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Victor Wittners »Straßenhaftes«: Vom Transit-Raum zur Räumlichkeit der Einsamkeit im »Draußen-Dasein«

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Von Alexandra Pătrău, Alexandru-Ioan-Cuza-Universität, Iași/Jassy

Victor Wittner gehört zu jenen Bukowiner AutorInnen, die vor 1933 noch Zeit hatten, um auf Stefan Zweigs Idee der Welt von gestern zurückzugreifen. 1896 in einer Familie assimilierter Juden in Herța geboren, gehört Wittner zur ersten Diaspora jüdischer Bukowiner AutorInnen, die die Kultur- und Literaturlandschaft Bukowina aufgrund der grausamen – zum Zeitpunkt seines Exils nur zu erahnenden – Ereignisse verlassen mussten. Da er schon 1914 sein Studium in Wien begann und nach dem ersten Weltkrieg wieder in Wien und Berlin arbeitete, konnte er die Erfahrung der Großstadt bereits früh machen und blieb fast unberührt von Bildern, die bei AutorInnen der zweiten Diaspora mit Heimatlosigkeit, mit der ewigen Suche nach einem Heim, Tod und Vertreibung verbunden waren. Bei diesen AutorInnen hatte das Exil tiefere und schmerzhaftere Wurzeln, was sich auch in ihren Porträtierungen von Großstädten widerspiegelte, die sie plötzlich als Heimat wahrnehmen mussten. Wittners Stadttopos ist für sein lyrisches Ich vor allem ein Faszinosum. Dennoch wird auch in Wittners Stadtgedichten eine Räumlichkeit konstruiert, die eine Zäsur in der Wahrnehmung des urbanen Netzwerkes darstellt und gleichzeitig eine Zäsur im Wandel des Heimatgefühls wie eine Vorahnung der Geschichte. Dieser Beitrag versucht, den Stadttopos im lyrischen Werk Victor Wittners im Lichte des Spatial Turn vorzustellen und das Stadtbild Wittners zu rekonstruieren. 

Die Stadt als Netzwerk: »Weißt du, welche Macht sie hat, / [] denn die alten Straßen winken«

Victor Wittner widmet der Stadt sehr viele Gedichte. Die innere Topografie dieser Gedichte wird weniger einem Städtischen und vielmehr einem Straßenhaften untergeordnet, denn bei Wittner herrscht eine allgemeine, bewegungszentrierte Faszination für die städtischen Strukturen selbst, was den Eindruck eines Geratens mitten in der Straße als Resultat einer dynamischen Intentionalität wahrnehmbar macht, wie auch im Titel des Bandes Sprung auf die Straße angedeutet. Das Stadtbild bei Wittner ist als Netzwerk und daher als eine „Entität“ zu verstehen, die „fast immer dezentriert“, aber „immer dynamisch“, „selbstregulierend und in sich geschlossen“ ist, „die jedoch ohne den Austausch mit anderen Netzen nicht existieren“ kann.

Vor allem im Band Sprung auf die Straße wird die Stadt – oder dieses Netzwerk aus Bewegungen und Richtungen – als kinetische, visuelle, auditive Flut von Alltagsphänomenen dargestellt. Das erste Wahrnehmungsniveau der Gedichte bezieht sich also auf eine meist schwierige, jedoch faszinierende Orientierung durchs erschaffene Städtische, welches aus Richtungsvektoren aller Art (Passanten auf Bürgersteigen, sich öffnende Tore, gehende Füße, Straßenbahnen und Züge, Leute, die ein Gebäude verlassen usw.) zwischen einigen Anhaltspunkten (einem Platz, einem Rathaus, einem Parlamentsgebäude, einer Fabrik, einer Boutique oder einer Caféterrasse, einem Brunnen usw.) besteht. Der so erschaffene Stadtraum ist demnach fast ausschließlich ein sich bewegender Außenraum, der aber durch seine Orte personifiziert wird: Die Straßen sind mit „gähnenden Caféterrassen“ versehen, „die letzte Straßenbahn tastet sich heimwärts“, „rastet“ und „hastet“, die Häuser sind „neugierig“ und „der Mund“ des Platzes „nimmt der Straßen Inhalt und kaut den Verkehr“, „der Stephansdom“ herrscht „kollosisch“ – „ein Tier mit langem Hals und breiten Flanken“, der Zug „wirft“ die Stadt „weg“, „der Puls“ der Straßenbahn „pocht“, die Straßenbahnen stehen nachts „in der Remise wie Tiere“, um die „Fahrten des Tages“ zu „verdauen“, die „Häuser blicken stolz“ auf die Straßenbahn.

