nationalstereotypen, die in den im „Magyarenland“ angesiedelten, jahrzehntelang überaus populären Dorfgeschichten enthalten sind. Olha Flachs stellt in ihrem Beitrag fest, dass Leopold von Sacher-Masoch in seinem historischen Roman Der letzte König der Magyaren eine damals willkommene pro-habsburgische Gesinnungsbildung artikulierte, die sich aus Vorurteilen und Klischees speiste.

Der dritte Großabschnitt Formen, Bilder, Narrative – Zur Bandbreite und Kontinuität des magyarischen Diskurses mit dem multiethnischen Siebenbürgen im Mittelpunkt wird von Ladislaus Ludeschers anregendem Beitrag eingeleitet. Ludescher wartet mit einer grundlegenden literarischen Topologie auf und reflektiert die sich spaltenden Geschichtsbilder vor dem historisch-pluriethnischen Hintergrund. András F. Balogh befasst sich in seinem Aufsatz mit den Ambitionen des Banaters Adam Müller-Guttenbrunn, mittels der Literatur eine deutsche Identität zu stiften. Dabei diente sein negatives Ungarnbild als notwendiger Gegenpol im Kontext des südosteuropäischen nation building. Éva Knapp stellt in ihrer Studie fest, dass „[d]as Ungarnbild des Romans […] auf manche Mängel im historischen Bewusstsein der Ungarn aufmerksam [macht]“, wobei sie die Erkenntnis Adolf Meschendörfers formuliert, dass „die Erhaltung einer Volksgemeinschaft und die Bewahrung ihrer Identität wesentlich von der Annahme der ethnischen Heterogenität abhängen“ (S. 382). Gyula Laczházi lenkt die Aufmerksamkeit auf den 1937 unter einem Pseudonym veröffentlichten Roman Magyaren des Artur Wolfgang von Sacher-Masoch und stellt die Frage in den Mittelpunkt, „inwiefern das Werk für die ungarische Geschichte und für das ungarische Volk Sympathie erwecken mag“ (S. 383). Péter Lőkös befasst sich mit dem Roman Eine Frau hat geschrien von Robert Neumann, der bis heute nicht ins Ungarische übersetzt ist. Ein Grund dafür mag der freie „Umgang mit den historischen Fakten“ (S. 409) sein, der das ungarische Lesepublikum enttäuscht hat. Raphaël Fendrich entwirft in seinem Aufsatz über Karl von Möllers Die Lothringerin ein spannend konstruiertes Bild vom Banat als „Lebensziel“ und „Erfüllungsort“ (S. 425).

Den letzten Großabschnitt Perspektiven im Schatten des 2. Weltkrieges und des Kommunismus eröffnen gleich zwei Beiträge zu Werken von Heinrich Böll. Árpád Bernáth erörtert in seinem Aufsatz die Schlüsselfragen „nach der Referentialisierbarkeit fiktionaler Aussagen“ (S. 25) und stützt sich dabei auch auf die reichlich vorhandenen nicht-fiktionalen Textzeugnisse von Böll. Barbara Mahlmann-Bauer untersucht in den autofiktionalen Texten von Böll, George Tabori und Imre Kertész die unterschiedlichen Darstellungsmodi von Opfern und Vertretern der Gewaltherrschaft unter dem Aspekt, ob und unter was für Umständen sie heimkehren. Gábor Ujváry widmet sich in seinem Beitrag dem wohl bekanntesten deutschsprachigen Werk über Ungarn von Hugo Hartung (Ich denke oft an Piroschka) und erörtert, wie sich Hartung gängiger Klischees der attraktiven Exotik bediente und maßgeblich dazu beitrug, dass das Bild von den Ungarn in den 1960er-Jahren positiv ausfiel. Anna Tüskés widmet sich im dritten englischsprachigen Aufsatz des Bandes dem Roman Journey Into the Blue von Gusztáv Rab, einem Werk mit abenteuerlicher Rezeptionsgeschichte. Sie stellt das düstere Ungarnbild des Textes vor, das im Einklang mit der dargestellten historischen Zeit steht. Das Thema des vorletzten Beitrags von Friedrich Vollhardt spiegelt die zentrale Problematik des Bandes wider. Vollhardt arbeitet anhand von Péter Esterházys aufsehenerregendem Roman Harmonia Caelestis zahlreiche Möglichkeiten von Graden und Übergängen „des Fiktionalen und des Faktualen“ (S. 27) heraus. Der Aufsatz von Gabriella-Nóra Tar schließt die Reihe der Beiträge. Sie behandelt zwei Familienromane der deutschsprachigen siebenbürgischen Gegenwartsliteratur und reflektiert multikulturelle Schichtungen und Brechungen – auch im Hinblick auf Figuren ungarischer Herkunft.

Das sich auf diese Weise entfaltende Bild der literarischen Ungarn-Rezeption blickt auf eine lange Tradition zurück. Der vorliegende Sammelband bietet einen eindrucksvollen Querschnitt durch das vielfältige Ungarnbild in Form von Selbst- und Fremddeutungen und regt sowohl zur Lektüre als auch zu weiterführenden Auseinandersetzungen mit dem Thema an. Das Anliegen der Herausgeber und der Beitragenden, einen kritischen Diskurs auch über nicht angenehme Aspekte wie etwa über die Thematisierung von historischer Legitimation und Identitätsstärkung, ja sogar von Sendungsbewusstsein, anzuschneiden und zu führen und dabei Verbindendes zu entdecken, ist nach Einschätzung der Rezensentin gelungen.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 103–106.

 

[1] Vgl. Horst Fassel: Ungarnbilder in der deutschen Literatur. In: Horst Fassel (Hg.): Pannonien vermessen. Ungarnbilder in der deutschen Literatur von Ekkehard IV. bis Siegfried Lenz. Stuttgart 2004, S. 333–378.