Zum Inhalt springen
Start » Online-Artikel » Rubriken » Wissenschaft » Rezensionen » Attila Bombitz, Christoph Leitgeb, Lukas Marcel Vosicky (Hgg.): Frachtbriefe: Zur Rezeption österreichischer Gegenwartsliteratur in Mitteleuropa | Rezension

Attila Bombitz, Christoph Leitgeb, Lukas Marcel Vosicky (Hgg.): Frachtbriefe: Zur Rezeption österreichischer Gegenwartsliteratur in Mitteleuropa | Rezension

PDF-Download 

Attila Bombitz, Christoph Leitgeb, Lukas Marcel Vosicky (Hgg.): Frachtbriefe: Zur Rezeption österreichischer Gegenwartsliteratur in Mitteleuropa. Wien: new academic press 2022. 407 S.

Was verrät die Rezeption zeitgenössischer österreichischer Literatur in Mitteleuropa über die vielfältigen kulturellen, sozialen und historischen Verflechtungen des österreichischen und mitteleuropäischen Raums? Die einundzwanzig in diesem Band versammelten Beiträge dienen zur Beantwortung dieser Frage und gleichzeitig zu einer differenzierten Erklärung der Tatsache, dass es sich in den besprochenen Spracharealen um ein breites Spektrum an unterschiedlichen und keineswegs kongruenten Rezeptionen österreichischer Texte handelt. Mittels nuancierter Analysen von an den Zielkontext angepassten Vermittlungstätigkeiten wie Übersetzungsmodellen geben die Autorinnen und Autoren Aufschluss über lebendige Initiativen, Alltagskultur, das Kolorit der Erinnerungsarbeit in mittel-, ost- und südosteuropäischen Literaturlandschaften und vermögen in einem nächsten Schritt somit auf Symmetrien und Asymmetrien in dieser Konstellation zu verweisen.

Der passend gewählte Titel, der auf die Funktionen des Frachtbriefes durch Beleuchtung der Wirkmacht des österreichischen Ausgangskontextes einerseits und andererseits der soziokulturellen Interessenlage im Aufnahmekontext anspielt, zielt darauf ab, möglichst viele Facetten der Übersetzungspraktiken abzubilden. So fächert sich das Sammelwerk nach einem ausführlichen einleitenden Aufsatz der Herausgeber in fünf nach Themenschwerpunkten geordnete Abschnitte auf. Eröffnet wird es mit einem Überblick über die Aufnahme der neueren österreichischen Literatur in Ungarn von Miklós Györffy. Selbst ehemaliger Übersetzer und Verlagslektor, schildert Györffy seine unmittelbare subjektive Wahrnehmung der Übertragungsmechanismen anhand der Tätigkeitsbereiche des Európa und des Magvető Verlags und anderer neuerer Plattformen. Er kommt zu dem Schluss, dass nach dem Fall des Kommunismus sich tendenziell ein Ungleichgewicht zwischen der Rezeption moderner Klassiker und zeitgenössischer Autoren aufspüren lässt. Er führt aus, dass erfolgreiche Autoren (Glavinic, Menasse, Ransmayr und andere) einfacher Zugang zu einem breiten Lesepublikum erhalten, während andere Namen wie Handke, Haushofer oder Streeruwitz einer ungarischen Öffentlichkeit womöglich schwerer zu vermitteln sind. Die folgenden drei Beiträge legen den Fokus auf die spezifischen Merkmale der Rezeptionsvorgänge in verschiedenen Ländern Ost- und Südosteuropas. So widmet sich Jaroslaw Lopuschankyj dem ukrainischen Sprachareal seit 1991, und da sowohl die Institutionen und die Vermittlungskanäle als auch die Sichtbarkeit der Übersetzer offensichtlich einen beachtlichen Einfluss auf den Aufnahmekontext haben, verweist sein historischer Überblick darauf. Hierfür unterstreicht er die strategische Tragweite der aktiven Verlagslandschaft im Lande, der gezielten Förderung ukrainischer Übersetzungen durch Foren aus Österreich, die zudem durch Veranstaltungen der Kulturszene unterstützt werden. Vermöge dieser kulturübergreifenden Aspekte, die sich nicht nur auf die literarischen Übersetzungen wesentlich auswirken, sondern auch auf den Austausch auf künstlerischer und wissenschaftlicher Ebene, wird ein Panorama der ukrainischen Rezeptionslage in den letzten Jahrzehnten entworfen. In ihrer Studie mit Schwerpunkt auf den belarussischen Literaturraum konzentriert sich Volha Hronskaya auf die interkulturelle Kommunikation im Sinne des Bachtinischen Dialogizitätskonzeptes von Wort und Kultur und auf dieser Grundlage wird das konkrete belarussische Feld bezüglich der Rezeption österreichischer Literatur beschrieben. In diesem Zusammenhang berücksichtigt Hronskaya neben der regen Tätigkeit der Literaturzeitschriften auch den wissenschaftlichen Diskurs und die hier thematisierte Suche nach Identität und Heimat, die Abgrenzung des Eigenen vom Fremden, um Berührungspunkte zwischen der österreichischen und der belarussischen Kultur, ja sogar typologische Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu stellen. Maja Razbojnikova-Frateva richtet ihr Augenmerk auf das Bulgarien der Jahre 2010-2021, indem sie ins Bulgarische übertragene Prosawerke in den Blick nimmt; des Weiteren untersucht sie sowohl die Reaktionen der Literaturkritik und des akademischen Bereichs als auch der breiten Öffentlichkeit, wodurch sie die intertextuelle, intermediale Bedeutung der zusätzlich eröffneten Lesarten begründet und sie als Indikator für die Weltoffenheit des analysierten Kulturraums deutet.