Eine städtische Räumlichkeit wird aber auch im Band Der Mann zwischen Fenster und Spiegel inszeniert. Was zu diesem beweglichen und sich bewegenden Stadtbild noch hinzukommt, ist die Bestätigung, dass es ein als normal empfundener Zustand der Dinge ist, welcher Ruhe und eine gewisse Gemütlichkeit trotz des Gedränges schafft. Die Gewöhnlichkeit auf der Straße erweckt den Eindruck eines sicheren Schutzraumes, was nicht unbedingt typisch für Städte ist. Victor Wittners lyrisches Ich aber fühlt sich auf der Straße geborgen – oder es hat keine andere Möglichkeit, wie andere Gedichte zeigen werden. Denn die Stadt liegt „im leeren Raum verloren“, was eigentlich bedeutet, dass das lyrische Ich ebenfalls verloren wäre, würde er diese Stadt verlassen, in die es sprang (oder geworfen wurde?). Die Häufung an Anhaltspunkten könnte also auch als Ganzes als Anhaltspunkt für das lyrische Ich gesehen werden.

Bei Wittner steht also „das Urbane“, so wie Lefebvre es nennt, im Mittelpunkt, also „der Punkt der Bewegung, der Ort einer Zusammenkunft, die Gleichzeitigkeit“, eine „Form“, die „keinerlei spezifischen Inhalt“ hat, „aber alles drängt zu ihr, lebt in ihr“. Die Beziehung des Städtischen zu anderen Räumen, die „Differenzlogik“ dieses städtischen Raumes ist also bei Victor Wittner kaum veranschaulicht, was das Stadtbild bei Wittner eher als Ort, und nicht als Raum legitimiert: „Blickt man sozialwissenschaftlich auf eine Formation als Ort, […] so rücken die lokalen Strategien und Strukturen […] in den Blick“ – also die Beschaffenheit und die Funktionalitäten des Netzwerkes in diesem Fall – und „die Vielfalt möglicher Orte“ bleibt dann „zunächst im Hintergrund“. Passend ist deshalb die Bezeichnung der Stadt als „Wahrnehmungsganzheit“, als „gemeinsame räumende, das heißt Raum erschaffende Wahrnehmungsleistung“, wo das Ich ein Passant wie alle anderen ist (so wie in Wittners Stadtgedichten). Die Erfahrung anderer ist aber dem Wittnerschen Ich egal: Er beobachtet und ist Teil des Systems, er ist und will im Netzwerk inkludiert werden:

Das Inkludierende in der Stadt rückt in den Blick: gemeinsame Erfahrungen, kollektiv reproduzierte Strukturen, mit anderen Worten: Die Eigenlogik der Städte. Eigenlogik markiert dann den für diese Stadt typischen Modus der Verdichtung von bebauter Umwelt, Material- und Stoffströmen, Verkehrs- und Menschenströmen.

(Helmuth Berking, Jochen Schwenk: Hafenstädte. Bremerhaven und Rostock im Wandel, Frankfurt am Main, New York 2011, S. 11f., zitiert von Löw: Vom Raum aus, S. 18.)

Die „Differenzlogik der Räume“, wenn „die Stadt als ein Raum erfahren ist“, wäre dagegen das „relationale Gefüge“ dieser Stadt zu anderen, was bei Wittner nicht relevant ist und nur stellenweise in der Beschreibung der Zugreise zutrifft. Die „Differenzlogik“ bezieht sich aber auch, so Martina Löw, auf die „vielfältigen, sich überlappenden, aufeinander verweisenden Raumstrukturen in Städten“, was bei Wittner in den vielen Mobilitätsbildern zu sehen ist. Dementsprechend ist das städtische Netzwerk bei Wittner eher ein Ort, der aber gleichzeitig mit räumlichen Strukturen versehen ist und wo klar wird, dass „die materielle Eigenwilligkeit“ der Stadt „strukturell in die Handlungspraxis einfließt“, denn das lyrische Ich selbst irgendwie habituell Element der und in der Bewegung ist. Charakteristika wie „öffentlich“ und „privat“, „drinnen“ oder „draußen“ lassen sich im Netz der Stadt nicht mehr so deutlich voneinander trennen, darum hat dieses Netz einen zu vielen „Mischformen“ führenden Möbus ähnlichen Charakter. 

