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Iris Wolff u. a.: Der Augenblick nennt seinen Namen nicht | Rezension

Die Burg und die Sprache

Iris Wolff, Uwe Kolbe, Senthuran Varatharajah: Der Augenblick nennt seinen Namen nicht. Wartburg-Tagebücher. Salzburg, Wien: Otto Müller Verlag 2022. 167 S.

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Von Klaus Hübner

 

Martin Luther auf der Wartburg im Winter 1521/22 – ein starkes, seit 500 Jahren wirkmächtiges Inbild germanischer Kulturgeschichte. Die prächtige Burg über dem thüringischen Eisenach gilt bis heute als exemplarischer deutscher Erinnerungsort, nicht nur, aber vor allem für Luthers schöpferisches Ringen um die deutsche Sprache. Vom Deutschen ist in diesem Buch auch die Rede, doch vornehmlich geht es um das Wesen der Sprache schlechthin. Sie sei, auch Luther hat es gespürt und erfahren, im Grunde unverfügbar – sie entstehe aus Sprachlosigkeit, die in Wörter übersetzt werde, welche immer wieder auf das Schweigen zurückwiesen. Das jedenfalls meinen die mit der Luther-Bibel bestens vertrauten Schriftsteller, die 2021 auf die Wartburg eingeladen wurden, um Zwiesprache mit jenem Text zu halten, der die deutsche Schriftsprache ganz wesentlich geformt hat und bis heute nachwirkt. Warum ausgerechnet diese Autoren? Iris Wolff, Uwe Kolbe und Senthuran Varatharajah, alle drei mit namhaften Literaturpreisen ausgezeichnet, verbinde „ein ausgeprägtes, nicht nur poetologisches Interesse an kulturellen, philosophisch-theologischen und religionsgeschichtlichen Fragen“, betonen Thomas A. Seidel (Internationale Martin Luther Stiftung) und Michael Jahnke (Deutsche Bibelgesellschaft) in ihrem knappen Nachwort zu diesen Wartburg-Tagebüchern (S. 162). Das gilt auch für Iris Wolff, mit deren Beitrag Fische fangen – Unterwegs in der Sprache das Buch beginnt.

Die 1977 in Hermannstadt (rum. Sibiu, ung. Nagyszeben) in Siebenbürgen geborene, in Semlak (rum. Semlac, ung. Szemlak) im Banat aufgewachsene Schriftstellerin ist 1985 mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen. In den letzten Monaten gab es viel Lob für ihren vierten Roman Die Unschärfe der Welt (2020). In diesem Werk gibt es auch autopoetologische Passagen, die die Sprache und den literarischen Umgang mit ihr reflektierend umkreisen. Daran schließt ihr Wartburg-Text an. „Wer schreibt, sammelt Wörter“, lautet sein erster Satz (S. 9). Wörter haben vielleicht keine Wurzeln, aber sie haben einen Ursprung, wie Flüsse, und von dort aus springen und fließen sie weiter und verändern sich dabei. Wer wie Iris Wolff den Sprach- und Kulturraum gewechselt hat, musste für jeden Gegenstand, jede Empfindung und jede Tätigkeit neue Wörter erlernen. „Wörter haben ein Gedächtnis, weil gelebtes Leben, Erinnerungen mit ihnen verbunden sind.“ (S. 9). Zu jedem Sprachwechsel gehöre die Erfahrung, dass Sprache ein deutender Zugang zur Welt ist und dass jede Sprache andere Bilder für die Wirklichkeit hat. „Es macht einen Unterschied, ob Sonne, Mond oder Rose männlich oder weiblich sind, ob der Wind bläst, wie im Englischen, schlägt, wie im Rumänischen, oder weht, wie im Deutschen.“ (S. 9). Wer mit der Sprache präzise und kreativ umgehen möchte, müsse notgedrungen „ins Dunkle fassen“, zitiert Wolff die Ingolstädter Schriftstellerin Marieluise Fleißer (S. 20). Sie zitiert überhaupt viel in diesem kurzen Text, und immer sind es Autorinnen und Autoren, die entscheidende Anregungen für ihre eigene Poetologie gegeben haben. Wenn sie schreibt, Literatur sei „Ansturm gegen die Grenze, mit allem was man hat, unter Gefahr und Gefährdung“ (S. 22), beruft sie sich auf Franz Kafka, und wenn sie das literarische Schreiben als ein Fischen nach Brauchbarem „aus dem Durcheinander vieler Leben“ bezeichnet, zitiert sie den leider kaum noch gelesenen Schweizer Dichter Gerhard Meier (S. 23). Entscheidend bleibt: Wer literarisch tätig sein möchte, müsse sich zunächst auf das Schweigen einlassen, auf die Wirklichkeit der Erfahrung jenseits der Sprache. Am Schluss dieses klugen und anregenden Essays, der die zuvor in ihren vier Romanen sowie in Reden oder Interviews geäußerten poetologischen Reflexionen bündig zusammenfasst, schreibt Iris Wolff in Anlehnung an Ernst Bloch: „Sprache ist, ebenso wie Heimat, nichts anderes als ein Bald, ein Noch-nicht, ein Unterwegssein.“ (S. 37).

