Zum Inhalt springen
Start » Online-Artikel » Ausgaben » Ausgabe 2023.1 » Franziska Tschinderle: Albanien | Rezension

Franziska Tschinderle: Albanien | Rezension

Der dunkle Fleck

Franziska Tschinderle: Albanien. Aus der Isolation in eine europäische Zukunft. Wien: Czernin Verlag 2022. 231 S.

PDF-Download

Von Klaus Hübner

 

Wer vor 1995 bei Dunkelheit über Südosteuropa geflogen ist, habe Jugoslawien unter sich leuchten sehen – doch plötzlich sei da, etwa 200 Kilometer bis nach Griechenland, nichts als ein dunkler Fleck gewesen. „Das war Albanien.“ (S. 126). Seit einigen Jahren allerdings ist Albanien EU-Beitrittskandidat, und seine Hauptstadt Tirana hat sich in kürzester Zeit zu einer boomenden europäischen Metropole gemausert. Viele mitteleuropäische Zeitgenossen haben das gar nicht richtig mitbekommen. Albanien? Na ja, sicher, gibt’s halt auch noch … Auch wenn sich immer mehr neugierige Menschen aus aller Welt auf eine Reise durch dieses weitgehend unbekannte Mittelmeerland machen – eine gewisse Skepsis bleibt bestehen. Meistens auch mangelnde Kenntnis von Land und Leuten, Geschichte und Gegenwart, Sprache und Geografie. „Albanien war das Land, über das man in Europa bis vor 30 Jahren am wenigsten wusste“, schreibt die in Tirana lebende österreichische Journalistin Franziska Tschinderle im Vorwort zu ihrem Albanien-Buch, das, explizit anschließend an die grundlegenden Studien von Oliver Jens Schmitt, der weit verbreiteten Unkenntnis ein wenig abhelfen möchte (S. 9). Die Autorin versammelt darin 16 instruktive und facettenreiche Reportagen, die den langen Weg des Landes aus einer stalinistisch geprägten, mit fast totaler Selbstisolation einhergehenden Diktatur hin zu einer jungen, immer noch nicht wirklich stabilen Demokratie aufzeigen – und ihn der Leserschaft verständlicher machen möchten. Wobei es nicht unwichtig ist zu wissen, dass fast die Hälfte der Bevölkerung ihr Heimatland in den letzten 30 Jahren verlassen hat – Albanerinnen und Albaner leben heute auf der ganzen Welt, oft auch in Deutschland oder Österreich. Darunter sind übrigens auch in deutscher Sprache schreibende Schriftstellerinnen wie Anila Wilms oder Literaten wie der in Wien lebende Ilir Ferra (siehe Spiegelungen 2.17).

„Fast ein halbes Jahrhundert lang, von 1944 bis 1991, war es, als hätte jemand eine Glasglocke über Albanien gestülpt.“ (S. 13). So etwas bleibt nicht ohne Folgen, weshalb es auch heute noch unumgänglich ist, ein Albanien-Buch mit einem Porträt jenes ehemaligen Französischlehrers zu beginnen, der sein Land hermetisch von der Außenwelt abriegelte und es mit Hunderttausenden Bunkern überzog. Der letzte Stalinist ist die Reportage über den Diktator Enver Hoxha und seine brutale Herrschaft überschrieben – ein Regime, das mit Hoxhas Tod am 8. April 1985 nicht gleich vom Erdboden verschwand und erst nach dem 20. Februar 1991, als Zehntausende Demonstranten seine Bronzestatue auf dem Skanderbeg-Platz in Tirana zu Fall brachten, allmählich Geschichte wurde. Seitdem stehen sich, wie es im Abschnitt Ein drittes Mal Edi Rama heißt, „Sozialisten und Demokraten als verfeindete Parteienblöcke gegenüber“ (S. 29). Beide unterschieden sich ideologisch nur wenig: „Politische Beobachter vergleichen sie mit Coca-Cola und Pepsi.“ (S. 29). Für die Politik seien immer noch „Klientelnetzwerke und persönliche Vorteile“ (S. 29) entscheidend, die Korruption blühe, die Unterschiede zwischen Arm und Reich würden immer größer, Politik und Macht seien nach wie vor männliche Domänen – und entsprechend hoch sei die Politikverdrossenheit. Dass Albanien, gemessen an seiner Bevölkerungszahl, in den letzten Jahren mehr Flüchtlinge aufgenommen hat als jedes andere europäische Land, vor allem Menschen aus Afghanistan, hat daran offenbar wenig geändert. Das erstaunliche Phänomen, dass der heute über 80 Jahre alte Sali Berisha, der erste demokratisch gewählte Präsident nach dem Zweiten Weltkrieg, ein überaus dubioser Politiker und wohl „das beste Beispiel dafür, dass es in Albanien nie einen Elitenwechsel gegeben hat“ (S. 56), noch immer „Popstarstatus“ genießt (S. 59), mag im Hinblick auf eine europäische Zukunft des Landes nicht unbedingt optimistisch stimmen. Wie zäh sich die EU-Beitrittsgespräche bis heute gestalten und warum das so ist, wird in Franziska Tschinderles Reportage Verlobt, nicht verheiratet detailliert erörtert.

