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Hilde Link: Die Weltreisenden | Rezension

Nicht „warum“, sondern „wie“

Hilde Link: Die Weltreisenden. Schleichwege zum Hass. Oral-History-Roman. Ulm: danube books 2021. 256 S.

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Von Ivica Leovac

 

Als ein desillusionierter ehemaliger Sprecher am Soldatenrundfunk Belgrad einen Neuanfang im Nachkriegsdeutschland wagte und unter dem Pseudonym Johannes Weidenheim 1956 seinen dritten Roman Treffpunkt jenseits der Schuld veröffentlichte, löste er heftige Kritik bei den Donauschwaben aus. Dieser begabte Erzähler aus Werbaß (sr. Vrbas) thematisierte nicht nur die Leiden seiner Landsleute seit 1944, sondern auch ihren Gesinnungswandel und schlechte Beziehungen zu den Serben und Juden vor dem Zweiten Weltkrieg. Damit wollte er Diskussionen auslösen, um eine Aussöhnung jenseits gegenseitiger Schuldvorwürfe nach dem Krieg in Gang zu setzen. Ihm wurde aber verzerrte literarische Darstellung der Donauschwaben vorgeworfen und behauptet, dass er wegen seiner politischen Wandlung nicht im Stande sei, unbefangen über das donauschwäbische Schicksal zu schreiben.[1]

Weidenheim und die meisten Kriegszeugen sind nicht mehr unter uns, doch die donauschwäbische Tragödie wirkt über ihre Generation hinaus und inspiriert zeitgenössische Autoren, die keine eigenen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg haben. Deshalb befragen sie Zeitzeugen oder reflektieren ihre Familiengeschichten im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen.[2] Auf diese Weise verfasste auch die renommierte Ethnologin Hilde Link ihren Oral-History-Roman Die Weltreisenden. Schleichwege zum Hass. Der Roman besteht aus über 40 gut miteinander verknüpften Kleinkapiteln, in denen historische Fakten zitiert und im Literaturverzeichnis verdeutlicht werden. Diese Tatsachen verwebt die Autorin mit Erinnerungen der Zeitzeugen und verdichtet sie zu einer fiktiven und spannenden Geschichte des Heimatortes ihrer Vorfahren, Rudolfsgnad (sr. Knićanin) im Banat, wo nach Kriegsende knapp zehntausend internierte Donauschwaben an Hunger und Krankheiten starben. Hilde Link thematisiert jedoch nicht diese schon oft beschriebene Leidensgeschichte, sondern setzt sich mit ihrer Vorgeschichte und zwischenmenschlichen Beziehungen der Donauschwaben in der Batschka und dem Banat auseinander.

Als Ethnologin will Link niemandem die Schuld zuweisen und fragt sich auch nicht „warum“, sondern „wie“ (S. 13) es dazu kam, dass schon vor dem Zweiten Weltkrieg die ethnische Zugehörigkeit zum Indikator des „guten Eigenen“ und des „bösen Fremden“ (S. 45) wurde und wie das Denken in diesen Kategorien zu Ausgrenzung, Hass und Massenmord führte. Auf der Suche nach Antworten führt die auktoriale Erzählerin die Leserschaft in die 1920er- und 1930er-Jahre, als die sogenannten Weltreisenden aus Deutschland in die Vojvodina kamen und hier schleichend die Saat des Misstrauens und der Rassenideologie verbreiteten. Diese Männer und Frauen wollten angeblich die Welt bereisen, blieben jedoch in den mehrheitlich deutschsprachigen Orten und trieben Keile nicht nur zwischen die benachbarten Völker, sondern auch zwischen donauschwäbische Familien. Sie sprachen von der Bedrohung der Deutschen durch die „slawische Flut“ (S. 53), hetzten gegen alle Nichtdeutschen und erzeugten damit ethnische Spannungen, die später eskalierten. Die „Weltreisenden“ leisteten eine gründliche Vorarbeit für ihre Nachfolger, die radikalen „Erneuerer“, denen es schon vor dem Krieg gelang, das Sozialgefüge des Ortes ins Ungleichgewicht zu bringen und die Rudolfsgnader gegeneinander aufzuhetzen (S. 81).