Die vier Beiträge im zweiten Abschnitt des Bandes behandeln das Verhältnis zwischen den komplexen Interessenfeldern und Erwartungshaltungen, nicht zuletzt auf der Ebene der spezifischen Maßnahmen im Literaturbetrieb, die über die bestehende oder fehlende Rezeption einer Autorin oder eines Autors Auskunft geben. Tymofiy Havryliv erörtert den schwierigen Rezeptionsprozess österreichischen Kulturguts in der Ukraine im Spiegel von drei bezeichnenden Phasen, die vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zur ukrainischen Unabhängigkeit reichen. In den Mittelpunkt seiner detaillierten und aufschlussreichen Analyse rückt er das österreichische Drama, sowohl in der Übersetzung als auch durch dessen mediale Präsenz auf der Bühne. Im Gegensatz zu den fehlenden Aufführungen von Thomas Bernhards Werken in der Ukraine widmet sich Eleonora Ringler-Pascu in ihrer Studie gerade dieser in Rumänien sehr erfolgreichen Rezeption. Als Germanistin, Theaterwissenschaftlerin und selbst Regie Mitführende unterstreicht sie die herausragende Position, die Bernhard auf den rumänischen Bühnen einnimmt, vor allem auf denen in Temeswar, einer Stadt, die die Multikulturalität Mitteleuropas in nuce verkörpert, selbst wenn man nur das Neben- und Miteinander eines deutschen, ungarischen und rumänischen Theaters in demselben Gebäude vor Augen hat. Ringler-Pascu bezieht sich hauptsächlich auf die Inszenierungen im deutschen Theater, die sowohl in der kommunistischen Zeit, aber in zunehmendem Maße nach 1989 von in der Presse gelobten Regisseurinnen und Regisseuren verantwortet wurden. Auch Zsuzsa Bognár nimmt die Literaturzeitschriften als Ausgangspunkt für ihren Beitrag über die Präsenz der österreichischen Gegenwartsliteratur in Ungarn. Hierbei setzt sie sich mit der engagierten Arbeit in den Redaktionen von Tiszatáj und Forrás auseinander und zeigt auf, wie die Aufmerksamkeit der Leserschaft, auch mithilfe der eingebrachten Ansichten österreichischer Germanisten, gezielt auf die neuen Übersetzungen gerichtet wird. Edit Kovács erweitert die Sicht auf die ungarische Rezeption und erläutert am Beispiel von Robert Seethaler, Clemens J. Setz und Xaver Bayer, wie die Literaturkritik als maßgebliches Instrument für Orientierung in der literarischen Öffentlichkeit zu sorgen vermag.

