Zum Inhalt springen
Start » Online-Artikel » Rubriken » Feuilleton » Besprechungen » Eginald Schlattner: Brunnentore | Rezension

Eginald Schlattner: Brunnentore | Rezension

Lebensthema neu beleuchtet

Eginald Schlattner: Brunnentore. Roman. Ludwigsburg: Pop Verlag 2023. 320S. 

PDF-Download

Von Florian Gassner

 

Mit Brunnentore bereichert Eginald Schlattner sein literarisches Erinnerungswerk um eine neue Facette: Zum ersten Mal stehen die „Knabenjahre im Szeklerland“ (S. 15) im Zentrum seiner Reflexionen über das Schicksal der Siebenbürger Sachsen. Die Geschichte spielt damit nicht, wie für Schlattners Romane üblich, im rumänisch, sondern im ungarisch geprägten Teil der Region, in einer Epoche, auf die sich der Autor bisher noch nicht fokussiert hat: die späten 30er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Das Dorf Szentkeresztbánya (dt. Karlshütte, rum. Vlăhița), gelegen im heutigen Kreis Harghita, ist der primäre Schauplatz für die Entwicklung des Ich-Erzählers in den Jahren vor seiner Einschulung. Von diesem Standpunkt aus eröffnet er in einem durchaus modern anmutenden Assoziationsstil – ebenfalls eine Innovation in Schlattners späterem Œuvre – ein familiengeschichtliches Panorama, das die Zeit vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart des Autors umfasst. Das letzte Drittel des Bandes widmet er der Beschreibung eines Sommers in Freck (rum. Avrig, ung. Felek) bei Hermannstadt, wobei er detailreich und einfühlsam die unglückliche Beziehung der Eltern auslotet. Durch alle diese Stationen schillert drohend der erste katastrophale Einschnitt in die Biografie des Erzählers: die Flucht von Szentkeresztbánya und die anschließende Übersiedlung nach Kronstadt (rum. Brașov, ung. Brassó) 1940, als der Zweite Wiener Schiedsspruch das Szeklerland Ungarn zuspricht, womit der Roman dann auch endet. 

Vor dem Hintergrund des drohenden Heimatverlusts erschließt sich nach und nach die Bedeutung des Titels: Brunnentore. Der jüngere Bruder Kurtfelix „hatte den Namen ausgebrütet“ (S. 18), als er den versteckten Brunnen im Garten der Familie mit dem Märchen von Frau Holle in Verbindung brachte. In der Folge entwickelt sich das Brunnenmotiv zu einem Symbol für den Wunsch, einer zunehmend düsteren Realität zu entkommen, die sich in der Wahrnehmung der Buben in allen übrigen Märchen spiegelt. „Frau Holle war ein Märchen, das uns Brüder anrührte. Während es uns vor vielen Bildern der Andersen-Märchen gruselte. Wenn die Wirklichkeit schwer zu ertragen war, zu stark und herrisch geprägt von den Erwachsenen, wünschten wir Brüder, zu einer Frau Holle zu fliehen.“ (S. 127) Dem jüngeren erscheint das Schicksal der Goldmarie dabei tatsächlich als möglicher Ausweg (und einmal setzt er sogar zur lebensgefährlichen Flucht an), während der Erzähler „[s]ein Los abgebildet sah in dem, was der Pechmarie zustieß. Nicht weil ich mich ihr im Wesen ähnlich dünkte, sondern als Ahnung, als Besorgnis“. (S. 127) Dementsprechend reagiert er meist mit Melancholie und Trauer, einmal sogar mit „Tränen“ (S. 247), wenn ihm andernorts in Siebenbürgen ähnliche Brunnentore begegnen. Fast schon leitmotivisch reflektiert der Roman so das Entschwinden eines naiven Lebensgefühls, das schon in Kindheitsjahren gefährdet war und das mit der ersten Flucht für immer verloren ging. 

Als Gegengewicht zu diesen Verlustgefühlen mag man die Dinggeschichte lesen, durch die der Erzähler die Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu bewahren sucht. Er fragt sich eingangs, ob es „denkbar“ sei, „dass Dinge und Orte sich an einen erinnern können“, und widmet sich zunächst der Geschichte und Gegenwart des großen Perserteppichs der Familie: „Bei meiner Geburt von der Mutter entworfen und in Arad handgeknüpft mit einer Höchstzahl von Knoten, er ist in seinen verblichenen Mustern trächtig von Geschichten und Schritten von nahezu neunzig Jahren. Er gilt als Zeitzeuge“. (S. 5557) Dieser Teppich habe sich nun, neunzig Jahre später, „zur Ruhe gesetzt im Pfarrhaus in Rothberg“ (S. 58), gemeinsam mit zahlreichen weiteren „Zeitzeugen“, die das Haus des Erzählers „am Ende der Biografie“ (S. 13) schmücken: eine Fahrrad-Medaille des Großvaters, die heute in Rothberg als „Gong zur Teestunde dient“ (S. 98), ein Wandbehang aus Kairo, der heute auf dem Pfarrhof das Musikzimmer ziert (S. 99), der Kleine Brockhaus, den die Großmutter dem Gymnasiasten zum Kriegsende gekauft hatte (S. 103), die Gedichte eines Verehrers der Mutter, die der Sohn im Nachlass aufspüren konnte (S. 230), und eine Miniatur-Gießkanne aus Delfter Porzellan, die er bei einem Spiel mit der Frecker Tante gewonnen hatte. (S. 260) Diese Objekte werden gleichsam selbst zu Brunnentoren, die die zeitweilige Vergegenwärtigung eines verlorengegangenen Daseins erlauben. 