Doch Politik ist nicht alles, und was für die Hauptstadt gilt, kann in Provinzstädtchen und Bergdörfern ganz anders aussehen. Franziska Tschinderle ist eine außerordentlich versierte Kennerin der abwechslungsreichen, oft von Krieg und Gewalt geprägten und manchmal bizarren Geschichte des Landes. Ihre Texte verlieren sich nicht in Abstraktionen, sondern bleiben konkret bei ihrem Thema, und so kann sie ihr Wissen plausibel und überdies erfreulich anschaulich vermitteln. Man lernt also viel Neues von ihr. Darüber hinaus gehört es zu den Vorzügen ihres Buches, dass sie ihr Albanien-Porträt nicht nur von Tirana aus entworfen hat, sondern auch vor mühsamen Fahrten nicht zurückgeschreckt ist, etwa nach Tropoja im Nordosten des Landes. „Die Wenigsten wissen, dass die Hälfte des Landes aus Bergen besteht.“ (S. 85). Die Frage, ob es trotz bemerkenswerter Ansätze wirklich gelingen wird, in dieser abgelegenen, noch immer von alteingesessenen Clans dominierten Bergregion einen nachhaltigen Anti-Ballermann-Tourismus zu etablieren, müsse offen bleiben. Im Süden, an der sogenannten albanischen Riviera gegenüber der griechischen Insel Korfu, einem wunderschönen Küstenstreifen mit bezaubernden Kleinstädten wie Dhërmi, Borsh oder Himarë, sei die Landschaftszerstörung schon weiter fortgeschritten, und ein Ende sei nicht wirklich in Sicht. „An der Küste der Riviera wird das Leben, zumindest für die Touristen und Investoren, immer luxuriöser – erst im Hinterland versteht man, dass Albanien trotz der großen Erfolge der Wirtschaftsumgestaltung immer noch zu den ärmsten Ländern in Europa zählt.“ (S. 118). Das versteht man auch in der Bergarbeiterstadt Bulqiza, die die Autorin im Kapitel Minenarbeiter gegen Milliardär porträtiert – sie führte ein einstündiges Interview mit dem Oligarchen Samir Mane, bezweifelt dessen Sicht auf die Zustände in der Stadt und kritisiert die in Wahrheit unzumutbaren Arbeits- und Lebensbedingungen der Bergleute in aller Deutlichkeit.

Wie es einst im Textilkombinat Mao Ce Dun in Berat zuging und was es mit der kuriosen Freundschaft zwischen Enver Hoxha und Mao Zedong auf sich hatte, erfährt man ebenfalls. Die Autorin besuchte auch die Region um Shkodra, erläutert im Abschnitt Dunkles Gesetz das dort noch sehr lebendige Gewohnheitsrecht des Kanun und rückt in diesem Kontext manche dubiosen Vorstellungen über Familienehre und Blutrache zurecht. Ein bewegendes Gedenkblatt widmet sie der vom Hoxha-Regime verbotenen und gnadenlos verfolgten Schriftstellerin Musine Kokalari. Über das Verhältnis der Bevölkerung zu ihren Religionen liest man bei Franziska Tschinderle manches Erstaunliche, vor allem in der den Besuch eines islamischen Schlachtfestes auf dem Bergmassiv Tomorr schildernden Reportage Pilgern mit den Bektaschi: „Etwa 60 Prozent der Menschen gehören dem Islam an. In der Realität kümmert es wenige Albaner, was der Imam in der Moschee predigt oder was im Koran steht […] Viele Muslime trinken Alkohol, essen Schweinefleisch und verehren Mutter Teresa.“ (S. 147). Bis heute werde im Lande Marihuana angebaut, und eine Drogenmafia existiere weiterhin, heißt es im spannenden, unerschrocken Ross und Reiter benennenden Bericht über das im Juni 2014 von der Polizei gestürmte Bergdorf Lazarat bei Gjirokastra.

Die Autorin vermag es, und das macht ihr Buch besonders empfehlenswert, die Widersprüche, Ungleichzeitigkeiten und Inkonsequenzen in der heutigen albanischen Gesellschaft sicht- und verstehbar zu machen. Und weil man der Widersprüchlichkeit der albanischen Gegenwart nicht gerecht werden kann, wenn man über die Geschichte des Landes zu wenig weiß, endet sie mit einem Essay über Albaniens spezielle Gemengelage im Zweiten Weltkrieg. „Es scheint, als habe es nur Familien gegeben, die Juden gerettet oder die Nazis bekämpft hätten. Die Realität ist komplexer.“ (S. 225). Sie war es damals, und sie ist es heute. Franziska Tschinderles Buch bringt ein wenig Licht ins Dunkel.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 241–243.