Der umfangreichste, in 28 Kurzkapitel aufgeteilte Wartburg-Text dieses Buches stammt von dem in Ost-Berlin geborenen und in der DDR aufgewachsenen Lyriker, Prosaautor und Essayisten Uwe Kolbe (Psalmen, 2017), der, wie der ihr gewidmete 17. Abschnitt zeigt, die Bücher von Iris Wolff kennt und schätzt. Es ist ein etwas disparater Text, aus dem die Kapitel 19 und 24 besonders hervorgehoben seien. Aus ihm sprechen sowohl sprachkünstlerisches Selbstbewusstsein – „Ja, ich gebrauche die Worte anders, als die liebe Verwandtschaft Worte gebraucht […]. Ich sage anderes, und ich sage es anders.“ (S. 63) – als auch, womöglich intensiviert an gerade „diesem deutschen Ort“, eine gehörige Portion Kulturpessimismus: „Erinnert euch gut an die Zeit um 1200. Erinnert euch, Leute, der Minne, der Schönheit des Gesangs, der Schönheit der Gesten. Alles ist seither nur immer gröber geworden.“ (S. 86f.). Der explizit nicht gläubige Dichter würdigt Martin Luther als kreativen Übersetzer, kann jedoch mit dessen Glaubensinbrunst wenig anfangen. Reformation hin oder her, Uwe Kolbe sieht die Geschichte als ständigen, sich immer weiter beschleunigenden Niedergang und stellt kategorisch fest: „Fortschritt wurde der andere Name für Tod.“ (S. 92).

Auch der in Oberfranken aufgewachsene tamilische Dichter Senthuran Varatharajah hält in seinem überaus lesenswerten Beitrag – die Abschnitte XIII und XIV sind besonders zu empfehlen – mit seiner Bewunderung der Übersetzungsleistung Martin Luthers nicht hinterm Berg. „Wir sprechen immer noch aus der Richtung, die Luthers Sprache einmal vorgab; in seinen Alliterationen, in seinen Bildern und Neologismen, in seinen Redewendungen; in seiner evangelischen Komposition.“ (S. 127). Wendungen wie „Schmach und Schande“, „Leib und Leben“, „Perlen vor die Säue“ oder „Ein Herz und eine Seele“ seien heute noch in Gebrauch, auch manche von Luther geschaffene Substantive wie „Ebenbild“, „Gewissensbisse“, „Machtwort“, „Schandfleck“ oder „Morgenland“. Intensiver als die beiden anderen Dichter lässt sich Varatharajah auf den Ort ihrer Sprachreflexionen ein, auf die „Wartburg als deutsche Mythologie“ (S. 130). Ort und Wort – da gibt es auch ganz andere Verbindungen als die gängigen: „Wenn ich an Eisenach denke, an diese Stadt, die zu meinen Füßen liegt, weil ich sie mit keinem Messer abschneiden kann, dann denke ich an den NSU […] Wir hießen ‚Asylantenschweine‘, ‚Dahergeschleifte‘, ‚Affen‘; alle N-Wörter. Wenn sie ‚haut ab‘ zu uns sagten, lag ich nachts im Bett und versuchte, mit meinen Zähnen meine Haut abzuziehen. Jedes Wort geht durchs Fleisch. Jedes Wort: wird immer wieder Fleisch werden.“ (S. 130f.).

Nein, diese Wartburg-Tagebücher taugen nicht für die Tourismuswerbung. Ihr Grundgestus ist das Nachdenken, die kritische und deshalb auch nicht immer angenehme Reflexion. Die Schwierigkeit, sie angemessen und womöglich auch noch schön in deutsche Sprache zu überführen, verbindet Iris Wolff, Uwe Kolbe und Senthuran Varatharajah mit Martin Luther. Entstanden ist eine Hommage an die Sprache und ihre Ausdruckskraft, die auch eine Mahnung ist vor falschem Umgang mit der unkontrollierbaren Macht der Wörter. Eine Hommage, als deren Voraussetzung und Hintergrund die Gewissheit aufscheint, dass es beinahe unmöglich ist, Erfahrung und Erkenntnis in Sprache zu übersetzen.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 246–248.