Zum Inhalt springen
Start » Online-Artikel » Rubriken » Feuilleton » Besprechungen » Eginald Schlattner: Schattenspiele toter Mädchen | Rezension

Eginald Schlattner: Schattenspiele toter Mädchen | Rezension

All die Lieben  

Eginald Schlattner: Schattenspiele toter Mädchen. Roman. Ludwigsburg: Pop Verlag 2022. 401 S. 

PDF-Download

Von Markus Bauer

 

Zu Beginn der Lektüre spielen einem die Augen einen Streich: Es dauert geraume Zeit und einige Seiten Lektüre, bis man sich sicher ist, dass da eine Differenz besteht – an manchen Textabschnitten ist etwas anders. In der Tat, die Erinnerungen des Erzählers bewegen sich auf unterschiedlichen, durch die Schrift markierten Ebenen: Zum einen beginnt der Roman mit einer Fahrradtour des Erzählers/Schlattners und seines jüngeren Bruders Uwe 1944 in der Fogarascher Senke am Rohrbach entlang von Rohrbach (rum. Rodbav) nach Kleinschenk (rum. Cincşor), die in engerer und gering kleinerer Schrift gesetzt ist; und zum anderen ist das Gros des Romans etwas weiter und auch größer gesetzt. Im Laufe der Lektüre wird dieser Unterschied immer sicherer und die Lesenden wissen, dass mit der Geschichte von Uwe und seinem Bruder auf ihrem Presto- bzw. Adler-Bizykel“ die Zeitebene jenes Augusttages im Krieg gemeint ist. Allerdings wird die Komplexität dadurch gemildert, dass auf dieser Fahrt kaum Außergewöhnliches geschieht, außer dass es eine Fahrt zu einem bestimmten Ziel ist, von dem Uwe genau so weiß wie Eginald, dass sie eigentlich nur einem bestimmten Mädchen gilt: Agathe. 

So eingeführt kann ein Buch beginnen, das auf mehrfache Weise ungewöhnlich und gelungen ist. Sein Anlass und zugleich seine besondere Atmosphäre wird zu Beginn in der Schlattner eigenen Sprachmelodie und Verwebungskunst ersichtlich: „Spätherbst 2019, Rothberg, der Katharinentag naht. Der Andreastag folgt auf dem Fuße. Der Altweibersommer ist vorbei. Doch oft bis über die Mitte November hinaus strömt, wenn die Sonne im Zenit steht, sommerliche Wärme in die Höfe und Gärten. Das Kirchenportal der Basilika vor meinem Fenster ist offen, die Kühle darin ist alt. Die Abende sind lang geworden. Solche Abende nehmen dich an der Hand, entfallene Zeiten einzufangen, in Familienpapieren zu blättern, laden ein, sich von Tagebuchnotizen überraschen zu lassen und Geschichten nachzusinnen“. (S. 10f.) 

Eine solche meisterhaft leicht wirkende Darbietung des Anlasses wie auch der Stimmung und des Ortes und der kommenden Schauplätze verweist darauf, dass hier aus vorgegebenen Materialien Geschichten entstehen und zugleich der eigenen Vergangenheit fabulierend nachgesonnen wird. Zukünftige Germanistinnen und Germanisten werden eine harte Nuss zu knacken haben, wenn sie die intertextuellen Referenzen wie auch die Trennung von Erzähler und Autor präzise nachzeichnen wollten. Denn Schlattners Ich-Erzähler erzählt von Schlattners Jugend und Adoleszenz in einem unnachahmlichen Ton und in der Stimmung des anfangs evozierten Spätherbstabends, die – und das macht den großen Autor aus – das ganze Buch zusammenhält. Zu einem literarisch zu genießenden einheitlichen Guss amalgamiert wird das Puzzle der gekennzeichneten Zitate aus anderen Schlattner-Büchern, der Tagebuchnotizen, Familienpapiere, Erinnerungen, Fiktionen allein von diesem satirischen Blick auf die kindlichen und politischen Umstände der Vergangenheit und zugleich auf die tiefernst empfundenen existenziellen Erfahrungen des jungen Mannes mit den jungen Frauen seiner Biografie. Ein „Nachsinnen“ über die „Schatten der Nicht-mehr-da-Seienden“. Dennoch warnt der Erzähler/Schlattner eindeutig (wohl aufgrund eigener Erlebnisse): „Selbst wenn mein unverwechselbarer Vorname im Text genannt wird, ist das keineswegs zu verwechseln mit dokumentarischer Memorialistik“. (S. 116) 

