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Horst Samson: Der Tod ist noch am Leben | Rezension

Mit dem Tod auf der Bank

Horst Samson: Der Tod ist noch am Leben. Gedichte. Mit 23 Zeichnungen von Gert Fabritius. Ludwigsburg: Pop Verlag 2022. 206 S.

 

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Von Raluca Cernahoschi

„Was sage ich, was // Fange ich an, / Wenn der Tod eines Tages // Vor der Tür steht“ (S. 42) könnte die leitende Frage von Horst Samsons sechstem im Pop Verlag erschienenen Gedichtband sein (sieht man von der genreüberschreitenden Sammlung Heimat als Versuchung – Das nackte Leben ab). Oder aber die Frage danach, wie man als Lebender, Beteiligter oder Unbeteiligter, mit dem allgegenwärtigen Phänomen des Todes umgehen soll. Samsons Antwort ist ein Band, der mit und gegen den Tod spricht, aber auch für und durch ihn und der Auseinandersetzung letztendlich eine Art Optimismus für das Leben abgewinnt, was sich auch in Gert Fabritius‘ ironisch gebrochenen, farbenfrohen Illustrationen widerspiegelt.

Der Band vereint Gedichte aus fünf Jahrzehnten, manche davon früheren Bänden entnommen, die meisten aber nicht veröffentlichte Texte aus verschiedenen Lebensabschnitten des Autors, wobei Texte aus den letzten zehn Jahren überwiegen. Das Konzept des Bandes lädt indes weniger dazu ein, die Gedichte durch eine biografische Linse zu sichten, als es Samsons frühere Bände getan haben. Nichtdestotrotz können die dem Band vorangestellten, wenigen Anhaltspunkte aus dem Leben des 1954 während der Deportation der Eltern aus dem Banat in der unwirtlichen Tiefebene im Südwesten Rumäniens geborenen Dichters, der sich im Gedicht Tango Mortis – Ein Triptychon als „Steppenwolf / Vom Baragan“ (S. 117) vorstellt, die Texte stellenweise erhellen.

Ein tief in der Biografie des Autors verankerter Text ist das laut Notiz im Sommer 1986 konzipierte, dem Schriftsteller und Soziologen Anton Sterbling, einem Mitbegründer der regimekritischen Aktionsgruppe Banat gewidmete und bislang nicht veröffentlichte, mehrteilige Gedicht Verscharrte Zeit. Ode an die Grenze. Das Gedicht vermittelt in schonungsloser, unumwundener Sprache Angst und Verzweiflung einer unter (Publikations-)Verbot stehenden und mit Mord bedrohten Existenz, eine wichtige Ergänzung zu Samsons lyrischem Epos La Victoire (2003), das die Erfahrung des Autors unter der rumänischen Diktatur bis zu seiner Emigration 1987 verarbeitet. In den Gedichten Das Lied vom Tod und Das Zweite Lied vom Tod nimmt Samson das in La Victoire zentrale Motiv des Bahnhofs als Krisenheterotopie wieder auf, arbeitet den Nachklang der Grenzerfahrung über die Jahrzehnte hinweg aus.

Die Erfahrungsskala der im Band gesammelten Texte ist jedoch breiter. Zum persönlich Erlebten gesellt sich historisch Überliefertes, erwähnt werden Weltkrieg und Schoah, Kolonialismus und Kommunismus, Krebs und Covid, die Antike und unsere vernetzte Konsumgesellschaft. Östliche, westliche, südliche und nördliche Landschaften und die darin verwobenen menschlichen Schicksale wechseln sich ab. Der Tod erscheint in mannigfaltigen Schattierungen, von Vorahnung zu Gewissheit, vom quälenden Auslaufen der Minuten, dem langsamen Hinsiechen der Landschaften oder des Gedächtnisses zu plötzlichen, irreversiblen Einschnitten in die individuelle oder kollektive Geschichte. Dagegen wirken die allegorischen Repräsentationen des Todes, vom Mann mit der Sense zum Gentleman in Frack und Lackschuhen, weniger befriedigend.

Wiederkehrend ist auch das der Lyrik grundlegende Thema der Sprache, des Schreibens im Wettlauf mit der Zeit. „Niemals aufgeben, nichts, // Keinen Satz so lange du lebst“ (S. 7), spornt das Eingangsgedicht an, während Die Botschaft der Tauben die Angst davor artikuliert, nicht alles gesagt zu bekommen, bevor es zu spät ist: „Was sage ich, was // Fange ich an, / Wenn der Tod eines Tages // Vor der Tür steht, // Meine Brust aufbricht / Wie eine Kirchentür // Und eine Million Gedichte // In den Himmel flattern?“ (S. 42).

Doch die Sprache kann nicht immer dem Tod standhalten. Manchmal sind Wörter seine Verbündeten, sind doppelschneidig. „Getarnt als Einschläge“, machen sie aus dem Ich einen „potentielle[n] Mörder auf der Jagd nach Sprache“ (S. 7), heißt es im programmatischen ersten Gedicht des Bandes, das mit einem Zitat aus Goethes Faust an das Prekäre der menschlichen Behausung in der Welt erinnert. Wir zerreden die Geschichte und verlieren ihre Spuren „im nicht Beschreibbaren“ (S. 59). Oder die Sprache zerredet uns, bis wir nur noch Kopien unserer selbst, „schwer lesbar[e] Plagiat[e]“ (S. 97) sind, dem Verschwinden preisgegeben. Im auf die eigene Akte des rumänischen Geheimdienstes anspielenden Gedicht Verrat & Tod ist die Sprache ein Instrument des Terrors, der noch viele Jahre nach dem Entkommen der eigentlichen Bespitzelung durch die Securitate nachwirkt.

Wenn „Legenden, / Heldensagen und die Literatur“ (S. 28) bleiben, verwebt Samson Homer, Mallarmé, Apollinaire und Nietzsche, aber auch Miklós Radnóti, Fernando Pessoa und immer wieder Paul Celan als sprachliche, bildliche oder namentlich genannte Orientierungspunkte zu einer eigenen Mythologie. Auch bei Samson ist der Tod „natürlich / Ein Meister, ein Genie“, (S. 75) anderswo „ein Meister / Aus doitsche Lande in der Kommunikationsstrategie“ (S. 182), aber auch „[e]in Rächer / Aus Griechenland“ (S. 27). Das von der Vergangenheit gehetzte Ich ist ein neuzeitlicher Odysseus, beständig den Punkt suchend, an dem die Geschichte anfängt oder zumindest noch nicht untergeht.

Das letzte Wort richtet Samson an den Dichter und das literarische Alter Ego Guillaume Apollinaire. Es ist ein Wort der Hoffnung angesichts der Unzulänglichkeiten des menschlichen Wesens, das Hoffen auf eine leichte Überfahrt, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, vielleicht auch auf ein mildes Urteil der Nachwelt: „Ich bekreuzige mich, / Ungläubig und leicht / Trunken hoffe ich, / Dass uns die Sonne durchlässt, / Ohne uns die Gurgel zu durchschneiden / Für all das Vernichtende, / Was wir nicht verhindert haben“ (S. 186).

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2022), Jg. 17, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 259–261.