Wandlungen der Themen und Motive in der deutschsprachigen Landschaftslyrik mit Rumänienbezug seit den achtziger Jahren
Von Réka Sánta-Jakabházi
Die politisch-gesellschaftliche Wende in Rumänien brachte auch einen Umbruch im literarischen Produktionsfeld mit sich und hatte als direkte Konsequenz die Veränderung bzw. die Neuinterpretation der Themen und Motive in der deutschsprachigen Dichtung der Region. Einerseits bewahrten die Autoren die Themen- und Motivkreise, die die deutsche Lyrik in Rumänien seit jeher geprägt hatten, andererseits kamen neue Erfahrungen der veränderten Lebensverhältnisse hinzu, die eine Neudeutung der Themen und Motive nötig machten: die Aufhebung der Zensur, das Problem der Auswanderung und die damit verbundene allmähliche Auflösung des deutschsprachigen Literaturbetriebs.
In meinem Beitrag wird der Fokus vor allem auf die Motive Heimat und (siebenbürgische) Landschaft gerichtet. Die Destruktion des Mythos Heimat (der Umgang mit dem Verlust der alten und dem Nicht-gewinnen-Können einer neuen Heimat) sowie das Thema des Umgangs mit der Vergangenheit werden durch Gedichtanalysen und Interpretationen beleuchtet, wobei der Schwerpunkt auf das Landschaftsgedicht gelegt wird.
KURZER EXKURS ÜBER DIE DEBATTE UM EINE »RUMÄNIENDEUTSCHE« LITERATUR
Im Laufe der Jahre und mit dem allmählichen Verschwinden der deutschsprachigen Bevölkerung aus Rumänien scheint die Bezeichnung »rumäniendeutsche Literatur« zu einem anachronistischen Schirmbegriff für eine Vielzahl künstlerischer Erscheinungsformen und Autoren geworden zu sein, die als einzige Gemeinsamkeit einen Bezug zu Rumänien haben.
Bereits Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre entflammte die Debatte um das Ende bzw. den »Exitus« der rumäniendeutschen Literatur. In Marburg, auf der Tagung mit dem Titel Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur,[1] wurde heftig darüber diskutiert, ob es noch eine rumäniendeutsche Literatur gebe. Teilnehmer (vor allem deutschsprachige Autoren aus Rumänien) distanzierten sich von der Bezeichnung »rumäniendeutsch«. Werner Söllner vertrat die Meinung, dass »der Begriff rumäniendeutsche Literatur über das rein Deskriptive hinaus – was die Herkunft der Autoren betrifft – kaum wirkungsvoll genutzt werden kann«.[2] Richard Wagner bezeichnete diesen Terminus als »Kunstwort«, als politischen Begriff, der etwas beschreibt, das es erst seit 1919 als Ergebnis der Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg gibt, und distanzierte sich zugleich davon.[3] Auch Franz Hodjak, der erst 1992 als einer der Letzten Rumänien verließ, behauptete in einem Gespräch mit Stefan Sienerth, dass von einer rumäniendeutschen Literatur nach 1990 nicht mehr gesprochen werden könne, da diese ein abgeschlossenes Kapitel der Literaturgeschichte sei.[4]
Die Debatten über den Begriff verliefen in den vergangenen Jahrzehnten auf zwei Ebenen: Einerseits wurde oft die Frage reflektiert, ob die rumäniendeutsche Literatur im Rahmen der deutschen Literatur (im Sinne von deutschsprachiger Literatur) zu betrachten sei oder als eigenständige Literatur angesehen werden solle. Andererseits stand zur Debatte, ob unter dem Begriff »rumäniendeutsche Literatur« nur die »zwischen 1950 und 1989 in Rumänien gedruckten, verbreiteten und rezipierten, in deutscher Sprache geschriebenen Werke«[5] verstanden werden sollen oder auch die nach 1989 in Deutschland entstandenen Texte der aus Rumänien stammenden (heute in Rumänien, Deutschland oder in anderen Ländern der Welt lebenden) Autoren.
Annemarie Weber nimmt sich in ihrem Buch Rumäniendeutsche? Diskurse zur Gruppenidentität einer Minderheit (1944–1971) vor, »den Mythos rumäniendeutsch« zu dekonstruieren und betont, dass das Konzept »Rumäniendeutsche« wie auch der Oberbegriff »rumäniendeutsche Literatur« Produkte eines Diskurses seien, der »sich zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt profilierte, konkurrierende Diskurse verdrängte und schließlich dominant wurde«.[6] Laut Weber ist »rumäniendeutsche Literatur« ein »selbst erfundener« Begriff, der sich erst Anfang der 1970er-Jahre durchgesetzt hat,
als Beschreibungsmerkmal einer selbstbewussten jungen Generation Schreibender im Rumänien der ersten Ceauşescu-Jahre, die sich damit in doppelter Hinsicht unterscheiden wollten: erstens von dem affirmativen sozialistischen Realismus der jüngsten Vergangenheit und zweitens von dem auf den Erhalt der eigenen Volksgruppe bedachten siebenbürgisch- sächsischen bzw. banatschwäbischen Konservatismus aus Vorkriegszeiten.[7]
Nichtsdestotrotz blieb der Begriff »rumäniendeutsch« bis heute tief verankert im literaturwissenschaftlichen Diskurs, obwohl es immer wieder Versuche gab, den umstrittenen Terminus durch andere zu ersetzen, die meines Erachtens ebenso wenig geglückt sind. Bezeichnungen wie »rumäniendeutsche Regionalliteratur«, »deutschsprachige Literatur Rumäniens«, »siebenbürgisch-deutsche Inselliteratur«, »die fünfte deutsche Literatur«, »deutsche Literatur auf dem Gebiet des heutigen Rumäniens« sind nur einige Beispiele dafür. Auch können die Autoren, die aus Rumänien stammen und heute in Deutschland, Österreich, in der Schweiz usw. leben, nicht bedingungslos »Rumäniendeutsche« genannt werden.