Der nachfolgende Teil eröffnet die Perspektive auf die österreichischen »Klassiker«. Attila Bombitz erkundet den gespaltenen Weg, auf dem Peter Handke Eingang in den ungarischen Aufnahmekontext erhält, und stellt fest, dass nach der frühen Rezeptionsphase Handkes, als sein innovativer Umgang mit Sprache von der Kritik mit Begeisterung aufgenommen wird und als Inspirationsquelle für Peter Esterházy oder Dezső Tandori dient, die Zeit nach der Wende ein verblassendes Interesse an seinem Werk widerspiegelt, das unter anderem auf seine Haltung zu den Jugoslawienkriegen zurückgeführt werden kann. Die bestehende Verwobenheit zwischen der österreichischen und der ungarischen Literatur wird weiter von Edit Király ergänzt; ihr Ziel ist es dabei gerade solche Interdependenzen auf Textebene am Beispiel von Peter Esterházys Werk Donau abwärts und den Bezugspunkten zu Claudio Magris’ Donau durch die herausgearbeiteten Images zu überprüfen. Die kulturproduktive Komponente der Übersetzungen wird ebenfalls von Ádám Szinger besprochen, wobei der Einfluss Thomas Bernhards auf Autoren wie Peter Esterházy, László Krasznahorkai und Imre Kértesz sich als entscheidend für die Etablierung des österreichischen Schriftstellers im ungarischen Raum erweist. Ferner verschiebt Beate Sommerfeld den Blickwinkel auf Polen und zeigt auf, welche tragende Rolle Thomas Bernhard auch für polnische Autoren wie Wojciech Kuczok, Hubert Klimko-Dobrzaniecki und Jacek Dehnel spielt, und kann somit die produktive, sei es manifeste oder latente, Rezeption erneut bestätigen. Nach den produktiven Verflechtungen zwischen Literaturen fragt auch Zoltán Szendi anhand des großen ungarischen Interesses für Ernst Jandl bis in die 1970er-Jahre, er fokussiert auf Übersetzungen, ständige Präsenz in Literaturzeitschriften und in Schullektüren, auch auf Spuren, die in die Texte hiesiger Autoren einfließen.

Der vierte Abschnitt des Sammelbandes rückt Kriegserfahrungen in den Fokus. Anna Majkiewicz stellt fest, dass Romane wie Gebürtig von Robert Schindel, Morbus Kitahara von Christoph Ransmayr oder Die Kinder der Toten von Elfriede Jelinek zwar in polnischer Übersetzung vorhanden seien, den Erwartungen des Publikums letztendlich aber nicht entsprächen, wodurch eine gewisse, in der polnischen Gesellschaft noch bestehende Tabuisierung von schwierigen Problemfeldern zum Ausdruck komme, zumal wenn es sich um einen »Blick von außen« handele. Magdolna Orosz reflektiert in ihrer Studie auf komplexe Familiengeschichten mit Väterfiguren im Mittelpunkt; insbesondere geht sie von einer Parallele zwischen Erzählungen von Arno Geiger, Peter Henisch und Eva Menasse aus, die sie als Folie für einen Vergleich mit ungarischen Texten von Peter Esterházy, Pál Závada und Krisztián Grecsó benutzt. Ihre Vorgehensweise, bei der die Übersetzung eine zentrale Rolle einnimmt, gibt Aufschluss über Analogien, Differenzen, aber auch über Begegnungen und gegenseitige Beeinflussungen zwischen den beiden Literaturen. Matjaž Birk und Anja Urekar Osvald zeichnen die Präsenz Maja Haderlaps in der öffentlichen Wahrnehmung in Slowenien nach, einer Autorin, die der slowenischen Minderheit in Kärnten angehört, zunächst auf Slowenisch veröffentlichte, sich aber dann beim Roman Engel des Vergessens für Deutsch entschied und folglich in Österreich wie in Slowenien rezipiert wird. Diese bereits erwähnten Anhaltspunkte zusammen mit der Perspektive der im Roman gewählten Kriegsdarstellung lassen Rückschlüsse auf ihre umstrittene Rezeption in der slowenischen Minderheit zu. Milka Car setzt sich mit der besonderen Stellung auseinander, die Norbert Gstrein innerhalb des kroatischen Raumes vor allem mit den Romanen Das Handwerk des Tötens und Die Winter im Süden einnimmt, sodass wichtige Erkenntnisse über eine textgebundene, auf symbolische Raumgestaltung sich stützende Rezeption gewonnen werden können. Sie merkt hierzu an, dass die wissenschaftlichen Studien sich vorwiegend aus den stofflich-thematischen und formal-ästhetischen Aspekten der Texte speisen, insbesondere in Anbetracht der Aktualität von Gstreins Kriegsdarstellungen in den postjugoslawischen Ländern.