Die oben erwähnten beispielhaften Zitate, die verschiedene öffentliche Räume der Stadt benennen (eigentlich Orte, an denen ein Raum durch Syntheseleistung entsteht), erzeugen bei Wittner den Eindruck, dass sie gleichzeitig als „privat“ zu sehen sind, weil sie mitten im „städtischen […] Arrangement“ auch „als Rückzugsorte fungieren“. Dies erfolgt in dem Maß, in dem der Passant, Passagier oder Betrachter eine gewisse Vertrautheit an jenen Orten erlebt. Die Tatsache, dass die Wittnersche Stadt eher als Ort zu sehen ist, schließt den städtischen Raum aber gar nicht aus, denn der Raum funktioniert als Decke, als Ausdehnung von räumlichen Beziehungen. Bei Wittner spricht dafür die Tatsache, dass die Richtungsvektoren und Wahrnehmungsniveaus das Platzierte decken und sich darum ausdehnen: Es geht um einen Komplex von erlebten Stadträumlichkeiten, der zwar an (geografisch) markierten Orten platziert wird, der aber aus der Beschaffenheit des Unterwegsseins zwischen diesen Platzierungen (oder „Spacing“ nach Löw) lebt, nämlich aus der Syntheseleistung, laut Löw einer „Zusammenfassung“ von Menschen und Dingen zu Räumen – durch Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse. Dabei ist auch relevant, dass Räume „an ein und demselben Ort entstehen können“, was auch bei Wittner der Fall ist: Der Leser bekommt die Perspektive seines lyrischen Ichs, eines der vielen Passanten oder Passagieren, die über dieselben konkreten Orte verfügen, die sie aber anders synthetisieren. Und genau in dieser Syntheseleistung besteht der einzigartige Charakter des Wittnerschen Raumes (oder Stadtraumes), nämlich das, was Löw als das Transitorische des als Element gesehenen Ensembles von Gütern und Menschen. In anderen Worten wird bei Wittner die Stadt als bewegliches Ganzes „zusammengefasst“. Wittners Bild von der Großstadt entspricht der allgemeinen Sicht einer nicht einheitlichen, instabilen, dem Augenblick angepassten, facettierten Räumlichkeit, denn 

Identität meint jetzt weniger ein ausbalanciertes Ich im Zeitkontinuum, eher ein mannigfaches Rollenspiel im Augenblick; statt Bestand herrscht Suche, statt Geschlossenheit verwirrende Offenheit, statt Konzentration vornehmlich Zerstreuung.

(Vgl. Nathalie Mispagel: New York in der europäischen Dichtung des 20. Jahrhunderts. Würzburg 2011, S. 21.

Normalerweise ist in der Raumforschung oder Raumsoziologie die Rede von Transit-Orten. Diese seien Orte (wie ein Bahnhof, ein Hotel, ein Flur usw.), die transitorisch genutzt werden, die die relationale Perspektive des Raumes durch ihre Qualität des Durchgangs offensichtlich machen und somit „in der Dynamik des Geschehens“ entstehen und nur so lange existieren, dass ein Subjekt sich auf dem Weg befindet, in einem in der Regel gradlinigen „Hindurch“-Zustand.

