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Michael Metzeltin, Oliver Jens Schmitt: Das Südosteuropa der Regionen | Rezension

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Michael Metzeltin, Oliver Jens Schmitt (Hgg.): Das Südosteuropa der Regionen. (Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Klasse, Bd. 858.) Wien: VÖAW 2015. 756S.

Von Borbála Zsuzsanna Török

Der Begriff Region gehört, genauso wie Nation und Nationalismus, zum Kernvokabular der Historiker und war ein beliebter Gegenstand kultur- und sozialgeschichtlicher Analysen in den zwei Jahrzehnten nach dem Ende des Kalten Krieges. Mit der EU-Erweiterung wurde es um das Thema etwas stiller; das Interesse galt nun größeren geografischen Einheiten wie Europa oder der ganzen Welt, die Imperien wurden wiederentdeckt. Der Band Das Südosteuropa der Regionen zeigt, wie oberflächlich und unvollständig unser Wissen über die Regionen auf unserem Kontinent ist; viele der im Band behandelten Gebiete sind außerhalb der eigenen Staatsgrenzen noch immer kaum bekannt.

Die Herausgeber des Bandes, Oliver Jens Schmitt und Michael Metzeltin, überraschen durch ihre pragmatische Herangehensweise; die Phänomenologie der Region wird nicht wie üblich von der Warte der Vergangenheit, sondern von der Gegenwartspolitik her aufgerollt. Das hat persönliche und fachliche Gründe. Zum Ersten betrachten die beiden aus der Schweiz stammenden Geisteswissenschaftler die hoch erfolgreiche Neuschöpfung »Regio Basiliensis« an der deutsch-französisch-schweizerischen Grenze als Inspiration und Ausgangspunkt für die Untersuchung. Zum Zweiten veranschaulicht gerade die Regionalisierungspolitik der EU, dass sub- und zwischenstaatliche territoriale Gebilde nicht für die Ewigkeit geschaffen worden sind; sie besitzen eine sichtbare historische Dynamik, potenziert durch ihre politisch-wirtschaftliche und kulturelle Ballungskraft. Laut der Europäischen Kommission sollten Regionen zur Dezentralisierung der Nationalstaaten beitragen, wovon wiederum mehr europäische Integration erwartet wurde. Für die Autoren ist weniger die Erkenntnis ausschlaggebend, dass dieses Ziel »nicht in der Gestalt Wirklichkeit geworden [ist], wie es in 1988 erhofft worden war« (S. 17), sondern die Tatsache, dass Fragen zur Tektonik der Regionen auch mit Blick auf die südosteuropäischen Staaten gestellt werden können und müssen. Das ist lobenswert, denn Form, Charakter und Funktion der Regionen in Südosteuropa sind hoch relevant, ob als Gegengewicht zum zentralisierenden Nationalstaat oder mit Blick auf den Zerfall Jugoslawiens bzw. die Aussichten der europäischen Integration auf diesem Teil des Kontinents.

Regionen werden als kleinere Gebiete über der lokalen und unterhalb der Staatsebene definiert – die Herausgeber grenzen sich ab von Deutungen der Geschichtsregionen als staatsübergreifende Meso-Einheiten (siehe weiter unten) –, die sich auch zwischen Staaten befinden können (die Studie von Flavius Solomon etwa zeigt, wie das Fürstentum Moldau über Jahrhunderte zwischen den konkurrierenden russischen, habsburgischen und osmanischen Großmächten immer wieder neu aufgeteilt wurde). Diese »kulturellen Raumstrukturen« konnten laut den Herausgebern das Erbe ihrer geografischen, sozialen und mancherorts verwaltungshistorischen Eigenständigkeit bis ins 19. und 20. Jahrhundert bewahren (die Studien über die Walachei von Daniel Ursprung, über Siebenbürgen von Florian Kührer-Wielach, über Slawonien und Syrmien von Ludwig Steindor, über die Vojvodina von Michael Portmann sowie den Kosovo von Eva Anne Frantz betonen die ehemaligen Verwaltungskompetenzen als zentral für die Erhaltung der regionalen Kohäsion).