Mehrere Mädchen, in die – so lässt uns die autobiografisch wirkende Machart des Romans glauben – der spätere Schriftsteller Schlattner als Schüler und Student und noch später als Hilfsarbeiter oder Ingenieur in Fogarasch (rum. Făgăraş) und Klausenburg (rum. Cluj) und Hermannstadt (rum. Sibiu) während seiner Kindheit und Jugend sich verliebte. Kinder-, Schüler-, Studenten- und Jungerwachsenenliebe. Und die er bis in sein hohes Alter nicht vergessen hat, wenn auch keine mehr von ihnen am Leben ist. So bleibt es ein scheinbar egozentrisches Nachsinnen, ein Aufhorchen auf kleinste Anlässe und plötzlich aufscheinende Erinnerungsfetzen. Aber nicht nur dies. Schlattner rundet mit Voraus- und Rückblicken diese einzelnen Bilder durch die Erzählung von Familiengeschichten und den Blick auf das Aufwachsen während des Krieges zu einem Panorama siebenbürgisch-sächsischer Lebensanschauung, in der das „Selbstverständliche“ auch den Blick auf das „Ungewöhnliche, Andere“ notwendig macht. Auf die rumänischen Kinder, den Bruder Kurtfelix, der immer andere Freunde hatte als die sächsischen Kinder, auf die Roma, die Armen, die Zerklüftung der politischen Haltungen gegenüber dem drohenden Naherücken der Kriegsfront mit der Roten Armee und ersten Luftalarmen. Es ist die Auflösung der Gemeinschaft zu erkennen, obwohl der DJ-Jungvolk-Pimpf in seiner braunen Kluft mit Koppel und Hakenkreuz immer noch indoktriniert den ideologisch auf Linie Wandelnden markiert, aber der Erzähler/Schlattner im Rückblick schon satirisch dagegenhält: „Somit könnte sich der Endsieg im Königreich Rumänien abspielen. Das in einem Zipfel bereits von der deutschen Truppenmacht aufgegeben worden war. Ein Sandsturm war der Roten Armee zu Hilfe gekommen, hieß es, hatte die deutschen Soldaten heimtückisch geblendet, so dass sie weichen mussten. Gut, dass sie die Richtung nicht verfehlt hatten: nach hinten“. (S. 13) Und es finden sich treffliche Schlaglichter auf die Zeit des Übergangs von der Nazi-Zeit zur russischen Besetzung und der Installierung der kommunistischen Diktatur. 

Aber das Entscheidende dieses Buches sind die erzählerischen Annäherungen an jene Mädchen und jungen Frauen in ihren spezifischen Milieus, denen der junge und auch der erwachsene Schlattner begegnete. Von der kleinen Agathe über die Zahnarzt- und Gutsbesitzertochter Elinor, der er ein Mărțișor [Märzchen] verehren wollte, die arme Deli, Brigitte, Marianne, die Jüdin Judith Gisela, die Pfarrerstöchter Anita und Elfi und die spätere Ehefrau Susanna (die er „nach einer Stunde Blickkontakt“ heiratete). Meist scheu und eher mit sich selbst beschäftigt nähert sich Eginald diesen jungen Frauen und kommt ihnen nahe. Wie nahe, wird eher im Menschlich-Seelischen kundgetan und umschließt auch das Nachleben dieser Beziehungen bis zu 60 Jahre später. Es kommt zu teilweise unverhofften und überraschenden Wiedersehen, etwa im Literaturhaus in Berlin, nachdem Schlattner als Autor großen Erfolg beim deutschsprachigen Lesepublikum mit seinen Romanen erzielte. Oder in Rumänien mit Judith, die aus Israel zum Urlaub in die kommunistische Diktatur kommt. Bei dieser Reminiszenz an ein Gespräch in einem See bei Hermannstadt wird ausführlich aus dieser überraschenden Perspektive auch der Schriftstellerprozess in Kronstadt 1959 diskutiert. Von einer anderen Romanze behauptet der Erzähler, sie sei die „Liebe eines Sommers, die Trauer eines Lebens“ (S. 298) gewesen. Ihre Geschichte habe der Autor verfremdend im Roman Klavier im Nebel (2005) erzählt. 

Wenn auch im Ton und der skizzierten Amalgamierung von Erinnerungsbildern und Texten einheitlich, sorgen die eingestreuten, nicht selten fast haarsträubenden Geschichten für eine unerwartete Buntheit der sonst als „grau“ verstandenen Schattenbilder des späten Gedächtnisses. 

In der Erinnerung an die emotionale Geschichte des Helden/Erzählers/Autors scheint unvermeidlich die gesamte Biografie Schlattners auf, eingebettet in sehr viel größere Kontexte der Familie, der Städte und Dörfer, Siebenbürgens und Rumäniens, der Kirche und des Staates. So bringt dieses Buch in seinem Versuch der Erinnerung an die Lieben seines Lebens weit mehr als biografische Petitessen zu Tage – eine Summa der widersprüchlichen Erfahrungen und der den sensiblen Menschen auszeichnenden lebhaften Erschütterungen einer „vie sentimentale“, aufgehoben im gelungenen Versuch des ästhetischen Ausgleichs, wie er vielleicht nur im hohen Alter und im Nachsinnen der Erinnerung möglich sein kann.