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Noémi Kiss: Balaton | Rezension

Der Balaton als Soziotop

Noémi Kiss: Balaton. Novellen. Aus dem Ungarischen von Éva Zádor. München: Europa Verlag 2021. 168 S.

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Von Silke Pasewalck

 

Der Balaton in den 1980er-Jahren: eine Ferienregion, wo sich Ost und West begegnen konnten. Doch wer besaß dort eine Villa mit Veranda, wer musste bei Bekannten unterkommen und wer konnte die Coca-Cola mitbringen? Die ungarische Schriftstellerin Noémi Kiss hat mit Balaton einen Erzählungsband mit viel Lokalkolorit und zugleich ein durch und durch antinostalgisches Buch über die spätsozialistischen Jahre geschrieben.

Was war der Plattensee für die heranwachsenden Mädchen, die Urlauberinnen und Urlauber aus der DDR, für die Leistungsschwimmerinnen und -schwimmer, die Eliten des nationalen Sports und für die Bademeister? Welche Urlaubsträume wurden hier erfüllt und welche waren nur die illusionäre Schicht über der rauen sozialistischen Wirklichkeit? Zwar ruft die Einbandgestaltung mit Emblemen des Badeurlaubs (ungarisches Original) und typischen Fotomotiven (deutsche Übersetzung) nostalgische Urlaubserinnerungen wach; beim näheren Hineinlesen wird indes rasch spürbar, dass sich die Geschichten nicht so recht mit diesem ersten Eindruck decken.

Die erste Novelle mit dem einprägsamen Titel Honeckerlatschen spielt zur Zeit der Wende. Sie erzählt aus der Perspektive eines Teenagers, wobei offen bleibt, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt. Das Ungarische kennt kein Genus und kann die Geschlechteridentität daher bewusst offenlassen – ein Charakteristikum des Originals, das Éva Zádor gekonnt in ihre deutsche Übersetzung überführt. Die politischen Zeitläufte werden im Blick der Jugend gebrochen, wo der Augenblick alles ist und die Ausreise der ostdeutschen Freundin nicht Freiheit, sondern Trennung und Verlust bedeutet: „Wenn wir wüssten, was für wundervolle Seen, Berge und Häuser da auf uns warteten, dann würden wir keinen Augenblick länger im Ostblock bleiben. Schade, dass wir nicht über die Grenze kommen könnten. Heidis Unterschrift fehlte auf der Postkarte. So eine Enttäuschung.“ (S. 15f.).

Wie aus Trotz bleibt das Buch aber dem Balaton treu; die folgenden 13 Novellen gehen in die Welt diesseits des Eisernen Vorhangs zurück; sie alle spielen in den 1980er-Jahren, zur Zeit des ungarischen Gulaschkommunismus. Die Geschichten sind lose aneinandergefügt und blenden in changierenden Erzählperspektiven in verschiedenste soziale Realitäten hinein. Unterschiedliche Schicksale werden präsentiert beziehungsweise skizziert, Kinder aus sogenannten sozial prekären Verhältnissen, privilegierte Sportfunktionäre, immer wieder soziale Randgestalten wie die Romafrau oder der homosexuelle Pulloverhersteller für den Privatsektor. Mit einem besonderen Sensorium für sozial Benachteiligte ausgestattet, schreibt Noémi Kiss über Rollen- und Geschlechterbilder, asymmetrische Beziehungen, Formen der Abhängigkeit, aber auch über Gewalt, Krankheit und Sterben. Der Balaton wird auf ungeschminkte Weise zum spätsozialistischen Soziotop. Dass die einzelnen Geschichten viel Orts- und Zeittypisches enthalten, verleiht ihnen eine reizvolle Plastizität, so zum Beispiel, wenn die Motive aufgezählt werden, die ein Kleinkünstler für die Balaton-Touristen zeichnet: „Nebeneinander klemmt er die in Prospekthüllen steckenden Porträts fest. Kohlezeichnungen von Tom und Jerry, von Kraftwerk. Die Toten Hosen und die schiefen Porträts von Thomas Anders, Boris Becker, Harald Schumacher, der Torwart, Beckenbauer, Puskás, Törőcsik, AC/DC und Rózsi, der Schlagersänger, die Bikini-Band und Krisztina Egerszegi. Als Letztes kommt der in einer zerrissenen Hülle steckende David Bowie zum Vorschein. Sein grünes Auge wie eine Traube aus Badacsony. Das Bild wollte noch nie jemand haben. Jetzt im Sommer gehen eher Monchici, Mickey Mouse und der Jackson gut weg.“ (S. 80f.). Bemerkenswert, dass neben ungarischen Idolen aus Sport und Musik gerade auch westdeutsche Stars am Plattensee eine so große Rolle als Projektionsfläche spielen.