Obwohl die Namen mancher südosteuropäischer Regionen wie Dalmatien (dargestellt in der Studie von Aleksandar Jakir und Marko Trogrlić), Thessalien (präsentiert von Antonis Rizos), Epirus (Oliver Jens Schmitt) oder Thrakien (bezeichnet als »eine wiederentdeckte Region auf dem Balkan« in der Studie von Mehmet Hacisalihoğlu) bis in die Antike zurückreichen, sind diese Einheiten fragil, ja, sie können sich ganz auflösen (wie etwa im Fall des antiken Thrakien, Thessalien, Epirus, Makedonien). Regionen können durchaus auf dem Reißbrett entstehen (die so genannten Planungsregionen wie die habsburgische Bukowina, präsentiert von Kurt Scharr, die vom Fürstentum Moldau abgetrennt wurde, oder der Sandschak von Novi Pazar). Die Studien zeugen auch davon, dass die Verschiebung der Grenzen, der territorialen Ausdehnung und der internen Gliederung eine Konstante und kein Ausnahmefall in der Geschichte der südosteuropäischen Regionen ist.

Die Geschichte des Begriffs Region wird hier auch aus der französischen geografischen Tradition abgeleitet, insbesondere in Anlehnung an die Humangeografie von Paul Vidal de la Blache. So wird die kulturhistorische Kohärenz menschlicher Lebenswelten als ein weiterer bestimmender Faktor herausgehoben, der die Konturen der Regionen schärfer oder schwächer hervortreten lässt. Das Kapitel über Šumadija, verfasst von der großen, verstorbenen Autorität südosteuropäischer Geschichte, Holm Sundhaussen, beschreibt beispielsweise eine »schwache« Region, die im kulturellen Gedächtnis Serbiens nur für kurze Zeit im 19. Jahrhundert aufleuchtete. Ein weiteres Beispiel sind jene »verschwundenen« antiken Gebiete südlich der Donau, die viele Jahrhunderte lang unter osmanischer Herrschaft standen.

In Anlehnung an Holm Sundhaussen betrachten die Autoren ihre Forschungsgegenstände aus einer »longue durée«-Perspektive und loten die eigene Geschichtsdynamik jeder Region in detaillierten Analysen aus. Je nach Entstehungszeit fallen die südosteuropäischen Regionen in die Kategorie der Antike (Dalmatien, Epirus, Thessalien, Makedonien, Thrakien), des Mittelalters (Slawonien-Syrmien, Herzegowina – beschrieben von Hannes Grandits –, Siebenbürgen, Moldau und Walachei) oder des Zeitalters der Nationalstaaten (Bukowina, Kosovo, Sandschak von Novi Pazar – präsentiert von Krysztof Zalewski – und Vojvodina). Bulgarien sowie die erwähnte Šumadija werden zu Vergleichszwecken herangezogen bzw. analysiert, da ihre »Regionalität« gegen null tendiert.

Regionalität wird im Band auch als politischer Diskurs verstanden. Die Fallstudien erforschen die Verbindungen der regionalen Identifikationen mit politischen »claims« auf intraregionaler und staatlicher Ebene sowie in der europäischen/internationalen Öffentlichkeit. Regionale Solidarität konnte von ihren Gegnern als Gefahr für die staatliche Integrität verstanden werden, was in den meisten multiethnischen Gegenden Südosteuropas bis heute zutrifft. Die Zuwanderung allogener Populationsschichten in die ethnisch-sprachlich-religiös gemischten Reiche trug zur Herausbildung konkurrierender Nationalismen bei, was wiederum die regionalen Bewegungen aufspaltete, oft instrumentalisierte und die Furcht vor dem Regionalismus der »anderen« Ethnie(n) oder Konfession(en) verstärkte. Fast ausnahmslos zeigen die Fallstudien, wie regionale Bewegungen einer ethnischen Minderheit in der Zwischenkriegszeit als staatsuntergrabende Autonomiebestrebung oder sogar als Irredenta in den Augen der Mehrheit erschienen (siehe auch S. 33). Das Ergebnis ist auch heute deutlich zu spüren: Regionale Strategien werden von den südosteuropäischen Mehrheitsgesellschaften und Regierungen überwiegend als Trojanische Pferde der feindlich gestellten Minderheiten und ihrer »externen Heimatländer« beäugt. Diese verbreitete indirekte Ablehnung ist vielleicht der wichtigste Grund, warum Regionalismen hier so schwach ausgeprägt sind.

