Zum Inhalt springen
Start » Online-Artikel » Ausgaben » Ausgabe 2022.2 » Catalin Dorian Florescu: Der Feuerturm | Rezension

Catalin Dorian Florescu: Der Feuerturm | Rezension

Feuer in Bukarest

Catalin Dorian Florescu: Der Feuerturm. Roman. München: Verlag C. H. Beck 2022. 361 S.

 

PDF-Download

Von Klaus Hübner

In seinem 16 Kapitel umfassenden achten Roman zeichnet der 1967 in Temeswar (rum. Timișoara) geborene Zürcher Schriftsteller Catalin Dorian Florescu ein buntes, aber auch bedrückendes Bild der rumänischen Hauptstadt. „Wie eine Faust“ umschloss im Jahr 1592 ein dichter Wald jene kleine Stadt, die sich Schritt für Schritt zur Metropole Bukarest (rum. București oder Bucureșci) entwickeln sollte. „Ob es die Hand Gottes war oder die des Teufels, wusste niemand so genau“ (S. 5). Die zahlreichen Katastrophen, die die Geschichte der Stadt von Anfang an prägten, lassen aber eher vermuten, dass der Teufel letztlich die Oberhand behielt.

Die Welt sei nicht mehr als „eine Lichtung in einem unermesslich großen Wald, das Leben ein Grashalm auf dieser Lichtung, der jederzeit niedergetrampelt werden konnte“ (S. 6), heißt es gleich zu Beginn. Die Menschen kämpften sich Jahr für Jahr durch ihr irdisches Leben, und wenn sie die vielen blutigen Kriege und verheerenden Plünderungen, die beängstigenden Sonnenfinsternisse und zerstörerischen Stadtbrände überlebten, beginne alles wieder von vorn (S. 8). Das zyklische Geschichtsbild, das hier skizziert wird, und ein von Glauben und Aberglauben durchsetztes, keinesfalls rationalistisches Weltbild sind grundlegend für das Verständnis der im Wendewinter 1989/1990 endenden Geschehnisse des gesamten, a-chronologisch und multiperspektivisch erzählten Romans.

In diesem liebenswert-chaotischen, von extremen Wechselfällen der Geschichte gezeichneten Bukarest agieren die männlichen Mitglieder der Familie Stoica seit dem 19. Jahrhundert mit Leib und Seele im Dienst des Gemeinwohls. „Wir sind eine Familie von Feuerwehrleuten, eine Dynastie, wenn man so will“ (S. 26). Ihr familiärer Erinnerungsort – und das zentrale Dingsymbol, das dem Text seinen Titel gibt – ist der 1892 errichtete Feuerturm, damals das höchste Gebäude weithin, das mehr als vier Jahrzehnte lang als Feuerwache diente. Zu tun hatten sie genug in dieser zwischen Okzident und Orient seltsam oszillierenden, ständig wachsenden und stets unruhigen Stadt. „Nichts war friedlich in Bucureșci, nichts war hier wie ein ruhiger Fluss, dem man sein Leben blind hätte anvertrauen können“ (S. 43). Das sehr humorvoll gezeichnete farbenfrohe Bild der pulsierenden Metropole, das der Autor allmählich und unaufdringlich entfaltet, lässt auf gründliche historische Recherche schließen – die Namen von Straßen und Gassen, von Firmen und Geschäften, von Gerichten und Alltagsprodukten stimmen, vor allem aber ist die Stimmung, die Atmosphäre, der Sound der Stadt eindrucksvoll eingefangen. Dazu gehören auch der grassierende Antisemitismus – alle politisch verfeindeten Parteien seien sich in diesem Punkt immer einig gewesen – sowie die oft ins Absurde kippenden Heiligenverehrungen. „Bucureșci hatte sich mit so vielen Heiligen eingelassen, dass die Stadt heiliger als Rom selbst hätte sein müssen“ (S. 58). Oft lässt Florescu die sogenannten einfachen Menschen erzählen, besonders die zahlreichen Mitglieder der keinem Gläschen Schnaps abgeneigten Familie Stoica. Auch wenn die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem die Zeit des Zweiten Weltkriegs, ausführlich dargestellt wird – im Zentrum von Florescus sprachgewaltiger Liebeserklärung und zugleich herber Abrechnung mit Bukarest stehen eindeutig die Jahre der kommunistischen Herrschaft: die in die 1960er-Jahre hineinreichende Ära des rigiden Stalinismus sowie die bleierne Zeit der Ceaușescu-Diktatur, als man „zwischen dem ewigen Kommen und Gehen des Stroms, des Wassers, des Gases, der Heizung, der Lebensmittel, der Hoffnung“ zu leben hatte (S. 146). Der einzige Fels in der ständig bedrohlichen Brandung der Zeiten – und zugleich ein Memorial für die vielen Toten des 20. Jahrhunderts – ist und bleibt der Feuerturm: „Mochten Armeen gekommen sein und die Stadt zermalmt haben, mochten Flugzeuge am Himmel aufgetaucht sein und sie in eine Kraterlandschaft verwandelt haben, mochten Rotarmisten oder Grünhemden sie terrorisiert haben, mögen die Kommunisten Bukarest verunstaltet haben, möge der Mensch vor Hunger und Unglück kriechen, der Turm würde alles stumm und gelassen erdulden. Denn alles schien ein Verfallsdatum zu haben, nur er nicht“ (S. 157).