Aber wie stehen die in Rumänien gebliebenen Schriftsteller zu dieser Verabschiedung der »rumäniendeutschen« Literatur? Carmen Puchianu, eine der produktivsten deutschsprachigen AutorInnen, die auch heute in Rumänien lebt und arbeitet, äußert sich kritisch gegenüber den »Verkündigungen vom Exitus der rumäniendeutschen Literatur« und betont in einem Artikel, sich auf die Ergebnisse der Marburger Tagung beziehend:
Während sich die wenigen in Rumänien verbliebenen deutsch Schreibenden gegen den Status totgesagter Literaten zur Wehr setzten, indem sie sich den drastisch veränderten Kulturgegebenheiten anzupassen genötigt sahen und sich um eine neue Literaturszene und eine entsprechende Lobby bemühten, kamen nachhaltige Verkündigungen vom Exitus der rumäniendeutschen Literatur hauptsächlich von ausgewanderten Autoren und Autorinnen bzw. Kritikern und Journalisten, die spätestens in den ersten Jahren nach der Wende entgegen früherer Aussagen und Vorhaben aus Rumänien in die Bundesrepublik übersiedelt waren und sich aus ihrer neuen Perspektive berechtigt und befugt fühlten, sich in zahllosen Nachrufen auf die rumäniendeutsche Literatur zu ergehen.[8]
Die Empörung, die aus diesen Zeilen herauszulesen ist, wirkt überzeugend, wenn man sich die Liste der Werke anschaut, die entweder in Rumänien in deutscher Sprache oder schon in Deutschland, aber mit starkem Rumänienbezug geschrieben worden sind. Man kann eine Literatur, die neue Blüten und Früchte treibt, nicht verabschieden, nicht totsagen. Die Werke sind auch in der Rezeption lebendig: Obwohl sich der Großteil der Autoren und das Lesepublikum hauptsächlich nach Deutschland verlagert haben, gibt es weiterhin viel Interesse an dieser »Randliteratur«. (Literarische Zeitschriften aus Deutschland und Rumänien bemühen sich um die Vermittlung der Literatur, Kultur und Geschichte dieses Gebietes, Literaturwissenschaftler beschäftigen sich weiterhin intensiv mit den Werken.)
Die Frage, ob man heute noch über »rumäniendeutsche« Literatur sprechen kann, ist meines Erachtens verknüpft mit der Frage: Kann man über einheitliche »rumäniendeutsche« Themen oder stilistische Merkmale sprechen, die die Autoren, die einst oder heute auf dem Gebiet Rumäniens leben (lebten) und wirken (wirkten), verbinden? Ist es berechtigt, Autoren, die geographisch und ideologisch weit voneinander entfernt ihre Werke schreiben, unter einen allgemeinen und nicht mehr viel sagenden Schirmbegriff zu subsumieren? Genügt es, von »rumäniendeutscher Literatur« zu sprechen, wenn ein Schriftsteller in Rumänien geboren ist und seine ersten Werke hier veröffentlicht hat? Genügt es, wenn in einigen Werken der heute in Deutschland lebenden Schriftsteller »rumäniendeutsche Themen« auftauchen, nostalgische Reminiszenzen an die Vergangenheit etwa? Können die in Rumänien gebliebenen Autoren (wie etwa Joachim Wittstock, Eginald Schlattner oder Carmen Puchianu) mit demselben Begriff bezeichnet werden wie diejenigen Schriftsteller, die seit Jahrzehnten in einem anderen Land leben, dort veröffentlichen und thematisch wenig mit der Landschaft und dem Leben in Rumänien zu tun haben? Wo kann ein Schriftsteller in der deutschsprachigen Literaturlandschaft verortet werden, der zwar seit Jahrzehnten nicht mehr in Rumänien lebt, sich aber nach seiner Auswanderung in seinen Werken weiterhin mit seiner Erfahrung als »Rumäniendeutscher« auseinandersetzt und dessen Werke weiterhin durch die Erfahrungen und Erinnerungen in Rumänien geprägt werden? Dürfen z. B. Hodjaks Ein Koffer voll Sand oder Herta Müllers Atemschaukel als »rumäniendeutsche Romane« gelesen werden, nur weil sie einen Bezug zu dieser Landschaft haben? Und weiters: Ist es unbedingt nötig, einen allgemeinen Terminus zu haben, der die Vielfalt und Vielschichtigkeit einer Literaturlandschaft sowieso nicht umfassen kann?
Meines Erachtens sollten die aus Rumänien stammenden, heute in Deutschland lebenden Autoren nicht in die Begriffsschublade »rumäniendeutsche Literatur« gezwängt, sondern in zweierlei literaturwissenschaftlichen Kontexten[9] betrachtet werden – wie etwa T. S. Eliot oder James Joyce.
Nicht von der »rumäniendeutschen Literatur« sollte man sich verabschieden (wie das im Laufe der Zeit schon so oft deklariert wurde), sondern von dem Zwang, einen einheitlichen Begriff für die Bezeichnung dieser Literatur zu etablieren. Da aber die spezifische Lage dieser »Randliteratur« doch signalisiert werden muss, spreche ich in meinen weiteren Untersuchungen von »deutschsprachiger Literatur mit Rumänienbezug«.
DIE WANDLUNG DER LANDSCHAFTSLYRIK IM LAUFE DER ZEIT
Landschaft und Natur sind seit jeher ein klassisches Thema der Literatur, das eng mit der Problematik von Heimat und Sprache verbunden ist. Interessant ist es, anhand der Gattung der Landschaftslyrik die Wandlung des literarischen Ausdrucks sowie die Entwicklungstendenzen der deutschsprachigen Literatur mit Rumänienbezug über die Jahrzehnte zu beobachten. Im Folgenden wird versucht, die Wandlung der Themen und Motive in der deutschen Landschaftslyrik mit Rumänienbezug seit den 80er-Jahren anhand einiger Texte von Franz Hodjak, Anemone Latzina und Horst Samson darzulegen, wobei das Hauptaugenmerk auf die Dichtung Franz Hodjaks gerichtet wird. Die Periode vor 1980 wird ebenfalls kurz angerissen, da ein Überblick über die wichtigsten Charakteristika der Landschaftslyrik in der vorangehenden Periode notwendig erscheint, wenn man die darauffolgenden Entwicklungen verständlicher machen will.