Dass Regionen nicht primär destabilisieren, sondern eine sinnvolle politische Ergänzung zum Nationalstaat bilden können, lässt sich anhand der Fallstudien nicht positiv belegen. Gerade die Langzeitperspektive zeigt, dass sich öfter Regionalismus und Nationalismus verbanden, um territoriale Abspaltung und neue Staatsbildung zu befördern – der Zerfall Jugoslawiens und die Entstehung des Kosovo sollen als jüngstes Beispiel dafür stehen. In diesem Prozess spielten die internationale Diplomatie, das wissenschaftliche Interesse oder die exotisierende Abenteuerlust des »gebildeten« europäischen Auslandes oft eine legitimierende Rolle. An diesem Punkt drängt sich der Wunsch auf nach einer Auseinandersetzung darüber, wie sich die heutigen EU-Regionalisierungsmaßnahmen mit den historischen Erfahrungen vor Ort vertragen – vielleicht ein Thema für einen Nachfolgeband.

Die Einleitung definiert den Interpretationsraum Südosteuropa pragmatisch als »geographische Großeinheit und damit lediglich den räumlichen Rahmen der Analyse« und nicht als »eigene Geschichtsregion oder geographische Deutungseinheit« (S. 9). Bei allem Verständnis für die Übersättigung an den Debatten der 1990er-Jahre über »den Balkan«, »Osteuropa« oder »Mitteleuropa« (die relevante Literatur wird in den Fußnoten angeführt) hätte sich die Rezensentin an dieser Stelle aufgrund der neueren Imperiengeschichte doch mehr Reflexion über Südosteuropa gewünscht, vor allem bezüglich seines »Übergangscharakters« als Interferenzraum zwischen den ehemaligen habsburgischen, russischen und osmanischen Reichen. Denn eine der wichtigsten empirischen Erkenntnisse des Bandes zielt auf die geografischen Unterschiede der imperialen Erben ab: Während die habsburgische und venezianische Herrschaft im Norden das Regionalbewusstsein politisch und infrastrukturell unterstützte, hinterließ die lange osmanische Herrschaft im Süden keine prägenden Regionsstrukturen. Die Auswirkungen zeigten sich in der zentralisierenden Politik der späteren Nationalstaaten mit »null Valenz« des regionalen Denkens in Bulgarien und Griechenland oder als sehr problematisch und konfliktbeladen in Rumänien.

Der mit großem wissenschaftlichem Aufwand dokumentierte Sammelband hat Handbuchcharakter. Obwohl die Länge der Fallstudien unterschiedlich ausfällt, erleichtert die angestrebte strukturelle Gleichförmigkeit der sechzehn Beiträge methodisch den Vergleich. Jede Region wird in ihren historischen Kontext gestellt; neben der institutions-, gesellschafts- und politikgeschichtlichen Dynamik wird auf die Selbst- und Außenwahrnehmungen eingegangen. Eine oder mehrere Landkarten nach den Fallstudien und ein Namens- und Ortsverzeichnis (erstellt von Konrad Petrovszky) dienen der Orientierung, sodass der Band auch als Unterrichts- und Lehrmaterial Erfolg versprechend eingesetzt werden kann.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2019), Jg. 14 (68), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 112–115.

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