Besonders eindringlich geschildert wird das Schicksal des 1932 geborenen Victor Stoica. Als Kind hatte er die Militärdiktatur und Judenverfolgung unter Antonescu und das von amerikanischen Luftangriffen begleitete Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt. „Bukarest versank in jenen Nachkriegsjahren nicht nur in Angst, sondern auch in Elend und Hunger“ (S. 275). In den späten 1940er-Jahren etablierten sich die Kommunisten. „Bald ging es mit den Verhaftungen los, aber auch das hielten wir noch für verständlich“ (S. 273). Victor entschließt sich, Geschichte zu studieren, während sein älterer Bruder Alex Feuerwehrmann bleibt und später „Securist“ wird. „Die goldene Zeit der Denunzianten hatte begonnen“ (S. 274). Anfang 1957 trifft es Victor – man verhaftet ihn im Hörsaal der Universität und wirft ihn als „Klassenfeind“ für sieben Jahre ins Gefängnis. Wie grausam es dort zuging, wie selbstverständlich dort tagtäglich gestorben wurde und wie man nur mit hartnäckigem Trotz, verbunden mit List und Tücke und einigem Glück, überleben konnte, wird detailliert und bewegend erzählt – bedrückende Gefängnisszenen, die mit der großen europäischen Kerker- und Lagerprosa des 20. Jahrhunderts allemal mithalten können.

Victor bleibt über 1964 hinaus gezeichnet – mit „Eigenheiten“ wie: „Dass ich nicht nur zu Hause, sondern auch auf Besuch die Essensreste und die Brotkrümel einsammle, genauso wie in der Zelle. Dass mich das Geräusch eines Schlüsselbundes erschreckt und ich, wenn mir jemand zu nahekommt, reflexartig den Arm hebe. Dass ich, wenn ich einen Streifenpolizisten sehe, zu zittern beginne und die Straßenseite wechseln muss“ (S. 144). Als er gebrochen und gedemütigt aus der Haft entlassen wird, hat er weder Freunde noch Arbeit – später darf er als zeitlebens armer, nur durch seine Ehefrau Magda getrösteter Schneider existieren. „Nichts würde sich ändern, und es genügte schon, wenn es nicht noch schlimmer würde“ (S. 221). Mit seiner Frau und der gemeinsamen Tochter Iana erlebt er die Perestroika-Epoche, den Aufstand von Temeswar und das Ende der Ceaușescus. Wird es endlich besser? „Der Securist hat Angst. Jetzt fange ich auch an, daran zu glauben“, stellt Victor fest (S. 226). Wurde es besser? Vielleicht. Aber richtig glücklich wird Victor niemals mehr. Ein Schicksal, das er, wie der Text sehr deutlich macht, mit vielen Bukarestern teilt. „Wir haben früh gelernt, bei Carol II., bei Antonescu, vielleicht noch früher, bei den Großgrundbesitzern, den Osmanen, den Russen, den Habsburgern, den Ungarn, wie wertvoll es ist zu schweigen. Es rettet Leben, in erster Linie das eigene. Sich zu ducken, in die Wälder zu flüchten, sich unsichtbar machen, klagen, ohne sich aufzulehnen, sich mit teuflischen Verhältnissen zu arrangieren, das hat dafür gesorgt, dass wir zwar erobert, aber nicht ausgelöscht wurden […] Die kommunistischen Führer waren nicht die Ersten, sie profitierten von einer langen Tradition der Fügsamkeit“ (S. 257f.). Aber es gab immer auch eine andere Tradition, und die wird im letzten Satz des Romans noch einmal beschworen. Denn selbst wenn er längst seine ursprüngliche Funktion verloren hat und nur noch als Museum existiert, galt immer und gilt weiterhin: „Der Turm schützt uns“ (S. 356).

Catalin Dorian Florescu kennt die Geschichte der Stadt Bukarest, die man mit einigem Recht auch als „Stafettenlauf der Diktatoren“ (S. 247) betrachten kann, in- und auswendig, und gelegentlich prunkt er ein wenig mit seinem profunden Wissen. Dennoch hat man nie den Eindruck, hier wolle jemand Stadtgeschichte oder gar Landeskunde romanhaft bebildern. Historie und Fiktion verschränken sich zu einem plausibel erzählten, dichten Romanteppich. Selbst wo Sarkasmus oder Komik zu ihrem Recht kommen – im Vordergrund stehen immer die Empathie mit den Figuren und Erzählstimmen sowie deren bisweilen fast zärtlicher, jedenfalls sehr menschlicher Humor. Man hat sich bestens unterhalten, und man hat viel gelernt – lässt sich Schöneres über einen historischen Roman sagen? Die Stadt Bukarest jedenfalls ist um ein bemerkenswertes literarisches Denkmal reicher.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2022), Jg. 17, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 251–253.