Das Besondere an Wittners Werk diesbezüglich besteht darin, dass dem ganzen Stadt-Raum einen transitorischen Charakter verliehen wird, denn nicht nur die konkreten Orte (ein Bahnhof, eine Straßenbahn, eine Haltestelle, eine Straße) stellen sich zu Nicht- oder Transit-Orten zusammen, sondern in allen Gedichten befindet sich das lyrische Ich unterwegs – „en passant“ – mitten im Netzwerk, von Bewegungen umgeben. Der Stadt-„Ort“ ist also bei Wittner ein Transit-„Raum“, der eigentlich die „konkrete Umsetzung“ der „Potenzialität“ der Transit-Orte ist, also das, „was entsteht, wenn man die Transit-Orte tatsächlich nutzt“ und das macht das lyrische Ich Wittners auf zwei Arten und Weisen: Indem es „geht“, oder indem es als Teil des Netzwerks dessen Bewegung beobachtet, was genau der „Projektionsfläche“ eines Transit-Ortes entspricht: An diesen Transit-Orten kommen „Momente der Statik (die Einkapselung)“ – bei Wittner die Rolle des Stadt-Beobachters –, „Momente des Bewegtwerdens (der Reise)“ – bei Wittner zum Beispiel die Zugreise, und „Momente der Bewegung“. Die Zwischenerlebnisse und Zwischenziele sind gerade darum für das bewegende Subjekt faszinierend, weil ein Passant ausschließlich in der Gegenwart lebt. Aus diesem Ansichtspunkt heraus würde die Lyrik Victor Wittners teilweise eine Ode an die Gegenwart darstellen, an das „unmittelbare Sich irgendwo im Dazwischen Befinden“. Dieses Dazwischen-Sein ist bei Wittner immer im städtischen Netzwerk zu finden, in der „Faszination der Passage“ und ihrer „Kommentarfunktion“, die eigentlich den Alltag auf eine ganz persönliche Weise dokumentiert und aufnimmt. Das lyrische Ich Wittners entspricht Waldenfels Begriff von „Nullpunkt“ des „situativen Hier und Jetzt“, von dem aus verschiedene Raumachsen ausgehen. Mitten im Netzwerk ist von einem „performativen ‚hier‘“ die Rede, das eigentlich immer neu erschaffen wird (das lyrisch ich ist unterwegs) und somit mit dem „Zeitindex ‚jetzt‘“ verbunden.

Viele Gedichte stellen gleichzeitig auch eine Art Ode an die Stadt selbst zusammen, die manchmal sehr offensichtlich wird: Die Stadt ist der Raum, der die persönliche Zeit „lagert“: „Merkst du, welche Macht sie hat […] denn die alten Straßen winken: / Ach, wie oft du auf uns gingst / Aus dem Winde Wünsche fingst“, gleichzeitig trauert das lyrische Ich um die Zerstörung der Stadt durch den Krieg („Kam der Krieg, die schönste Stadt zerstörend“) und lässt sich durch Orte der Stadt fast mütterlich in diese Außenwelt „weben“: „Balkon, der mich hinaus ins Freie hebt, / wie mich die Amme auf den Händen trug“, „du, Steinnest, das am Hause klebt“, „Balkon, der mich in diese Landschaft webt“.

Da aber oft eine Ode auch an ein persönliches Bedürfnis oder an einen Wunsch geknüpft ist, spielt auch bei Wittner das Raumbedürfnis eine besondere Rolle und wird zudem sehr unerwartet thematisiert, wie beispielsweise durch die Motivik der Post. In allen Bänden gibt es Gedichte, die den Akt des Schickens, Empfangens oder selbst des Verkehrs von Briefen im Zentrum haben, Akte, für die sich das lyrische Ich die Faszination offen ausdrückt. Die Reise des Briefs bildet so eine besondere Räumlichkeit, der Wittner sogar einen eigenen Zyklus im Band Der Mann zwischen Fenster und Spiegel widmet, wo die Erwartung der Briefe als ein faszinierendes Ereignis vorgestellt wird, das „mitten im magischen Kreis“ stattfindet und wobei die „Gedanken des Senders“ wie ein „freundliches Lasso“ – also räumlich wahrgenommen, als Ausdehnung – mit einbezieht. Das „Briefverlangen“ als Raumbedürfnis tritt auch im Gedicht Brief in Kasten vor, wo die Briefe Vögeln gleichen, also einigen – diesmal natürlichen – Elementen der Bewegung, oder lässt den Puls im Gedicht Der Brief rascher pochen. Im Gedicht An die winterlichen Postämter im Band Das Haarpfand. Gedichte aus dem Nachlass sind die Postämter diejenige, die die Stadt grüßen dürfen: „Gegrüßt, Postämter, winterliche, / […] Straßen mit wärmendem Dampf“.

Wittners Stadt ist bis jetzt dem allgemeingültigen Bild einer Großstadt treu: Sie ist „Anhäufung oder Speicher von Text“, von allem, was an der Hektik des Geschehens teilnimmt, bewegtes und sich bewegendes „semantisches Mosaik“, wo alles Gegenwärtige die Aufmerksamkeit auf sich lenkt und welches bis jetzt trotz der vielen Richtungen und Bewegungsmodi immer noch als System, als (auch wenn rastloses) Ganzes gilt. In diesem Ganzen „bewegt sich das Individuum“ in „solitärer Anonymität“ nur „alleine mit sich“. Das ermöglicht ihm aber in den Hypostasen des Passagiers oder Passanten auch eine bessere Auffassung der „Stadt-Texturen“ (damit auch Stadt-„Texte“ gemeint).