Landschaftsgedichte stehen im Spannungsfeld zwischen Veränderung und Beharren, Dynamik und Statik, Erinnerung und Verklärung. In der Landschaftslyrik der deutschen Literatur in Rumänien korrespondiert die dichterisch wachgerufene Landschaft immer auch mit dem Problem der Zeitlichkeit; in diesen Texten werden die poetische Schilderung der Natur und die Erinnerungsthematik eng verbunden. Es ist zu erkennen, dass für das lyrische Ich die Landschaft immer wieder als Raum der Erinnerung, der ästhetischen Erfahrung fungiert, dem neben der äußeren, geographisch-historischen auch eine seelische, innere Dimension zuerkannt wird.[10]
Die Landschafts- und Naturgedichte dominieren vor allem in der von Frauen verfassten Lyrik der 60er-, 70er-Jahre (vgl. Ursula Bedners, Ilse Hehn) und sind als stark subjektiv gefärbte, reflektierende lyrische Meditationen zu lesen. Für Ursula Bedners ist die Natur, die Heimatlandschaft um Schäßburg (rum. Sighişoara), der Garten und der Wald Quelle der poetischen Inspiration – diese Gedichte erweisen sich jedoch als völlig apolitisch. Mit der Verstärkung der totalitären Züge des kommunistischen Regimes in den 70er- und 80er-Jahren gewinnen die Gedichte zunehmend sozialpolitische Konnotationen. Die Landschaftslyrik dieser Periode bedient sich grundlegend einer mehrfach codierten Sprache, die nötig war, um die Zensur zu umgehen, und die somit die Publikation des Werkes ermöglichte. Es sind hermetisch verschlüsselte Texte, deren Autoren mit der Komplizenschaft des Lesers rechneten,[11] da dieser die kryptische Botschaft entschlüsseln musste. Der Leser musste aktiv bleiben, um die chiffrierten Anspielungen aus den Zeilen herauszulesen. Deshalb sind die Landschaftsgedichte in den 80er-Jahren meistens der politischen Lyrik zuzuordnen.
In den Jahren der Diktatur zeichnen sich im Bereich der Landschaftslyrik zwei Tendenzen ab: Auf der einen Seite werden linientreue Texte geschrieben, die als Heimatdichtung fungieren (Heimat- und Vaterlandslieder), vor allem eine idealisierte Vaterlandsliebe besingen und als Huldigungsgedichte an die »sozialistische Wirklichkeit« und die kommunistische Führung des Landes verstanden werden können (vgl. die Gedichte Hans Liebhardts). Diese Art Dichtung dient der politischen Propaganda. Von den Dichtern, als aktiven Mitgliedern der sozialistischen Gesellschaft, wurde erwartet, dass sie die »elysischen Zustände« im sozialistischen Rumänien besingen und die Landschaft idealisiert als »die beste aller möglichen Welten« darstellen. Auf der anderen Seite erscheinen aber auch Gedichtbände mit hohem Anteil an politisch und sozial engagierten Texten, deren regimekritische Botschaft jedoch nur verschlüsselt übermittelt werden konnte. Durch diese subversive Poetik erhält die Landschaft eine völlig neue Bedeutung.
Es ist die Periode in der Geschichte Rumäniens, in der die kommunistische Staatsmacht in jeden Bereich des kulturellen Lebens eingriff und durch die Vorschriften der Partei und die Zensur die Literaturproduktion stark einschränkte. Und doch gelang es einigen Autoren (wie z. B. den Dichtern der Aktionsgruppe Banat oder siebenbürgischen Autoren wie Franz Hodjak), durch verschiedene Tricks die Zensur zu umgehen und Gedichte (darunter auch Landschaftsgedichte) zu veröffentlichen, die in ironisch verkehrter Weise die Schattenseiten des Sozialismus aufzeigten. In seinem 1976 veröffentlichten Gedichtband offene briefe formuliert Franz Hodjak zum Beispiel die Kritik an der sozialistischen Wirklichkeit im Gewande der Naturlyrik – zwar chiffriert, doch eindeutig.
Die Symbiose von Landschaftslyrik und politischer Lyrik kann man im Gedicht nachricht aus dem garten verfolgen. Eine gewagte Allegorie, als Naturgedicht getarnt, deutet kritisch auf die herrschende politische Lage:
zu viel unkraut wuchert
im schatten des baumes
da wird’s höchste zeit
die baumkrone zu lichten[12]
Die ganze Landschaft in Siebenbürgen (seit jeher ein Schmelztiegel sprachlicher, ethnischer und kultureller Vielfalt) ist von der Geschichte geprägt. In diesem Zusammenhang erklärt Hodjak: »Indem ich Landschaft und Geschichte verschmolzen habe, konnte ich sehr brisante politische Texte schreiben vom Untergang einer Welt.«[13]
Die Tatsache, dass in der deutschsprachigen Literatur in Rumänien die Gedichtform des Landschaftsgedichts so häufig vorkommt, erklärt Sigurd Paul Scheichl dadurch, dass von der deutschen Minderheit neben der Sprache der sächsischen Vergangenheit, der Landschaft und den Bauten dominierende identitätsstiftende Funktionen zugesprochen wurden.[14] Die Landschaft, die Kirchenburgen, die sächsischen Dörfer und Friedhöfe werden zu bedeutenden Symbolen der nationalen Identität.
Während jedoch in der früheren rumäniendeutschen Literatur die Autoren der Landschaftsgedichte die elegische Stimmung der großen Vorbilder (Adolf Meschendörfers Siebenbürgische Elegie oder Leopold Maximilian Moltkes Siebenbürgenlied) beibehalten und auf die »goldene Vergangenheit« zurückblicken, distanziert sich die junge Dichtergeneration der 70er-Jahre von dieser Art Vergangenheitsbeschwörung und nimmt eine kritisch-resignierte Haltung ein, der ein oft sarkastischer Stil entspricht. Auch in diesen Gedichten verweisen sowohl der Raum als auch die Zeit auf die Vergangenheit. Der Verlust althergebrachter Traditionen und der Verfall eines kulturellen Wertgefüges werden jedoch nüchtern und illusionslos betrachtet.
Die Landschaftsgedichte, die in den 80ern und auch später, nach der Wende, erscheinen, gehören nicht zum Genre der Landschaftslyrik im engen Sinn.[15] Denn hier wird nicht die Landschaft an sich zum Thema der Gedichte, sondern die Stimmungen, die durch die Betrachtung von Landschaften hervorgerufen werden. Diese Landschaften, Resonanzböden für die eigenen Gefühle, weisen über sich hinaus und werfen tiefliegende ontologische Fragen nach Identität und (innerer sowie äußerer) Heimat im historischen und kulturellen Kontext auf: Kann die Landschaft, der Ort noch Heimat sein? Oder fungiert sie nur als Ort der Erinnerung, der Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, als Ort des Ursprungs, des zurückgelassenen Lebens?