Die allwissende Erzählerin beschreibt die Entwicklung und langsame Spaltung dieser multinationalen Dorfgemeinschaft, in der die meisten Juden schon im Ersten Weltkrieg als „Unerwünschte“ Rudolfsgnad verließen (S. 20). Mit den verbliebenen Serben lebte man eher neben- als miteinander, doch auch die Donauschwaben teilten sich längst untereinander in die reichen Großgrundbesitzer und die ärmeren, die sie spöttisch „Wanzen“ nannten (S. 25f.). Die erzählte Zeit im Roman umfasst vor allem die verworrenen 1930er-Jahre, in denen wie im Nebel „[…] jeder versucht seine eigene Orientierung zu finden […] sich selbst und die eigene Familie herauszuführen aus diesem Dunst. Und als dann der Nebel aufreißt, stehen sie da, die einzelnen Zusammenschlüsse, und sind bereit zu kämpfen. Gegen imaginäre und reale Feinde, für ihre jeweilige Weltanschauung, die mal von der Nächstenliebe Jesu herrührt, mal vom Führer – auch er verspricht Heil –, mal von egoistischen Eigeninteressen, geleitet von Gier und Angst, oft von beidem.“ (S. 132f).

Hilde Link baut ihren Roman um die Familiengeschichten dreier Freunde: Sepp, Lena und Friddi, die exemplarisch für die damaligen Gesinnungen stehen: Raushalten, Widerstand leisten oder Mitmachen. Sepps verarmte, aber fleißige Familie lässt sich durch die Rassenideologie der „Sämänner des Hasses“ (S. 133) nicht verführen. Die Meilingers versuchen in den düsteren Zeiten so gut es geht sich aus allem herauszuhalten und mit ihren serbischen und jüdischen Nachbarn ein normales Leben weiterzuführen, aber irgendwann schreibt jemand auch an ihre Hauswand „Juden-Freunde“ (S. 154). Ihr Sohn Sepp bewundert den Widerstand des Frühwald-Pfarrers gegen „Weltreisende“ und „Erneuerer“. Frühwald-Pfarrers Kirche wird aber immer leerer, denn die Rudolfsgnader setzen mit der Zeit „auf einen siegreichen Führer, nicht einen Versager, wie dieser Jesus Christus, dieser Jude, dieser Sprücheklopfer“ (S. 186). Der Frühwald-Pfarrer und seine Gleichgesinnten werden von anderen Donauschwaben ausgegrenzt und verächtlich „Deutschland-Spucker“ genannt. Er steht auch Lenas jüdischer Familie bei, kann sie jedoch nicht vor der Deportation ins KZ retten. Jüdischer Besitz wird im Krieg arisiert und landet durch Plünderungen in vielen donauschwäbischen Häusern (S. 204). Lenas Vater entkommt der Deportation und schließt sich, wie auch Sepp später, den Partisanen an.