Der von politischen und gesellschaftlichen Abhängigkeiten geprägte interkulturelle Dialog steht im Vordergrund des letzten Teils des Sammelwerks. Der Aufsatz von Zdeněk Pecka rückt den bilingualen Autor Michael Stavarič ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Hierbei geht dessen tschechische Herkunft mit seiner österreichischen Lebenswelt und der Verwendung der deutschen Sprache in der Prosa einher zulasten einer nur begrenzten Aufnahme in das tschechische Kulturumfeld, dies trotz der kreativen Übertragung seiner Texte durch die Schriftstellerin Radka Denemarková. Andrea Horváth erkundet in ihrem Aufsatz die begrenzte Rezeption der österreichischen Schriftstellerinnen Ingeborg Bachmann, Barbara Frischmuth und Elfriede Jelinek in Ungarn, die sie unter anderem darauf zurückführt, dass die Debatte um Frauenliteratur, weiblichen Schreibstil noch ungenügend in den Stand der wissenschaftlichen Forschung einbezogen sei. Entgegen einer guten Verbreitung der österreichischen Literatur von Frauen (Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Elfriede Jelinek, Marlene Streeruwitz) in Polen sowie des literarischen Werks von Barbara Frischmuth unterstreicht Joanna Ławnikowska-Koper ihre legitime, jedoch nur bedingte Präsenz, jedenfalls bei einem direkten Vergleich mit der Tragweite Frischmuths im deutschsprachigen Raum. Wiederum lässt sich die kritische Haltung zum Katholizismus in Die Klosterschule aufgrund der Erwartungen im polnischen Zielkontext als Indiz für deren äußerst bejahende Aufnahme deuten. Sławomir Piontek nimmt die polnische Rezeption der Texte Robert Menasses unter die Lupe, die er in zwei Phasen unterteilt. Als Wegmarke für diese Einordnung fungiert die Übersetzung des Essays Der Europäische Landbote aus dem Jahr 2013 sowie der Roman Die Hauptstadt mit den darin enthaltenen Europa-Ideen, die von breiten linken und liberalen Kreisen gewürdigt wurden und sogar das wissenschaftliche Interesse an seiner fiktionalen Prosa überstiegen. Diese Entwicklung steht im Gegensatz zu der ersten Rezeptionsperiode, als der Roman Selige Zeiten, brüchige Welt in Polen erschien und den Impuls zu einer wissenschaftlichen, vorwiegend aber in deutscher Sprache geführten Auseinandersetzung mit Menasses Werk gab.

Ausgehend von der raffinierten Sicht der Herausgeber auf die Aufsätze, die eine große Bandbreite an Übertragungsprozessen und -mechanismen schon im Vorfeld ankündigen, bietet das wegweisende Sammelwerk einen facettenreichen Querschnitt durch die komplexe sozio-kulturelle Befindlichkeit des mitteleuropäischen Sprachareals, das sich zugleich als dynamischer Kommunikationsraum erweist. Über Synchronizitäten und differenzierende Merkmale bilden die hier versammelten Aufsätze die transnationalen Verflechtungen in den analysierten spezifischen Kulturräumen ab, spüren den Reaktionen im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs im Zielkontext nach und verdichten die Erkenntnisse somit zu Tendenzen der Rezeptionsdynamiken in Mitteleuropa. Hierdurch wird nicht nur die Relevanz eines vielschichtigen Laboratoriums bestätigt, sondern gerade aufgrund dessen Hybridität Anlass zu weiteren Vergleichen gegeben.

Cristina Spinei

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 101-105.