»Im Hause gegenüber/ ein Lämpchen lispelt Licht.« Die Einsamkeit (in) der Stadt

Wittners Stadt sieht, wie oben gezeigt, wie eine vertraute Masse an Bewegungen aus. Die Beschreibungen der Außenwelt, des hektischen Wimmelns, verraten eigentlich in einigen Gedichten eine andere, ganz verschiedene Räumlichkeit, die auch durch die Stadt generiert wird, nämlich als Gegensatz, als Antinomie derer. In manchen Gedichten bleibt der Stadt-Beobachter irgendwo vor einem Gebäude, vor einem Haus und widmet sich den Blick nicht mehr der Außenwelt, sondern schaut nach innen, nach der Welt hinter den Fenstern, zu dem er keinen Zugang hat. Die Fenster gehören bei Wittner ebenfalls zur Stadt: Sie sind die Grenze, die Schwelle zur anderen Räumlichkeit im heterotopischen Sinne, deren äußerliche Seite aber Teil der Stadt ist. Das lyrische Ich fragt sich plötzlich in manchen Gedichten, was hinter dieser besonderen Stadtgrenze passiert. Und das ist der Ort, an der die materiellen Strukturen (die Fenster, das Gebäude) als Übergang (wieder transitorischen Charakters also, wieder Passagenartig) zu einer symbolischen Komponente des Raumes funktionieren.

Das Drinnen funktioniert und entsteht bei Wittner also nur als Paar eines Draußens und versucht mit dieser Dimension auch zu kommunizieren. Mehrmals tauchen Figuren auf, die hinter den Fenstern sind, und schauen auf die Straße, beobachten die Geschehnisse draußen vom geborgenen Raum hinter den Gardinen: Ein Ofen, der Holz frisst, es gibt Frost vor den Toren und einen Mann im Zimmer, der in das Geschnei schaut. Es gibt immer die zwei „Fronten“, das Zimmer, mit seinem Feuer, von den „Gardinenlidern“ abgewehrt und die „Gassenfront“, wo „die Gewöhnlichkeit“ liegt, die Gemütlichkeit eines Interieurs, wo die Kinder ihre Klavierstunde haben, versus die Straße, auf die „Töne herabfallen“, wie „Tropfen“ auf eine „Wunde“. Die Kommunikation mit der Außenwelt ist also auch einer besonderen mysteriösen Beschaffenheit, als ob etwas auf diesem unsichtbaren Kanal ungesagt bleibt.

In dieser Schwelle-Motivik versteckt sich eine besondere Räumlichkeit: Die der Einsamkeit. Nur gegen Ende des Bandes Sprung auf die Straße tritt eine unerwartete Perspektive des Wartens, Suchens und Irrens auf, die das Faszinosum für die Stadt destabilisiert:

In Häusern wohnen Menschen, die sich fanden/ – was wartet mein Zuhaus, wen nennt ich mein?/ Seit Kindheit von mir schmolz, bin ich verlassen,/ mein Sinn ist Suchen und mein Weg ist Wandern [] /, irr ich umher in die Straßen und trage mit mir meine Einsamkeit/ und fluche Gott, der mich dazu erschaffen/, stets zu entbrennen, aber nicht zu zünden.

(Gedicht Der einsame Mensch, Wittner: Sprung auf die Straße.)