Die Novelle Turner führt in die privilegierte Welt des Leistungssports mitsamt Funktionären und Familien, eine Welt, die in der Literatur immer noch vergleichsweise selten thematisiert wird. Noémi Kiss, als Kind und Jugendliche selbst Leistungsschwimmerin, kennt das System des staatssozialistischen Sports von innen und schafft en miniature ein Porträt der vom System gleichermaßen Ausgebeuteten wie Begünstigten: „Wer ist es, der das Land wenigstens für ein paar Tage verlassen darf? Je mehr Zeit vergeht, desto schwerer ist es, wenn sich keine Ergebnisse zeigen. Wenn kein Sieg zu verzeichnen ist. Selbst dann, wenn einem eingeredet wird, später auch mal faul am Ufer des Balaton oder im Garten der eigenen Datsche herumliegen zu können.“ (S. 19f.).

Die Balaton-Novellen lesen sich zu einem Gutteil als Kindheits- und Jugenderinnerung an den Großvater der Autorin, der als Arzt am See lebt und bei dem die Familie die Sommermonate verbringt. Sein Beruf ist es auch, der die Enkelin mit der ungeschönten Seite der Realität in Berührung bringt: etwa dann, wenn sie eine im See treibende Leiche entdecken oder durch Patienten oder gerichtsmedizinische Unterlagen mit Schicksalsschlägen hinter der sozialistischen Fassade konfrontiert werden.

Noémi Kiss ist hierzulande keine Unbekannte mehr; ihre Werke sind, bis auf wenige Ausnahmen, ins Deutsche übersetzt. Zudem schreibt sie in der ZEIT über das heutige Ungarn, stets aus sozialkritisch-feministischer Sicht. In ihren Erzähltexten erkundet sie Erfahrungsräume, die entweder marginalisiert oder tabuisiert sind: Reisen in vergessene Regionen im Osten Europas wie in ihren Reisereportagen Schäbiges Schmuckkästchen [Rongyos ékszerdoboz. Utazások keleten, 2009; dt. 2015][1] oder Aspekte der Mutterschaft, die öffentlich wenig Gehör finden, wie künstliche Befruchtung und ungewollte Kinderlosigkeit in ihrem Roman Dürre Engel [Sovány angyalok, 2015; dt. 2015]. Diesem Grundtenor schließt sich auch Kiss’ Balaton-Buch an, das dem größten Binnensee Mitteleuropas als historischer Monade ein literarisches Denkmal setzt. „Mit der DDR verschwand auch der Balaton“ – mit diesem Satz setzt der Novellenreigen ein, und er macht von Anfang an unmissverständlich klar, dass das hier geschilderte Leben der Vergangenheit angehört, dass die literarische Erinnerung daran, auch wenn sie die Kindheit und Jugend der 1974 geborenen Autorin betrifft, bei aller Detailtreue nicht mit einem nostalgischen Rückblick verwechselt werden darf.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 231–233.

 

[1] Die Reportagen dokumentieren Reisen in Gebiete, die heute in der Westukraine, in Rumänien und in Serbien liegen, nach Czernowitz, Galizien, Lemberg, in die Vojvodina und nach Siebenbürgen. Dr. Heinke Fabritius hat unlängst für die Siebenbürgische Zeitung ein Gespräch mit der Autorin geführt, in dem das Siebenbürgen-Bild eine zentrale Rolle spielt: <https://www.siebenbuerger.de/zeitung/artikel/kultur/21821-werkstattgespraeche-mit-heinke.html>, 5.12.2022.