Auffallend viele Landschaftsgedichte entstehen in den 80er-Jahren, was auch mit der wachsenden Auswanderungswelle zu erklären ist. Man konfrontierte sich damit, dass mit dem Verlassen des bisher als Heimat verstandenen Lebensraums die Landschaft mit den Kirchenburgen und Wehrmauern als einzigen Zeugen eines kulturellen Untergangs zurückbleibt, da die Menschen, die diese Landschaft beseelt haben, weggehen. Die Kirchenburgen, die als mächtige Verteidigungsbauten im Laufe der Jahrhunderte den Ansturm feindlicher Aggressoren erfolgreich aufgehalten hatten, sind einem neuen Feind – der Auswanderung – hilflos ausgeliefert.
Im Gedicht sächsisches dorf im unterwald stellt Hodjak voller Ironie eine leblose Dorflandschaft dar, die keine Zukunft zu haben scheint, denn
die kinder sind mit ihren kindern
in die welt gezogen
und viel viel weiter weg.
den kirchberg herunter kommen grabsteine,
heuschober und verlaufne hunde.
durchs blattwerk schimmert verwitterte andacht.
das dorf klebt wie ein kaugummi hinterm ohr des bergs.[16]
Desillusioniert und resigniert setzt sich Hodjak mit dem Verlust des traditionellen kulturellen Erbes auseinander. Die Thematik der Auswanderung, die verstärkt in den Gedichten der 90er-Jahre in den Mittelpunkt rückt, wird zum Kernpunkt des Textes. Die Sprache bewegt sich zwischen verbitterter Ernüchterung, der schmerzhaften Erkenntnis des unvermeidbaren Schicksals der Siebenbürger Sachsen und ironischer Metaphorik: »der dorfplatz glänzt wie eine herrenglatze« und »keine fremde seele verirrt sich hierher, nur die zeitung«. Statt dass eine »goldene Vergangenheit« beschworen würde, wird resigniert über die »goldne vergangenheit der zukunft« nachgedacht.
Am Beispiel der zwischen 1976 und 2008 erschienenen Kelling-Gedichte von Franz Hodjak kann man die Wandlung der siebenbürgischen Landschaft, aber auch die veränderte Blickrichtung des Beobachters, die gewandelte Stimmung der Betrachtung aufzeigen. Das erste Gedicht mit dem Titel Kelling erschien im Gedichtband offene briefe (1976) und stellt das Bild des Dorfes im siebenbürgischen Unterwald
mit der dem Verfall überlassenen Wehrburg dar. Die Wahrnehmung der Landschaft im Gedicht erfolgt aus einer historischen Perspektive. Der elegische Tonfall und die Thematik des Gedichtes beschwören die Tradition der Siebenbürgenlieder herauf (vor allem auf die Siebenbürgische Elegie von Meschendörfer wird – wenn auch ironisch – angespielt), Wörter wie »Chronik«, »Legende«, »Hellebarde«, »Wappen«, »Moderduft« unterstützen u. a. diesen Vergleich. Doch der Kontext, in dem diese erscheinen, weist eher in Richtung Entmythisierung: Aus der »chronik des staubs« wächst Kamille, die von Hühnern gepickt wird (als Sinnbild der Zerstörung auf Mikroebene), die Legenden sind »abgegrast von hasen« und die Burg steht »trotzig und erschöpft wie / ein greiser bauer«. Doch auch wenn der Mythos einer festen Burg nicht mehr haltbar ist – Zeilen wie »die wände geschmückt / mit den wappen der feuchtigkeit / gesegnet von seiner hoheit dem moderduft«[17] und der satirische Ton, mit dem die Dorflandschaft beschrieben wird, sind Beweise dafür –, gibt es Leben in der Landschaft, auch wenn im Gedicht nicht Menschen, sondern nur Tiere das Dorf beseelen: Scharen von Gänsen und Hühnern sowie Hasen, die der Zerstörung durch Zeit beiwohnen.
Im zweiten Kelling-Gedicht (Kelling 2, erschienen 1983 im Gedichtband flieder im ohr) verschwindet auch diese Art Lebendigkeit, und der Fokus wird auf die Erstarrtheit des Dorflebens gerichtet. Die Wehrburg, Symbol der siebenbürgisch-sächsischen Geschichte und Bote einer langwierigen Tradition, erscheint im Gedicht nicht mehr, es gibt nur eine flüchtige Anspielung auf »Burgruinen«. Das Kino, »der konsum, die wandzeitung« übernehmen die Rolle der alten Werte: »heuwagen, vereinzelt die straße lang«.[18]
Im dritten Gedicht Kelling 3 (1986 im Gedichtband Augenlicht veröffentlicht) wird das unvermeidliche Ende des Dorfes (metonymisch auf den Niedergang einer Tradition anspielend) satirisch dargestellt:
zehn etwa sterben im jahr,
elf wandern ab in die stadt,
zwölf fahren zum bruder.
die akazien, klein und verkrüppelt, blühn
mit dem mut der verzweiflung[19]
Mit Mitteln der Entmythisierung verweist Hodjak auf die Unabwendbarkeit des Verlustes eines kulturellen Erbes. Die Landschaft verliert ihre Einwohner, was zurückbleibt, sind nur die Naturelemente, die jedoch auch »klein und verkrüppelt« und auf keine Zukunft ausgerichtet sind.
Kelling 4 erscheint 1997 im Band Ankunft Konjunktiv, nach der Auswanderung des Dichters nach Deutschland. Schon die Tatsache, dass das Gedicht mit dem Untertitel Siebenbürgen versehen ist, betont eine distanzierte Haltung und dass der Blick von außen erfolgt. Der Gebrauch des Konjunktivs (»Gesetzten / Falles, jemand käme / beim Wunsch an«) sowie die Verwendung der Wörter »Angst«, »Tod«, aber vor allem die direkte Anspielung auf Meschendörfers Elegie (»Anders / herrscht hier die Zeit«[20]) weisen auf das Unwiederbringliche des Verlustes hin.
