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Lyubomyr Borakovskyy: Zwischen Liebe, Verständigung und Hass | Rezension

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Lyubomyr Borakovskyy: Zwischen Liebe, Verständigung und Hass. Die Darstellung religiöser Konflikte in der Literatur Galiziens (1848–1914) (Wechselwirkungen. Österreichische Literatur im internationalen Kontext, Bd. 21.) Frankfurt am Main: Peter Lang 2016. 260 S.

Von Alla Paslawska

Das Interesse an der Erforschung des österreichischen Galiziens als sozial-kulturelles, darunter auch literarisches Phänomen wurzelt in seinem multiethnischen und daraus folgend multikulturellen und politisch mannigfaltigen Charakter. Dieses Interesse bezieht sich vor allem auf die aus sprachlicher und religiöser Sicht starke Verflechtung heterogener Kulturelemente, die ein zwar brüchiges und widersprüchliches, aber zugleich einheitliches kulturelles Gefüge bilden. Es ist letztendlich fraglich, ob diese „galizische Kultur“ sich wissenschaftlich als Ganzes und in ihren Merkmalen als etwas Eigenständiges auffassen lässt. Man bräuchte dazu zumindest dessen qualitative Gegenüberstellung mit einem anderen Kultursystem unter Berücksichtigung spezifischer Merkmale der Systeme, die im Falle der galizischen Kultur nur von einem rein hypothetischen und stark verschwommenen Charakter sind. Die Erforschung und Beschreibung solcher Sozialaspekte wie des literarischen, religiösen und sozial-politischen Lebens zeigen sich trotzdem als fruchtbare Mittel zum Erschließen des kulturellen Phänomens Galizien. In dieser Hinsicht ist auch das Buch von Lyubomyr Borakovskyy zu betrachten, das unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten die Kernaspekte der galizischen religiös-kulturellen Landschaft und somit der angeblichen galizischen Mentalität betrachtet und beschreibt.

Der Verfasser der vorliegenden Monografie hat sich zum Ziel gesetzt, anhand von Beispielen aus belletristischen Texten die literarische Darstellung von religiösen Konflikten im Schaffen galizischer Schriftsteller zu beschreiben sowie eine Typologie dieser Konflikte zusammenzustellen. An dieser Stelle ist der interdisziplinäre Charakter der Arbeit hervorzuheben. Dieser zeigt sich sowohl in der Anwendung theoretischer Ansätze zur Konflikt- und Kulturforschung als auch in der methodologischen Vorgehensweise gekoppelt mit den gewonnenen Erkenntnissen. Zu letzteren gehören vor allem die vom Autor ausgearbeiteten vier Konfliktgruppen, die thematisch strukturiert und gesondert in einzelnen Kapiteln analysiert werden. Auf diese Weise wurde eine übersichtliche Struktur der Arbeit geschaffen, die sowohl die Orientierung im reichen Quellenkorpus (es werden insgesamt die Werke von neun Schriftstellern behandelt) ermöglicht als auch einen Überblick über die gewonnenen Erkenntnisse verschafft.

Der Umstand, dass der Autor die literarische Darstellung eines religiösen Konflikts zwischen drei verschiedenen Konfessionen aus sprachlich-nationalem Blickwinkel in drei verschiedenen Literaturen analysiert, zeigt das umfassende Forschungsfeld der vorliegenden Untersuchung, das auf den ersten Blick etwas zu breit zu sein scheint. Das damit verbundene Problem der Zusammenstellung und des Strukturierens des analysierten Stoffes vermochte der Verfasser jedoch durch die Eingliederung der gefundenen Konfliktbeispiele in vier thematische Gruppen zu lösen. Im Buch werden somit vier Typen von Konflikten voneinander unterschieden: Konflikte aufgrund interkonfessioneller Liebesbeziehungen, politisch und ökonomisch bedingte religiöse Konflikte sowie Konflikte, die der Autor als Konflikte zwischen religiösem Konservatismus/religiöser Tradition und säkularem Rationalismus definiert. Als Hauptkriterium der Gliederung tritt somit das einem religiösen Konflikt zugrunde liegende Motiv auf. Eine solche Gliederung ermöglicht es dem Verfasser schließlich nicht, sich von der Konzeption einer ,,Nationalliteratur“ eindeutig zu lösen und die vier thematisch verschiedenen Konfliktgruppen im Rahmen einer einheitlichen galizischen Literatur zu erfassen. Als Grund dafür führt er den Umstand an, dass jeder der vier ausgearbeiteten Konfliktgruppen in verschiedenen Literaturen unterschiedliche Bedeutung zugeschrieben wurde bzw. bestimmte Motive für das Schaffen eines bestimmten Autors charakteristischer waren als für einen anderen. Der Autor stellt somit eine Verbindung zwischen dem historischen Kontext, der Thematik eines konkreten literarischen Werkes und den einzelnen religiösen Motiven her und veranschaulicht diese anhand der angeführten Textbeispiele. Die Modellierung und Erklärung solcher Wechselbeziehungen zählen zu den wichtigen Inhalten des vorliegenden Buches.

