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Ana Blandiana: Variationen über ein gegebenes Thema | Rezension

Ana Blandianas poetische Trauerarbeit

Ana Blandiana: Variationen über ein gegebenes Thema. Variaţiuni pe o temă dată. Gedichte. Deutsch/Rumänisch. Aus dem Rumänischen und mit einem Nachwort von Ruxandra Niculescu. Ludwigsburg: Pop Verlag 2022. 149 S.

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Von Anke Pfeifer

 

„Ohne dich / scheint die Welt plötzlich grösser / und sinnloser / wie ein unmöbliertes Zimmer / als wären einige Wände gefallen / ohne die ich nicht mehr weiß / wie es vorher war / nur, dass man nichts sieht / bis zum Horizont / aber ohne die geringste Ahnung / was der Horizont ist. / […].“ (S. 25) Das im Titel des Gedichtbandes angekündigte Thema ist der Abschied von einem geliebten Menschen und der Umgang mit diesem Verlust, ein klassisches Thema der Lyrik seit jeher. Die bekannte rumänische Dichterin Ana Blandiana, deren Person kaum einer Vorstellung bedarf, ist sie doch über die Grenzen ihres Heimatlandes durch zahlreiche Übersetzungen ihrer Lyrik-, Prosa- und Essaybände, darunter auch in Deutschland, bekannt, verfasste diese Texte aus schmerzlichem Grund. Ende 2016 war ihr Ehemann und Mitstreiter Romulus Rusan, mit dem sie nicht nur eine lange Ehe geführt hatte, sondern mit dem sie auch eine intensive Arbeitsbeziehung verband, mitten aus seinem Schaffen gerissen worden. Neben der Arbeit an Büchern und anderen Projekten war er gerade dabei gewesen, mit seiner Frau die nächste Sommerschule für Schüler in Sighetu Marmației vorzubereiten. Beide hatten 1993 begonnen, die Gedenk-, Museums-, Forschungs- und Tagungsstätte Memorial von Sighet in der Maramureș aufzubauen, und gehörten zuvor auch zu den Gründungsmitgliedern der Bürgerallianz. Romulus Rusan war aber auch wichtiger Leser und Kritiker des Werkes von Ana Blandiana gewesen. 

Sein Tod, sein Fehlen, diese gewaltige emotionale Zäsur in ihrem Leben, verarbeitete die Dichterin selbstverständlich auch literarisch. Gestalt fand ihre Trauer in der permanenten poetischen Zwiesprache eines lyrischen Ichs mit einem Du. Dies wird im vorliegenden Gedichtband auch formal deutlich durch die Widmung „an R./ către R“. 

Die rumänische Originalausgabe erschien zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes im Jahre 2018 bei Editura Humanitas und wurde bei der Buchmesse Gaudeamus 2018 als Bestseller geehrt. Ruxandra Niculescu hat die 46 Gedichte und 12 Mikroprosatexte von jeweils wenigen Zeilen nun für diese zweisprachige Ausgabe gekonnt ins Deutsche übertragen. 

Ana Blandiana selbst schrieb über das Thema ihres Buches: „Un poem de dragoste despre nedespărţirea prin moarte. Cea mai metafizică dintre cărţile mele“ [Ein Liebesgedicht darüber, dass der Tod nicht trennt. Unter meinen Büchern ist es das mit dem stärksten metaphysischen Charakter]1. 

Das ist nur zu verständlich, ist der Verlust eines nahen Menschen doch mit dem Verstand kaum zu erfassen. Die Grenzen der Sinne verwischen sich wie die Grenzen von Körpern, Räumen und Zeiten. Liebe, Traum und Schlaf verbinden über die Grenze zwischen Dies- und Jenseits, oder in einem Gedicht auch Lichtzügel, wenn er, der geliebte Partner, denn nicht dort gezwungen werde, diese zu kappen. 

Transzendenz bestimmt die Gedichte von Ana Blandiana. Gewiss gibt es materielle Hinterlassenschaften, die an das Aussehen des Du erinnern. Da ist das Foto auf dem Fernseher oder das Handyfoto, auf dem sich die Pupille ganz groß heranzoomen lässt. Tagebucheinträge des Dahingegangenen erinnern an gemeinsam Erlebtes und geben nachträglich überraschend oder bestätigend Aufschluss über dessen Wesen. 