Einen ironischen Verweis auf die Siebenbürgische Elegie von Meschendörfer finden wir auch im Gedicht Osterspaziergang, in dem es heißt: »die brunnen, die einst rauschten, sind ausgedorrt«.[21] Doch Hodjak ist nicht der einzige deutsche Dichter aus Rumänien, der dem Gedicht von Meschendörfer so viel Aufmerksamkeit schenkt und den Text in die eigenen Gedichte einwebt oder auf ihn anspielt.[22] Die ironische Übernahme der Elegie erfolgt suggestiv auch im Gedicht Siebenbürgische Elegie 1983 von Anemone Latzina, die durch die Einbettung von Adressen ausgewanderter Verwandten und Freunde zwischen die Zeilen des ursprünglichen Gedichtes resigniert auf den Untergang einer Welt hinweist. Ironisch wirkt die »Adresse« des verstorbenen Vaters, des Einzigen, der in Siebenbürgen geblieben ist:
Völker kamen und gingen, selbst ihr Name entschwand.
der vater: innerstädtischer friedhof, kronstadt[23]
Anemone Latzina ist vor allem für ihre fein stilisierten, nüchtern-melancholischen Liebesgedichte bekannt. Ihre Lyrik kreist um die kleinen Erlebnisse und Stimmungen des Alltags. Obwohl sie keine Landschaftsgedichte im engeren Sinne geschrieben hat, kann das Gedicht Csíkszereda der Landschaftslyrik im weiteren Sinn zugeordnet werden. Darin ist der Einfluss der Beat-Bewegung eindeutig zu erkennen, und es beschreibt in kritisch-ironischem Ton die typische Landschaft eines sozialistischen Neubauviertels mit ihren Widersprüchen und kontrastreichen Details. Es ist die Welt der bunten Kombination von Natur und Zivilisation: Das Maisfeld beginnt »gleich hinter wohnkomfort 1 von / Klára und István«, »tagsüber blöken schafe, nachts bellen hunde«. Ganz nebenbei werden auch die Bewohner dieses Raumes erwähnt, wobei die (auch durch das Verb ausgedrückte) Unsicherheit als wesentlicher Faktor der Existenz betont wird: »es scheint / da auch menschen zu geben«. Hervorgehoben wird »die sicherungskette an der tür«, die als Symbol für die nur scheinbare Sicherheit und tatsächliche Ausgeliefertheit verstanden werden kann. Das Gedicht endet mit den Zeilen, die aus dem amerikanischen Folk-Song This Land von Woody Guthrie stammen und in diesem Kontext als ironische Verkehrung gedeutet werden können:
THIS LAND IS YOUR LAND,
THIS LAND IS MY LAND
FROM CALIFORNIA
TO STATEN ISLAND.[24]
Durch das Nebeneinanderstellen der beiden Lebensarten und Lebensräume (der rumänischen und der amerikanischen) wird die Problematik der Freiheit bzw. der Unfreiheit thematisiert.
Horst Samson veröffentlicht 1981 in der Zeitschrift Neue Literatur das Gedicht Hineinsehen ins Land, das die »zerrissenheit«, »ungewißheit« und »beziehungslosigkeit« als Rückstände einer ehemaligen lebendigen (Kultur-)Landschaft thematisiert. Die Zukunftsperspektive scheint düster und endgültig verbaut zu sein:
was für ein herbst sagen die botaniker
bald stehen die rumäniendeutschen bäume ohne blätter
da[25]
Das einsam, allein für sich platzierte Lokaladverb in der letzten Zeile hat ebenfalls symbolische Bedeutung und verweist auf die Doppeldeutigkeit des Ortes (hier oder dort).
Wie zu erkennen ist, haben die Landschaftsgedichte unmittelbar vor und nach der Wende mit dem geographischen Raum wenig zu tun. Zwar sind die Orte lokalisierbar, die eigentlichen Themen der Gedichte sind jedoch die Vergänglichkeit, die Freiheit(slosigkeit) und die innere Heimat(losigkeit).
Die Landschaftsgedichte, die nach der Wende entstanden sind, thematisieren auch nicht die Landschaft an sich; nicht der konkrete, lokalisierbare, topographische Ort steht im Mittelpunkt des Werkes, sondern das Gefühl, das durch die Betrachtung dieser bestimmten Landschaft hervorgerufen wird, eine innere Landschaft, die aus Erinnerungen konstruiert wird, eine nostalgische Reflexion über eine Vergangenheit, die nach wie vor deutliche Spuren hinterlässt – und zugleich eine Abwendung von ihr darstellt. Diese vorrangig allegorisch stilisierten Gedichte können zugleich als zeitund ortsgebundene Reflexionen über Identität gelesen werden. Auffällig ist die starke Hinwendung zur Frage nach Heimat bzw. Heimatlosigkeit und der Möglichkeit einer Beheimatung vor dem Hintergrund der Auswanderung. Der Umgang mit dem Verlust der alten und dem Nicht-gewinnen-Können einer neuen Heimat führt nicht selten zur Destruktion des Mythos Heimat.
In allen Bänden von Franz Hodjak finden wir Gedichte, in denen die Landschaft eine wichtige Rolle spielt. Auch nach der Auswanderung schreibt er Texte, in denen dem Motiv der Landschaft (sei es in Rumänien, in Deutschland oder in anderen Gebieten Europas, die auf ihn Einfluss ausgeübt haben) eine wichtige Bedeutung zukommt – auch wenn die Zahl der Landschaftsgedichte bedeutend geringer ist als zuvor.
Das Gedicht Rosenauer Burg, dessen Stimmung und Motivwahl an das frühere sächsisches dorf im unterwald erinnert, zeigt die verlassene siebenbürgische Landschaft als eine erstarrte, archaische Welt: »die welt liegt vor dem anfang des worts«.[26] Die Heimatlosigkeit, die aus den Zeilen des im Band Landverlust erschienenen Gedichtes Ankunft spricht, wird zum Hauptthema der nach der Auswanderung entstandenen Werke von Hodjak:
der ort, den es nicht gibt, dort
wohnst du, fröstelnd, in fremder
haut, ohne bett, ohne landschaft, wie
ein druckfehler, ohne zukunft […][27]
Hodjak nähert sich aber auch anderen Orten und Gebieten Rumäniens (das Donaudelta, das Schwarze Meer tauchen in den Texten auf), Städten und Landschaften Deutschlands oder anderer Länder (Rastcafé. Minden; Pont Neuf; Café. Amsterdam). Doch nichts liegt dem Dichter ferner, als diese Ortschaften, in denen er einige Stunden, Tage, Monate oder Jahre weilt, als Heimat anzusehen. Und hier sieht man eigentlich den größten Bruch zur Heimatlyrik-Tradition: Hodjak kann und will diese Landschaften nicht als Heimat erleben (diese Haltung finden wir auch in seinen Romanen). Die Orte sind nur Zwischenstationen, die Stimmung des ewigen Unterwegsseins prägt diese Gedichte.