In der Familiengeschichte des Graf-Bauern erkennt man die wohlhabenden Donauschwaben und Anhänger des konservativen und anfangs staatstreuen Kulturbundes. Mit der Übermacht der „Erneuerer“ und anschließender Nazi-Kriegsherrschaft werden diese Donauschwaben jedoch aus Gier oder durch Einschüchterung zu Mitläufern. Ihr blonder, blauäugiger Sohn Friddi demonstriert nicht nur nach außen hin die Idee des Herrenmenschen (S. 94), sondern lässt sich schon sehr früh, wie viele junge Donauschwaben, leicht von den „Weltreisenden“ verführen und zur Rassenideologie überreden. Friddi schließt sich den radikalen „Erneuerern“ an und wird zum Sinnbild eines Nazi-Schwaben, der noch vor dem Krieg zur bewaffneten Hilfspolizei der „Deutschen Mannschaft“ gehört. Sie patrouillieren in Rudolfsgnad, schikanieren und demütigen Juden und Serben, vergewaltigen eine serbische Postbotin vor den Augen ihrer kleinen Tochter (S. 184). Damit beschleunigen sie die Entscheidung der Nichtdeutschen und einiger Donauschwaben, Widerstand zu leisten und sich später den Partisanen anzuschließen. Friddis großdeutsche Indoktrinierung ist stärker als seine jugendliche Liebe zu Leni, denn „der Verräter und Vergewaltiger empfindet kein Mitleid, als er vom Abtransport von Lena und deren Mutter in ein Lager hört“ (S. 194). In der Hassspirale des Krieges verleumden und denunzieren die Nazi-Schwaben nicht nur Juden und Serben, um an ihren Besitz zu kommen, sondern auch ihre eigenen Leute als getarnte „Deutschland-Spucker“. Im Krieg werden für jeden gefallenen deutschen Soldaten 100 Kommunisten und Juden erschossen (S. 206). Viele Donauschwaben empfinden aber keine Mitschuld an den Verbrechen, denn „alles geschieht im Rahmen der geltenden Gesetze“ (S. 210). So erfüllt auch Friddi nach kurzem Zögern „seine Pflicht“ und tötet neben den kranken und verwundeten Menschen in einem Partisanen-Lazarett auch seinen alten Freund Sepp und Lenas Vater, die sich bei den Partisanen um die Kranken und Verwundeten kümmerten (S. 242f.).

Hilde Link hat sich der großen Herausforderung gestellt, die Vorkriegsgeschichte der donauschwäbischen Tragödie zu erzählen und sie mit den Erinnerungen der Zeitzeugen sowie belegten historischen Fakten in ein gut lesbares Buch umzusetzen. Ein Oral-History-Roman verlangt nach authentischen Zeitzeugenaussagen, bei denen die ästhetische Ebene manchmal zugunsten der Thematisierung in den Hintergrund tritt. Ebenso müssen komplexere historische Ereignisse und vielfältige Charaktere auf einfache Darstellungen oder Charakterzüge und Beschreibungen reduziert werden. Durch Verkürzungen und Verallgemeinerungen des Narrativs besteht jedoch die Möglichkeit der Stereotypisierung, was an manchen Stellen im Roman auch der Fall ist.

Mit einem Zeitabstand von fast 80 Jahren hatte die Autorin es leichter als Weidenheim über die donauschwäbische Vorgeschichte zu schreiben, und dennoch musste sie während der Gespräche mit Zeitzeugen feststellen, „dass bei manchem männlichen Gesprächspartner noch heute eine Art Immunität gegen jeden Selbstzweifel besteht, dass man stolz ist, weil man selbst oder der Vater in SS-Divisionen die ‚Heimstatt‘ im Banat verteidigt hat […] Und wer sich gemeinsam mit Juden der Widerstandsbewegung angeschlossen hat, ist noch heute in den Augen früherer wehrhafter SS-Kämpfer ein Verräter.“ (S. 11).

Mit ihrem Roman will Hilde Link, wie seinerzeit Weidenheim, nicht Schuld gegen Schuld aufbrechen, sondern die junge Generation vor Ausgrenzung, Unrecht, Hass und Erniedrigung der anderen warnen, damit so etwas in Zukunft nicht wieder passiert. Bleibt zu hoffen, dass das auch so in donauschwäbischen Kreisen angenommen wird, ohne Vorwürfe, dass die Autorin befangen ist und Schuld mit falschem Maß gewogen hätte.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 233–235.

 

[1] Hans Hartl: Schuld mit falschem Maß gewogen. Kritische Betrachtungen zu J. Weidenheims Batschka-Roman: Treffpunkt jenseits der Schuld. In: Kulturpolitische Korrespondenz. 9.4.1956 (ohne Seite).

[2] Vgl. Ulrike Schmitzer: Die gestohlene Erinnerung. Wien 2015, Gabriele Vasak: Den Dritten das Brot. Wien 2016, Andreas Wunn: Mutters Flucht. Berlin 2018 usw.