In bemerkenswert direkter Form legt der Roman dabei eine unmittelbare Verbindung zur Biografie des Autors nahe, so sehr sogar, dass man Brunnentore ohne Einschränkung als autobiografischen Text bezeichnen möchte. Schon die ersten Seiten erklären die Wirkungsstätte des Pfarrers und Schriftstellers Eginald Schlattner zum Ort der Niederschrift: „Ich notiere ins Tagebuch: ‚Pfarrhof Rothberg. Advent 2021‘“. (S. 13) Zwar zitiert die Exposition noch jenes Versteckspiel, mit dem bereits Der geköpfte Hahn Fragen zur Beziehung zwischen Autor und Ich-Erzähler aufwarf, ohne diese eindeutig zu beantworten. Mit der Zeit wird diese Strategie jedoch aufgegeben, sodass der Erzähler zunächst mit seinen Initialen „EgSch“ (S. 88) und schließlich als letzter diensthabender Pfarrer im rumänischen Rothberg mit seinem vollen Namen „Eginald Norbert Schlattner“ (S. 107) unzweideutig in Erscheinung tritt. Aus seiner biografischen Situation heraus entwickelt er dann auch den Schreibanlass für den dennoch als „Roman“ betitelten Text: „Vielleicht gelingt zu allerletzter Stunde ein Wortlaut über diese Knabenjahre im Szeklerland. Ich muss mich sputen. Das Ende der eigenen Biografie beugt mich zu Boden“. (S. 15) Die Niederschrift entspringe somit einem tiefen persönlichen Bedürfnis, diesen Teil der Lebensgeschichte zu dokumentieren und zu reflektieren, nicht zuletzt, da „Gott über jede totgeschwiegene Geschichte weint“. (S. 15) 

Eine entsprechend persönliche Note verleiht Brunnentore den Reflexionen über die siebenbürgische Geschichte und die siebenbürgische Identität, die Schlattners literarisches Werk durchziehen. Im unmittelbaren Anschluss an die unzweideutige Entdeckung seiner Identität erklärt der Erzähler: „Als Erstes bin ich als Siebenbürger Sachse deutscher Zunge rumänischer Staatsbürger. Darüber hinaus zähle ich mich zur deutschen Kulturgemeinschaft, unbestritten, ohne ein Deutscher zu sein, ähnlich den Österreichern oder Ost-Schweizern“. (S. 107) Bemerkenswert ist dabei, dass diese nach außen hin eindeutige kulturelle Verortung im Lauf der Erzählung wenig inneren Halt bietet. Beim sommerlangen Aufenthalt in Freck begegnen die sächsische Kultur und insbesondere die sächsische Sprache als befremdlich, sodass es kaum zum Austausch mit der örtlichen Bevölkerung kommt, während das ungarisch geprägte Siebenbürgen als Sehnsuchtsort erscheint: „In die nahe Sachsengasse verirrten wir uns kaum. […] Anders war das zu Hause in Szentkeresztbánya, das sich hier als die rechte Heimat entpuppte. Wo das gemeinschaftliche Ungarisch sich jeder Weise von Trennung verweigerte“. (S. 236237). Die ungarische Sprache, die in Schlattners Erinnerungsliteratur sonst eine Nebenrolle spielt, avanciert so zum Hort des kindlich-naiven Lebensgefühls. Als vollkommen undurchlässig erscheint demgegenüber das Verhältnis zum Rumänischen: „Wo der letzte sächsische Hof an das erste rumänische strohgedeckte Haus rührte, trat eine unsichtbare Grenze in Kraft, die strikter war, als jede Mauer“. (S. 271272). Diese und ähnliche Eindrücke lassen das prekäre Fundament des multikulturellen Rumäniens erahnen und nehmen die Katastrophen der folgenden Jahrzehnte vorweg. 

In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Brunnentore den Zusammenbruch dieser Gesellschaft und den letztendlichen Untergang der siebenbürgisch-sächsischen Kultur nicht ausschließlich auf Druck von außen zurückführt. „Doch Hand aufs Herz“, heißt es an einer Stelle: „Wir wurden nicht vertrieben. Unsere Leute gingen freiwillig. In einem einzigen Sommer verabschiedeten sie sich sang- und klanglos aus der Geschichte. Ethnische Selbstsäuberung, könnte man sagen“. (S. 70) Es sind freimütige Beobachtungen dieser Art, die Brunnentore vom Pathos der übrigen Romane Schlattners abheben und als Ergänzung zu seinem Erinnerungswerk unbedingt lesenswert machen. Hier geht es weder um ein geschichtsphilosophisches Argument noch um eine theologische Perspektive. Ziel ist allein die impressionistische Skizze eines gesellschaftlichen Zustands, dessen unmittelbarer Zusammenbruch bereits vom Kind geahnt und als existenzbedrohend erfahren wird. Fast schon seismografisch lotet die Sprache die Risse in den Beziehungen zum Umfeld aus: zur geliebten ungarischen Nachbarstochter Irénke, zur angebeteten Frau des jüdischen Fabrikdirektors Elefterescu, zur nationalsozialistisch inspirierten „Heil-Hitler Tante“ (S. 56), selbst zu Mutter und Vater, die jeweils auf ihre Art unter dem Wandel der Zeit leiden. So gelingt es Schlattner, sein Lebensthema noch einmal neu zu beleuchten – mit neuen sprachlichen und erzähltechnischen Mitteln, aber auch aus einer anderen weltanschaulichen Perspektive. Somit ist der Roman auch interessierten Leserinnen und Lesern moderner Erinnerungsliteratur zu empfehlen.