In seinem 2013 erschienenen Lyrikband Der Gedanke, mich selbst zu entführen, bot sich an, der auffallend viele Widmungsgedichte enthält (wie das der Autor selbst in den einleitenden Worten betont), wird den Landschaften eine wichtige Rolle beigemessen. In vielen Gedichten gibt es konkrete Hinweise auf geographische Gebiete, die stets in ihrer symbolischen Bedeutung auftreten: Orte der Vergangenheit (Siebenbürgen, Donaudelta), der Gegenwart (Usingen, Berlin) und ein ironisch gedachter Ort der möglichen Zukunft:
[…] etwa
das Angebot eines Schlüssels
für ein paradiesisches Schrebergärtchen,
in bester Lage,
wo die Schöpfung sich wiederholte,
diesmal
mit glücklichem Ausgang, der ewig
währte?[28]
In diesen Gedichten stehen neben erinnerten Landschaften aus Siebenbürgen auch Ortschaften aus anderen Gebieten Europas und ihre Bewohner im Fokus. Es gibt auch Gedichte mit direktem Bezug zu Berlin (Berlin, Gras 1 oder Mauer), in denen die Trennung und die Unmöglichkeit einer echten Vereinigung selbst nach mehr als 20 Jahren thematisiert wird – eine »Tiefe, die nichts zusammenhält«:
Die Schutzengel aus Ost und West
geraten sich in die Haare auch nach
zwanzig Jahren. Die Schuldzuweisungen
für die Mauer, sie reißen nicht
ab.[29]
Ironisch ertönt auch der Ausruf im Gedicht Gras 1:
O mein vereinter
Himmel, o heiterer Dachverband.
Nur das Gras (»spärlich«) erinnert sich, »indem es nicht drüberwächst«. Die topographische Leere wird mit Beton ausgefüllt, das Menschliche bleibt jedoch in getrennten Räumen: »Die Wunden sind verrostet, der Stacheldraht nicht.«[30] Diese Thematik wird auch im Gedicht Berlin aufgegriffen, in dem die Bernauer Straße als
nur ein Symbol mit doppeltem
Boden, der vereint, trennt, vor allem
aber verunsichert, mehr oder weniger
betrachtet wird. Es gibt einen schmalen Trost:
Zumindest kann
einer zum andern gehen, um staunend
festzustellen, was sie trennt.[31]
Neben Gedichten, die Orte und Gebiete in Deutschland evozieren (Main bei Würzburg; Fränkische Schweiz; Usinger Land; Alm), stehen auch solche, in denen Siebenbürgen und andere Gebiete in Rumänien thematisiert werden – wobei sich der Raum immer im Kontext der Zeit (der Vergangenheit) darstellt. Diese Raum-Zeit-Beziehung wird bereits im Titel des Gedichtes Siebenbürgen, herbstlich aufgebaut, da die erwähnte Jahreszeit (Herbst) auch symbolisch zu deuten ist – als Endzeit eines kulturellen Raumes:
Die Landschaft, weit hinter
vorgehaltener Hand, wo im Kirchturm
der Falke hineinlebte.
Mitgenommen aus dieser Landschaft wurden »dunkle Bilder«,
in die, später,
die Sprache ein eigenes
Licht trug.[32]
Von der Vergangenheit bleibt einem diese Sprache übrig, die einzige, die »weiterhelfen
kann […], wenn sie es kann«.[33]
Im Gedicht Verlockung beschreibt Hodjak den »umgekehrten Weg«, den er ging »aus / dem angeborenen Exil folgend meiner Sprache / zum Ursprung« und thematisiert wiederholt das ewige Auf-dem-Weg-Sein – sowohl im Raum als auch in der Sprache.
[…] Aus einer Sprache
brach ich auf in die andere,
ewig unterwegs.[34]
Die zwei Sonnen, die im Gedicht Über Kopisch erscheinen, können auch metaphorisch gedeutet werden, nämlich als Anspielung auf die zwei Heimaten bzw. zwei Heimatlosigkeiten, über die sich Hodjak mehrfach in Essays und Interviews geäußert hat. Kopisch (rum. Copşa Mică), eine Transitstadt auf dem Weg von Hermannstadt nach Klausenburg (»und von da nach München«), ruft Erinnerungen an die Vergangenheit wach und das Gefühl der versäumten Gelegenheiten:
[…] O nein,
mit Toten kann man sich nicht aussprechen, nein, das hätte
man tun sollen, solange sie
noch lebten.[35]
Im Stefan Sienerth gewidmeten Gedicht Markttreiben. Klausenburg 2009 werden gleich im Titel Ort und Zeit genannt. Die Gegenwart einer florierenden Stadt in Siebenbürgen, die sich jedoch mit einer neuen Migrationswelle konfrontiert sieht (als bedeutendste Auswirkung der zunehmenden weltwirtschaftlichen Integration Rumäniens) und die Orientierung an neuen (Konsum-)Werten wird ironisch zugespitzt formuliert.