Bei der Analyse jeder Konfliktgruppe geht der Verfasser von der These aus, dass einem religiösen Konflikt eine politische, ökonomische oder kulturelle Bedeutung zugesprochen werden kann, gleichzeitig wäre aber auch eine entgegengesetzte Perspektive möglich, wenn einem politischen bzw. ökonomischen Konflikt eine religiöse Bedeutung zugeschrieben wird. Dadurch wird die sozio-kulturelle Problematik eines religiösen Konflikts angesprochen: Konfliktsubjekte agieren in jedem Konflikttyp als Vertreter nicht nur einer anderen religiösen Gruppe, sondern vor allem eines anderen kulturellen Systems und/oder einer anderen sozialen Schicht. Eine solche Überlappung trägt einerseits zur Etablierung eines religiösen Antagonismus bei, andererseits erschwert sie die Lösung eines bereits vorhandenen religiösen Konflikts. Anhand gelungener und anschaulicher Beispiele zeigt der Verfasser, wie es zu einer solchen Überlappung kommt und wie diese von einem Schriftsteller in einem literarischen Text instrumentalisiert wird.

In Bezug auf die angesprochene kulturelle Problematik stellt sich die Frage, ob es sich bei vielen der angeführten Konflikte um religiöse oder eher interkulturelle Kontroversen handelt und die Religion dabei nur als Bestandteil eines kulturellen Systems angesehen werden sollte. Der Verfasser neigt in seiner Arbeit eher zum ersten Zugang, indem er die Kultur im Rahmen einer Religion betrachtet. Er lässt dabei den kulturellen Aspekt nicht außer Acht und betont die enge Verwicklung der kulturellen, hier auch sprachlichen, Elemente mit religiösen Erscheinungen. Mit Recht kommt er schließlich zum Fazit, dass es unter den analysierten Konflikten keine „rein religiösen“ Konflikte gebe, wenn auch den meisten Konflikten eine primäre religiöse Konnotation eigen sei. Dies sei vor allem für die Konflikte aufgrund einer interkonfessionellen Liebesbeziehung sowie für die Konflikte zwischen religiösem Konservatismus und Rationalismus charakteristisch. Die letztgenannten werden im Buch vor allem anhand der Beschreibung von antiklerikalen Motiven im Schaffen von ukrainischen Schriftstellern sowie als Konflikte zwischen der jüdischen Orthodoxie und der Aufklärung bei Karl Emil Franzos und Leopold von Sacher-Masoch beschrieben. Dadurch wird eine dritte Differenzierung zwischen den verschiedenen religiösen Konflikten unternommen, nämlich zwischen den Konflikten innerhalb einer Konfession und den Konflikten zwischen verschiedenen Konfessionen.

Der Verfasser umgeht in der Arbeit auch das Problem der Instrumentalisierung der Religion für politische und ökonomische Zwecke nicht. Denn wegen der tiefen Einbettung jeder großen Bevölkerungsgruppe in Galizien – egal, ob Polen, Ukrainer oder Juden – in ihre religiöse Tradition sowie wegen des großen Einflusses dieser Traditionen auf den Alltag der Bevölkerung trat die Religion als wichtige Regulatorin des gesellschaftlichen Lebens auf. Wenn man dazu die sozialen Unterschiede nimmt, vor allem, dass erwähnte Bevölkerungsgruppen insbesondere in Ostgalizien auch verschiedene soziale Schichten vertraten, wird man sich des unter solchen Umständen entstandenen großen Konfliktpotenzials bewusst. Auf diese Weise deckt die Arbeit alle wichtigen Aspekte des konfessionellen Zusammenlebens der verschiedenen Völker in Galizien ab, was sich in der Literatur jener Zeit widerspiegelt.

Es soll schließlich auf die Bedeutung der Monografie in Bezug auf die Erforschung des Schaffens einzelner, bis jetzt wenig oder sogar kaum erforschter galizischer Schriftsteller hingewiesen werden. Zu diesen zählen vor allem Józef Rogosz, Jan Zachariasiewicz, Osyp Makovej und Stefan Kovaliv. Durch das Einbeziehen dieser Autoren und den Vergleich ihres Schaffens mit den Werken anderer, bereits bekannter galizischer Schriftsteller wie Karl Emil Franzos, Iwan Franko oder Leopold von Sacher-Masoch operiert der Autor mit dem reichen, polnisch-, ukrainisch-, deutschsprachigen Textkorpus, was es ihm ermöglicht, den literarischen Prozess in Galizien in seinen komplizierten Wechselbeziehungen und seiner Entwicklungsdynamik zu erfassen und zu beschreiben. Die Arbeit eröffnet somit eine aussichtsreiche Perspektive nicht nur auf die Erforschung Galiziens und seiner Literatur, sondern auch auf die Erläuterung und Analyse der kulturellen Prozesse in einer multiethnischen und dadurch multikonfessionellen Gesellschaft allgemein und ist daher als Arbeit mit einem klar ausgeprägten kulturwissenschaftlichen Ansatz zu bezeichnen.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2020), Jg. 15, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 123–125.

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