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Anton Sterbling: Ende einer Pandemie und weitere Erzählungen / Dagmar Dusil: Entblätterte Zeit | Rezension

Die Universalität menschlicher Schicksale 

Anton Sterbling: Ende einer Pandemie und weitere Erzählungen. Ludwigsburg: Pop Verlag 2022. 182 S. 

Dagmar Dusil: Entblätterte Zeit. Kurzgeschichten. Ludwigsburg: Pop Verlag 2022. 194 S. 

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Von Katharina Kilzer

 

Kann man Zeitgeschichte fiktionalisieren und eine – medizinisch und wissenschaftlich – noch nicht aufgearbeitete Pandemie und Krise zum Gegenstand einer Erzählung machen? Diese Frage stellt man sich bei den neuen Erzählbänden der aus Siebenbürgen stammenden Autorin Dagmar Dusil (Hermannstadt, rum. Sibiu) und des Banater Autors Anton Sterbling (Großsanktnikolaus, rum. Sânnicolau Mare). Die Antwort liefern ihre Titel selbst. Anton Sterbling, Professor der Soziologie, Wissenschaftler und Literat, nannte den Band Ende einer Pandemie und weitere Erzählungen. Dagmar Dusil spielt mit der Metapher Entblätterte Zeit nicht allein auf die Pandemie an, sondern auf die dunklen Seiten der Geschichte und auf die Brüchigkeit unserer Zeit. Dusil sammelt Geschichten über das Leben in achtzehn Erzählungen und Sterbling in vier. 

Sterbling, als Mitbegründer der Aktionsgruppe Banat bekannt, scheint in seiner ausgeklügelten Erzählkunst durch: Seine Figuren schaukeln sich aneinander in Konflikten und Situationen hoch wie etwa in Dorina, Der Aktivist, Ende einer Pandemie und Im Zug an der Grenze oder Undine geht wieder, um in der realen Welt anzukommen, wo der Untergang sich leise vollzieht. Seine Erzählungen sind verschachtelt und durch immer wieder auftretende Motive wie die schwarze Katze oder den Mönch vom Balkan verbunden. Wie in seinen vorherigen im Ludwigsburger Pop Verlag erschienenen Erzählbänden Die versunkene Republik (2020) und Klimadelirium und andere furchtbare Erzählungen (2021) ist auch hier der Autor manchmal sein eigener Protagonist. In der Titelerzählung Ende einer Pandemie hat er sich für eine weibliche Ich-Erzählerin entschieden, die ihre Ehekrise mitten in der Pandemie beschreibt. Das Leben in einer abgeschiedenen Ferienwohnung, wohin sich die Frau zurückzieht und Bilder malt, mündet in Chaos und Surreales. Die Verzweifelte, die sich von ihrem Mann wegen einer anderen Frau getrennt hat, beschreibt ihre schwierige Lage, die einem Spuk gleicht, wie ein Bild aus der Schule Francisco de Goyas: schwarz. In Der Aktivist schildert der Ich-Erzähler, Sohn deutschstämmiger Eltern, die in den 1970er-Jahren von Rumänien nach Deutschland aussiedeln, Einzelheiten über seine Herkunft, den Ort und das Land. Als Querschnittsgelähmter kehrt er im Sommer zurück in die „abgelegene Ecke, am Rande Mitteleuropas“, in „das Kleinstädtchen in der Tiefebene“ (S. 44f.), wo seine Großeltern lebten. Er blickt zurück, wie er als Globalisierungsgegner nach einem Unfall bei einer Protestaktion querschnittsgelähmt bleibt und seine Weltanschauung hinterfragt, die sich auf Marx, Marcuse und „auf einen weitgehend unbekannten Soziologen namens Anton Sterbling, der ein umfangreiches Werk zur Modernisierung und Krise der abendländischen Spätmoderne vorgelegt hat“ (S. 72), beruft. Die Wandlung ist unfallbedingt. Eine Erkenntnis gilt seiner Fehleinschätzung der Bewegung von Atomgegnern während der Friedensbewegung der 1980er-Jahre in Deutschland. Wie auch in den anderen Erzählbänden nährt sich das literarische Werk Sterblings aus den Erlebnissen seiner Jugend, der Studentenzeit, der Flucht aus dem Geburtsland sowie aus den Traditionen, dem Sozialverhalten und den alten Geschichten des Balkans. Obwohl Sterbling oft Kenntnisse der Geschichte und Kultur des Balkans voraussetzt, erhält der Leser dennoch ein gesellschaftliches Gesamtbild. Das Ende der Erzählungen bleibt offen und ist zum Weiterdenken bestimmt. In seinen Vorbemerkungen heißt es dazu, seine Erzählungen hätten „mit der ‚sozialen Wirklichkeit‘, die selbst eine sehr komplizierte, vielschichtige und mitunter schwer erkennbare und durchschaubare […] Sinngegebenheit ist […], nur beiläufig etwas zu tun“. (S. 912). Er bezieht sich auf Herta Müllers Verständnis der „erfundenen Wirklichkeit“. (S. 8) Die letzte Erzählung des Bandes Im Zug an der Grenze oder Undine geht wieder – kursiv gestellt (S. 167) – ist ein Monolog mit Anklang an die Erzählung Ingeborg Bachmanns Undine geht. Bei Sterbling ist es die Aussage eines „Zugführers“, eines Ich-Erzählers, der zwischen Realität und Fantasie schwebt. Beide sind kompatibel: Erinnerung wechselt mit Vorstellungskraft. Dem Zugführer begegnet Undine abwechselnd als Mädchen, Geliebte oder alte Frau. Ist Undine ein Selbstbekenntnis oder die soziale Wirklichkeit in der Geschichte, wie sie bei Bachmann die Kunst ist? Das zu deuten, bleibt dem Leser überlassen. Sterbling lässt es offen und am Ende findet sich der Erzähler in der Realität wieder. 