[…] Die Hoffnung lernt
gehen, lernt fliegen, fliegt um die Ecke, nach
Spanien, nach Griechenland, wo sie besser
bezahlt wird.[36]
Die ironische Anspielung auf die Siebenbürgische Elegie von Meschendörfer kann auch
hier nicht übersehen werden:
Anders schlägt nun die Turmuhr, anders
schmeckt das Osterlamm.[37]
Der Mythos Heimat und Tradition wird dekonstruiert (»Man tanzt nicht mehr Hora, man / tanzt um den Mercedes«), sowohl Geschichte als auch Religion werden von der Konsumgesellschaft bestimmt (»Mit Huren, inzwischen, / verdient man besser als mit Ikonen«). Dies betrifft jedoch nicht nur Rumänien – in Deutschland ist die Situation auch nicht anders. Im Gedicht Von ungefähr wird bissig-ironisch formuliert: »Weil sie sexy sind, sind / Trachten wieder patriotisch«.[38]
Der Titel des Gedichts Wanderer, kommst du … dient als intertextueller Verweis auf die Inschrift auf dem Gedenkstein für die Spartaner,[39] die sich 480 v. Chr. in der Schlacht bei den Thermopylen gegen die Perser bis auf den letzten Mann aufopferten. Das Endzeitgefühl und die Vorahnung des Verschwindens einer Bevölkerungsgruppe, die in den Werken der 80er- und 90er-Jahren auf Siebenbürgen und die Siebenbürger Sachsen bezogen war, wird nun auf ein anderes Gebiet (Donaudelta) und auf eine andere Volksgruppe (die Lipowener) übertragen:
[…] Den waschechten Lipowener
triffst du, Wanderer, immer
seltener an, also
beeil dich.[40]
Im Gedicht Gagausen führt Hodjak diesen Gedanken weiter, indem er neben den Lipowenern auch weitere in ihrer Existenz gefährdete Minderheiten erwähnt: die Gagausen und die Csángós.[41]
Die Erinnerungen an die Kindheit in Siebenbürgen werden in Gedichten wie Süße Kirschen oder Dürre wachgerufen, wo konkrete Ortsangaben (»Herrn Wondratscheks Laden«), die Gestalten der Großeltern und die Erinnerungen an kleine alltägliche Begebenheiten die Vergangenheit näher bringen.
In der Gegenwart und in Deutschland (auf der Alm) verortet ist die Landschaft des Gedichtes Gebirgsdorf, das mit dem ironischen Ton und der Thematisierung der von der Konsumgesellschaft propagierten Werte (Vollpension, Sauna, Club) an die satirischen Gedichte im früheren Band Die Faszination eines Tages, den es nicht gibt anknüpft. Dieses Gebirgsdorf ist alles andere als das Gebirgsdorf in Siebenbürgen aus der Vergangenheit, hier »bohrt eine Firma. / Wonach, bleibt ein Geheimnis der Japaner«. Aus dem vergangenen Jahrhundert stammt nur das Holz, das vom Bauern »zurecht« geschlagen wird, statt Pflaumenschnaps trinkt man Enzianschnaps. Ironisch endet das Gedicht mit den Zeilen, die auf das »kulturelle Erbe« des sich seiner Wichtigkeit bewussten Dorfes hinweisen:
Herr Freud soll auch schon hier gewesen sein,
einen ganzen Sommer lang.[42]
Durch die Thematisierung der Orte in Rumänien (Hermannstadt, Klausenburg, Kopisch, Donaudelta) oder konkreter Landschaftselemente wie der Kirche in Klausenburg (Verlockung), des Huetplatzes in Hermannstadt (Huetplatz Hermannstadt), des Kirchturms (Siebenbürgen, herbstlich), der Turmuhr (Markttreiben. Klausenburg 2009), aber auch durch die Anspielungen auf die Vergangenheit in Siebenbürgen, sei es durch Kindheitserinnerungen, die Erinnerung an die politischen Verhältnisse[43] oder das Heraufbeschwören alter Bräuche (das Osterlamm, das den Berg hinabrollende Feuerrad, die Hora) wird die Tradition der Landschaftsgedichte mit historisch-politischem Bezug fortgeführt, auch wenn ihr Gegenstand nicht so sehr die Landschaft an sich, sondern die damit verknüpfte Problematik von Heimat und Identität ist.
Hodjak (wie auch andere aus Rumänien stammende Schriftsteller) bleibt weiterhin, auch 23 Jahre nach der Auswanderung, stark an die Landschaft in Rumänien gebunden. Diese Autoren bearbeiten Themen aus der »rumäniendeutschen Vergangenheit«, die siebenbürgische (bzw. rumänische) Umgebung prägt noch ihre Werke – sie sollten jedoch meines Erachtens nicht mit dem einengenden Begriff »rumäniendeutsche Autoren« gekennzeichnet werden.
Aufschlussreich – aber im Rahmen des vorliegenden Beitrags aus Platzgründen nicht zu leisten – wäre auch eine detaillierte Analyse der Landschaftsgedichte der heute in Rumänien dichtenden deutschsprachigen Autoren sowie ein Vergleich der Texte. Dies muss allerdings zukünftigen Untersuchungen vorbealten bleiben.
RÉKA SÁNTA-JAKABHÁZI, geboren 1973 in Szeklerkreuz (rum. Cristuru Secuiesc, ung. Székelykeresztúr), Rumänien, studierte Germanistik und Hungarologie sowie rumänisch-deutsche interkulturelle Beziehungen an der Babeș-Bolyai-Universität in Klausenburg (rum. Cluj-Napoca, ung. Kolozsvár). 2011 promovierte sie im Fach Germanistik an der Eötvös-Loránd-Universität Budapest. Zurzeit ist sie am Lehrstuhl für Germanistik an der Babeș-Bolyai-Universität Cluj tätig. Schwerpunkte ihrer Forschungsarbeit sind deutschsprachige Literatur in und aus Rumänien, vergleichende Literaturwissenschaft, deutsch-ungarisch-rumänische interkulturelle Beziehungen, Franz Hodjak. In diesen Forschungsbereichen veröffentlichte sie zahlreiche wissenschaftliche Studien und Aufsätze. 2013 erschien ihr Band Konstruierte Identitäten im Werk von Franz Hodjak.
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2015), Jg. 10 (64), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 47–60.
[1] Die Ergebnisse der Tagung wurden im folgenden Band publiziert: Wilhelm Solms (Hg.): Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur. Marburg 1990.
[2] Vgl. Podiumsdiskussion mit Werner Söllner. Entstehung und Auflösung einer literarischen Gruppe. Moderation: Jochen Hieber. In: Solms: Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur, S. 265–287, hier: S. 268.
[3] Ebenda, S. 270.
[4] Stefan Sienerth: »Von der Suche nach einem Ort«. Franz Hodjak im Gespräch mit Stefan Sienerth. In: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 45 (1996) H. 1, S. 9–18, hier: S. 17.
[5] Peter Motzan: Die Szenerien des Randes: Region, Insel, Minderheit. Die deutsche(n) Literatur(en) in Rumänien nach 1918 – ein kompilatorisches Beschreibungsmodell. In: Eckhard Grunewald, Stefan Sienerth (Hgg.): Deutsche Literatur im östlichen und südöstlichen Europa. München 1997, S. 73–102, hier: S. 89.