Körperlich ist der Partner nicht mehr präsent, aber auch Tote sind für Trauernde zugegen, sind unsichtbare Gefährten, wie sie Kinder mitunter ersinnen. Dafür findet Blandiana großartige Bilder: „Ich wusste, es war nur ein Kleid. / Aber ich hatte es verdrängt. / Erst als du beschlossen hast / es auszuziehen / erinnerte ich mich mit Angst daran. / Und sofort fragte ich mich: / ‚Warum mit Angst? / Es ist nur ein Kleid / obwohl die Leute so viele Jahrzehnte lang / glaubten, das seist du‘“. (S. 7) Auch ohne sichtbar zu sein, ist der Tote anwesend in einer Lichtaura, umarmt die Lebende und wärmt sie, und wenn Schnee fällt, zeichnet dieser den Unsichtbaren in Umrissen nach. Die psychische Nähe war schon zuvor wichtiger als die körperliche, sodass „wir entdecken / dass die Seele uns immer enger band / als das Blut“. (S. 11) 

Die Gedichte verraten eine große Innigkeit, die die Beziehung des Paares zu Lebzeiten prägte: „Ich erinnere mich, dass ich mich einmal fragte / ob wir zwei Schutzengel haben. / Da wir immer zusammen sind, / wäre es bloße Verschwendung. / Einer für uns hätte genügt. / Es kam mir nie in den Sinn / dass wir uns trennen könnten / und so der Engel / gezwungen wäre / zwischen uns beiden zu wählen / oder dass einer von uns verzichten müsste. / Sag es ganz offen, / bereust du nicht, ihn mir zu überlassen / nur mir allein?“. (S. 9) Engel finden sich immer wieder im literarischen Werk der Dichterin, in älteren Texten auch in Hosentaschen von Berufskollegen oder in der Aktentasche einer Philosophieprofessorin, wo sie anders als hier entlarven oder verunsichern. 

Das Ich wünschte, es wäre wenigstens einen Augenblick wieder mit dem Partner vereint: „Wir treffen uns wie in einer hohlen Kugel / aus Seifenwasser / die aufzublasen / mir manchmal gelingt / glänzend, durchsichtig / mit uns darin strahlend vor Glück / und wissend: es ist nur für ein paar Sekunden. / Alles ist so seltsam / dass, wer weiß, ob dort / eine Sekunde / nicht Millennien dauert …“. (S. 19) Was für eine wunderbare Vorstellung! 

Natürlich spricht das lyrische Ich mit dem verstorbenen Du, fragt, wo es sei, wie es ihm gehe dort im Jenseits, es fragt philosophisch nach dem Unterschied zwischen Sein und Nichtsein, nach dem Verschwinden von Stunden. Es macht sich Gedanken über den Eintritt des Todes und den Übertritt in eine andere Welt – „wie durch eine durchsichtig gewordene Wand / unbemerkt von dir selbst / und dann / weißt du nicht mehr / den Weg zurück“. (S. 117) Es sinniert über das Jenseits, wie das Dasein dort sein mag, über die Sicht der Toten, ob sie dort noch vom Leben wüssten. 

Aber viele Fragen werden zu spät gestellt, wenn derjenige oder diejenige bereits tot ist. Überhaupt sterben immer nur die anderen, die Eltern, die Freunde, es betrifft einen höchstens indirekt und plötzlich ist das Alter erreicht, wo wie in einem Krimi von Agatha Christie einer nach dem anderen aus dem Kreis der Lebenden scheidet. 

Den Umschlag des Bandes ziert ein wunderbar stimmungsvolles und zu den Texten passendes Bild von Mihai Criste, Toamnă sentimentală [Sentimentaler Herbst]. Auf einem Weg, gesäumt von bunten Blättern und einem Baum, mit herbstlichem Laub geschmückt, ist ein Paar mit einem Regenschirm unterwegs, geformt allein durch die Anordnung von Blättern. Es nimmt Bezug auf Zeilen wie „Der sinnlosen Zeit zerfiel das Laub / in tausend Blätter“. (S. 15) Das Paar, auseinandergerissen durch den Tod, findet zurück zu einem – neu zusammengesetzten – Wesen, einem „Pflanzenpaar“. (S. 15) Ob es auch dort Jahreszeiten gibt? Der Kreislauf der Natur vermittelte auch in früheren Gedichten Blandianas Kraft und Erdung sowie Trost im Angesicht der menschlichen Vergänglichkeit. Das Einssein mit der Natur, mit ihrem Werden und Vergehen – eine Konstante im lyrischen Werk von Ana Blandiana – findet sich nun auch hier wieder. 

Die Gedichte sind leicht zu erschließen, sie stellen ungewöhnliche, aber nachvollziehbare Fragen, legen verständliche Gefühle frei und machen Mut in einem Zustand tiefster Verzweiflung. Gerade Trauernde dürften hier Trost finden. 

Ruxandra Niculescu hat ein überaus kompetentes Nachwort hinzugefügt, in dem sie die Dichterin in der Weltliteratur und Zeitgeschichte verortet und auf die Spezifik ihres dichterischen Werkes zwischen Dionysischem und Apollinischem verweist. Wärmstens wird die Lektüre dieses kleinen Werkes empfohlen.