Wenn man die Metapher der Entbrennung mit der Faszination für die „Feuer“ der Stadt verbindet, dann scheint diese immer unvollendet zu bleiben, während ein Kaminfeuer die Möglichkeit des Zündens bieten würde. Die Tatsache, dass das lyrische Ich so oft als Beobachter unterwegs erscheint, könnte so eine Rechtfertigung erhalten, was neben der Obsession für die Stadt eine andere tiefere und schmerzhafte Räumlichkeit zum Ausdruck bringt und vermuten lässt, warum die äußere Welt zwar versucht, hereinzukommen, es aber nicht schafft. Auf diese Weise bleiben uns die Gardinen immer als trennende Wand. Nicht nur in diesem Band gibt es die Tendenz des lyrischen Ichs, nach innen zu schauen, als ob es das Bedürfnis einer Geborgenheit, einer Heimkehr gäbe. Auch im Band Der Mann zwischen Fenster und Spiegel begegnet man der Frage, ob die Häuser „bewohnt“ sind, oder im Band Das Haarpfand. Gedichte aus dem Nachlass wird das Heimweh ganz konkret ausgedrückt und positioniert – es liege drinnen, wo Licht ist: „Im Hause gegenüber / ein Lämpchen lispelt Licht … / Ach, weißt du noch die Kindheit, / wenn du im Morgengraun / geblendet noch mit Blindheit / ins Lämpchen mußtest schaun? / Das weckte dich mit Lindheit“ […] „Wie riß dir da am Herzen / das Heimweh schon im Heim“

Es gibt also in der Stadtlyrik Wittners auch ein „konstatives ‚hier‘ des draußen stehenden Beobachters: mitten in der Großstadt versteckt sich also – wie bei vielen anderen Bukowiner AutorInnen – die Motivik der Suche nach einem Heim, zu dem man meistens schon keinen Zugang (mehr) hatte. 

Der Stadtraum, der in Wittners Gedichten inszeniert ist, stimmt mit dem Bild und Begriff des Netzwerkes fast völlig überein und spiegelt viele Raumformen wider, auf die mit dem Spatial Turn wieder die Aufmerksamkeit gelenkt wurde. Teilweise lässt sich diese Faszination für die Großstadt dadurch begründen, dass Wittner noch nicht zu jenen Dichtergenerationen gehörte, die wegen der grausamen Geschichte der 30er- und 40er-Jahre fliehen mussten, dementsprechend sind die Stadtgedichte kaum mit negativer Konnotation versehen. Der Topos der Großstadt wirkt für den Bukowiner Dichter als eine neue Welt, die er mithilfe seines lyrischen Ichs mit Enthusiamus und Akribie beschreibt. Die Gegenständlichkeit des Stadtraumes wird zudem durch die Neue Sachlichkeit unterstützt. Andererseits aber spürt in den späten Gedichten Wittners einen Wandel in der Stimmung und einen scheuen Perspektivenwechsel zu den Innenräumen hinter den Gardinen und Fenstern der Stadt, die mit einem Heim assoziiert werden und die so eine Konstante der Bukowiner deutschsprachiger jüdischer Lyrik ans Licht bringen, nämlich die Einsamkeit, die Suche nach einem Heim, das Fremdsein, die plötzlich die Großstadt zu einer Art Pflichtraum machen. Aus diesem Gesichtspunkt wird das Netzwerk zu einer Art verkehrtes Behälter-Raumes, da die Welt hinter den Fenstern keinen Zugang mehr erlaubt. 

Alexander Pătrău hat Deutsche und Russische Philologie im Lehramt an der Alexandru IoanCuzaUniversität in Jassy (rum. Iași) und der Georg-August-Universität Göttingen studiert und ein Masterstudium im Bereich „Deutsche Kultur im europäischen Kontext” in Jassy absolviert. Derzeit ist sie Doktorandin an der Doktorschule für Philologische Studien der Alexandru-Ioan-CuzaUniversität in Jassy und promoviert bei Prof.Dr.Andrei CorbeaHoișie mit einer Arbeit im Bereich der deutschsprachigen Literatur der Bukowina nach 1918 und der Raumforschung: „Räume, Landschaften, Orte in den Werken deutschsprachiger Autoren der Bukowina nach 1918“. Als Assoziierte Mitarbeiterin leitet sie Sprachseminare an der Philologischen Fakultät der Universität Jassy, Lehrstuhl für Germanistik. Sie war Projektmitarbeiterin im Forschungsprojekt „Deutsche Sprache und Kultur in Rumänien (19181933). Postimperiale Realitäten, öffentlicher Diskurs und kulturelle Felder“ (Institut für Sozial- und Geisteswissenschaften in Hermannstadt, 20192022) und Stipendiatin des Programmes Viadrina International für Promovierende an der Europa Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) (2021). Forschungsschwerpunkte: Spatial Turn in der Literatur, deutschsprachige Literatur der Bukowina, deutsche Kultur in Rumänien, deutsch-jüdische Literatur, Neuere Deutsche Literatur, Fremdsprachendidaktik. 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2024), Jg. 19, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 95-104. 

 

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