Ein Gespür für die Symbole einer Epoche, für die dunkle Seite der Geschichte ist beiden Autoren zu eigen. Sie zeichnen ein Bild davon, wie diese Welt funktioniert, wie zwischenmenschliche Beziehungen zerbrechen, Zwangssysteme wirken, wie Glück und Leid zusammenkommen. Die Einzelschicksale, besonders oft bei Dusil im Fokus, sind häufig eingebettet in soziale Missstände sowie aktuelle gesellschaftliche Gegebenheiten wie den Umbruch nach dem Zusammenbruch des Kommunismus oder neuere Verwerfungen der Gesellschaft. 

Die vielfach ausgezeichnete Autorin aus Hermannstadt hat Gedichte und Miniaturen veröffentlicht und sich als Dorfschreiberin von Katzendorf sowie mit den Geschichten in Blick zurück durchs Küchenfenster (Edition Lebenslinien, 2001) und So is(s)t Hermannstadt (Pop Verlag, 2019) ihrer Heimat gewidmet. Ihre Erzählungen variieren von Kindheitserinnerungen (Siebenschläfer, Der Geschmack des Mondes) über Krankheiten (Der Ruf der Irrlichter), Beziehungsenttäuschungen (Der Wortmagier, Das Spiegelbild), Gesellschaftstableaus (Liberty, Das Paket) bis hin zu Kriminalistischem. Im Zeitraffer wendet sie sich mutig auch aktuellen Themen zu wie etwa in der Erzählung Gefangen im Glück des Smartphones (S. 58), die die Wünsche eines Kindes ausdrücken, dessen Mutter Erdbeerpflückerin im Ausland ist. Auch die Mühen eines Pflegeberufs (An der Brücke, S. 82) sind spannender Erzählgrund. Ihre Geschichten halten den Moment, das Ereignis, die Stille nach dem Zusammenbruch fest. Die Stille, bevor wieder ein Geräusch zu hören ist. Der Augenblick, den Dusils Prosa eröffnet, ist ein Innehalten auf ungewisse Zeit, bevor etwas weitergeht, oder der Wunsch, dass es „niemals Morgen werde“ in Und kleiner werdende Brocken Stille. (S. 102) Schicksale wie das des irrlichternden Jans in der Eröffnungserzählung Der Ruf der Irrlichter (S. 8) oder des Obdachlosen in Der Wettermacher (S. 112), des gescheiterten Schauspielers in Die Lichter der Stadt (S. 120) oder des Aussiedlers beim Ankommen in einer neuen Heimat in Intarsienleben (S. 130) werden in ihrer ganzen emotionalen Verdichtung erzählt. Die Verlusterfahrungen sind jedoch keineswegs nur als Schicksal dargestellt, sondern mit dem Wunsch nach Überwindung, Neuanfang, Vergessen verbunden. Die menschlichen Schicksale werden in ihrer Universalität/Allgemeingültigkeit (als Ich-Figur oder Er-Erzählung) betrachtet. Es begeistern die feinfühligen Beschreibungen heimischer Landschaften und Stimmungen: „Die Straße lag wie eine Rennstrecke vor mir. Der Kirchturm schien sich zwischen die Dächer der Häuser zu drängen. Die Rollläden der Häuser waren heruntergelassen, die Stille klebte auf dem Boden, und nur ich konnte sie durcheinanderwirbeln“. (S. 23) „Es schien ein Sommer ohne Ende zu sein. Dicke Maulbeeren bewegten sich auf ihre Reife zu. Der Fischer stand an den Spätnachmittagen am Gartentor […] Zu Beginn des Herbstes verließ er das Fischerdorf. Schwalben saßen aufgereiht wie Sommertage auf den Drähten der Telegrafenmasten. Und folgen dann in den Süden.“ (S. 192f.) 

Dagmar Dusil bevorzugt Kurzprosa. Die Geschichten sind nur einige Seiten lang und ihre Sprache ist melodisch und poetisch mit pointierten Beschreibungen ihrer siebenbürgischen Heimat, aber auch Deutschlands. Landschaft, Sitten und Traditionen oder Gepflogenheiten der Menschen werden liebevoll gezeichnet mit auto-fiktionalen Hinweisen. Die Unschärfe zwischen Autofiktion und Autobiografie ergibt sich wie bei Sterbling aus der Erzähltechnik. Denn ob ein Dichter in der „Wir“-, „Du“- oder „Er“-Form schreibt, es ist immer dieses verkappte oder erweiterte Ich, das erzählt. Auch falls sie nur in einem kleinen Kreis aufgenommen werden, tragen beide mit ihren Erzählungen dazu bei, wichtige Wegmarken in der Geschichte der deutschen Minderheit Rumäniens zu setzen.