[6] Annemarie Weber: Rumäniendeutsche? Diskurse zur Gruppenidentität einer Minderheit (1944–1971). Köln 2010, S. 311.
[7] Ebenda, S. 1.
[8] Carmen Puchianu: »Schnee, und das Sichtbare, das uns versucht«. Überlegungen zu Joachim Wittstocks Lyrik an einigen Beispielen. In: Germanistische Beiträge 25. Sonderband. Hermannstadt/Sibiu 2009, S. 15–53, hier: S. 26.
[9] Deutsche Literatur bzw. rumäniendeutsche Literatur bis 1990.
[10] Den inneren Zusammenhang zwischen Landschaft und Empfindungen, zwischen der äußeren und der inneren Welt, die sowohl räumliche als auch zeitliche Zwischenexistenz der »rumäniendeutschen« Autoren thematisiert u. a. Jürgen Lehmann: Literatur als Form politischer Gedächtniskultur. Anmerkungen zu Formen und Funktionen literarischer Erinnerung am Beispiel rumäniendeutscher Autoren. In: Spiegelungen 60 (2011) H. 1, S. 18–29.
[11] Vgl. Emmerich Reichrath: Reflexe – Kritische Beiträge zur rumäniendeutschen Gegenwartsliteratur. Bd. II. Cluj 1984, S. 60.
[12] Franz Hodjak: nachricht aus dem garten. In: ders.: offene briefe. București 1976, S. 74.
[13] Vgl. Michael Neumann: »Ich dreh das Licht aus und verschluck die Schlüssel«. Ein Gespräch mit Franz Hodjak. In: Kassandra. Literaturen, 5.11.1998.
[14] Vgl. Sigurd Paul Scheichl: »die brunnen, die einst anders rauschten, sind ausgedorrt«. Franz Hodjak – Lyriker eines kulturellen Zusammenbruchs. In: Werner Hofmeister, Bernd Steinbauer (Hgg.): Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Innsbruck: Institut für Germanistik 1997 (Germanistische Reihe, 57), S. 389–400, hier: S. 390.
[15] Eine nähere Untersuchung des Begriffs »Landschaftsgedicht«, sowie eine Differenzierung wäre hier notwendig, kann aber im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht unternommen werden.
[16] Franz Hodjak: sächsisches dorf im unterwald. In: ders.: flieder im ohr. București 1983, S. 33.
[17] Franz Hodjak: Kelling. In: ders.: offene briefe, S. 80.
[18] Franz Hodjak: Kelling 2. In: ders.: flieder im ohr, S. 72.
[19] Franz Hodjak: Kelling 3. In: ders.: Augenlicht. București 1986, S. 22.
[20] Franz Hodjak: Kelling 4. In: ders.: Ankunft Konjunktiv. Frankfurt/M. 1997, S. 10.
[21] Franz Hodjak: Osterspaziergang, S. 38.
[22] Die Rezeptionsgeschichte der Siebenbürgischen Elegie untersuchen u. a. Michael Markel und Edith Konradt. Vgl. Michael Markel: Adolf Meschendörfers Siebenbürgische Elegie. Bausteine zu einer Rezeptionsgeschichte. In: Peter Motzan, Stefan Sienerth (Hgg.): Deutsche Regionalliteraturen in Rumänien (1918–1944). Positionsbestimmungen, Forschungswege, Fallstudien. München 1997, S. 177–222; Edith Konradt: Kriterien und Klischees literarischer Rezeption bei den Siebenbürger Sachsen am Beispiel von Adolf Meschendörfers »Siebenbürgischer Elegie«. In: Anton Schwob, Brigitte Tontsch (Hgg.): Die siebenbürgischdeutsche Literatur als Beispiel einer Regionalliteratur. Köln 1992, S. 267–294, hier: S. 279.
[23] Anemone Latzina: Siebenbürgische Elegie 1983. In: Neue Literatur 34 (1983) H. 6, S. 13f.
[24] Anemone Latzina: Csíkszereda 1973. In: dies.: Tagebuchtage. Berlin 1992, S. 71.
[25] Horst Samson: Hineinsehen ins Land. In: Neue Literatur 32 (1981) H. 12, S. 20.
[26] Franz Hodjak: Rosenauer Burg. In: ders.: Landverlust. Frankfurt/M. 1993, S. 25.
[27] Franz Hodjak: Ankunft. Ebenda, S. 39.
[28] Franz Hodjak: Hypothetisch. In: ders.: Der Gedanke, mich selbst zu entführen, bot sich an. Dresden 2013, S. 92.
[29] Franz Hodjak: Mauer. Ebenda, S. 10.
[30] Franz Hodjak: Gras 1. Ebenda, S. 20.
[31] Franz Hodjak: Berlin. Ebenda, S. 41.
[32] Franz Hodjak: Siebenbürgen, herbstlich. Ebenda, S. 62.
[33] Franz Hodjak: Nahe am Niemandsland. Ebenda, S. 54.
[34] Franz Hodjak: Verlockung. Ebenda, S. 82.
[35] Franz Hodjak: Über Kopisch. Ebenda, S. 26.
[36] Franz Hodjak: Markttreiben. Klausenburg 2009. Ebenda, S. 32.
[37] Ebenda. Anspielungen auf Meschendörfers Elegie finden wir auch im Gedicht Schlauchboot, wo es heißt: »Die Sonne steht auf September / langsam neigt sich ihr Lauf. / Es bröckelt das Treppengeländer.« Ebenda, S. 67.
[38] Franz Hodjak: Von ungefähr. Ebenda, S. 84.
[39] »Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest / uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.« Deutsche Übersetzung von Friedrich Schiller: Der Spaziergang, 1795.
[40] Franz Hodjak: Wanderer, kommst du …, In: ders.: Der Gedanke, mich selbstzu entführen, bot sich an, S. 23.
[41] Franz Hodjak: Gagausen. Ebenda, S. 40.
[42] Franz Hodjak: Gebirgsdorf. Ebenda, S. 68.
[43] Im Gedicht Nichts besonderes zum Beispiel: »Immer wieder / werden wir festgenommen, vorübergehend bloß, // und das / ein Leben lang«. Oder in Markttreiben. Klausenburg 2009: »die Maiglöckchen duften und blühen wieder / als das, was sie sind: keine Mikrofone«. Ebenda, S. 60 bzw. S. 32.