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Einleitung: Ungarndeutsche heute

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Sprache und Zugehörigkeit

Die deutsche Sprachminderheit in Ungarn hat in ihrer mehr als dreihundertjährigen Geschichte im Karpatenbecken, das sie als ihre Heimat betrachtet, unterschiedliche, teils auch schwere und radikale Transformationsprozesse durchlaufen. Heute, Anfang des 21. Jahrhunderts, leben die Angehörigen dieser Minderheit in sprachlich heterogenen Kommunikationsgemeinschaften, doch immer noch im Bewusstsein ihrer deutschen Abstammung. Dank der besonders seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts intensiv durchgeführten Forschungen von Historikern, Ethnografen, Sprach-und Kulturwissenschaftlern aus dem In- und Ausland liegen bereits zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse und Dokumente über die Geschichte dieser Sprach- und Kulturgemeinschaft vor. Von großem Interesse sind aber gerade die gegenwärtigen Entwicklungen in der deutschen Minderheit, die sich als sehr dynamische Prozesse erweisen.

In dieser Spiegelungen-Ausgabe wollen wir daher einige ausgewählte Aspekte aus der Gegenwart der ungarndeutschen Minderheit in den Fokus stellen. Allerdings kann damit lediglich ein Einblick in jene komplexen soziopolitischen, soziokulturellen, mehrsprachigen und kontaktlinguistischen Prozesse gewährt werden, durch die sich neben anderen Faktoren der Alltag dieser Minderheit defniert. Denn auch die Erforschung der Gegenwart von Sprachminderheiten überrascht, trotz theoretisch erwartbarer Annahmen über verschiedene Wandlungsprozesse bei autochthonen Minderheiten, immer wieder mit neuen Facetten, die in der globalisierten Welt von heute, in einer Zeit der weltweiten Migrationsbewegungen und den damit verbundenen Sprach- und Kulturkontakten, eine neue Sicht auf das Leben von autochthonen Minderheiten aufzeigen.

Die Beiträge in diesem Themenheft stammen von Experten aus dem In- und Ausland, die sich in wissenschaftlichen Forschungen und aufgrund ihrer Erfahrungen einzelnen Aspekten wie Geschichte, Demografe, Kultur, Sprache, Identität und Bildungswesen der deutschen Minderheit zugewandt haben.

Zum Schwerpunktthema »Ungarndeutsche heute – Sprache und Zugehörigkeit« wird zunächst anhand von authentischen Sprachbelegen ein Einblick in die alltäglichen Sprachgebrauchskonstellationen der Sprecherinnen und Sprecher deutscher Abstammung gegeben (Elisabeth Knipf-Komlósi). Daran anschließend werden im Rahmen einer empirischen Erhebung unter jungen Ungarndeutschen die Gestaltung und die Reflexionen Jugendlicher zu ihren sich teils wandelnden, teils schwebenden Identitätskonstruktionen (Ágnes Huber) dargestellt. Diesem Beitrag folgt ein Beispiel zur Folklorisierung der Kultur der Ungarndeutschen in der Zeit von 1958 bis 1988 anhand von Elementen der ruralen Architektur (Michael Prosser-Schell). Das Schwerpunktthema rundet schließlich ein Beitrag zu den demografischen Veränderungen anhand von Zensusdaten ab (Ágnes Toth und János Vékás).

Bei den zahlreichen aktiven Institutionen und Initiativen der Ungarndeutschen zum Erhalt und der Weitertradierung ihrer Sprache steht (bei der deutschen Minderheit) das Unterrichtswesen im Fokus. In diesem Band wird zunächst die Aufgabe und Funktion einer methodisch wie sprachlich sehr gut aufgebauten LehrerInnen-Ausbildungsstätte im Rahmen der Sprachlernwerkstatt in Baja gezeigt (Monika Jäger-Manz). Eine Überblicksdarstellung vermittelt Einblicke in das weitverzweigte Bildungsnetz der Minderheit (Márta Müller).

Im Mittelpunkt des historisch-orientierten Beitrags in der Projektwerkstatt (Katalin Gajdos-Frank) werden Aspekte der Vergangenheitsbewältigung einer der schwersten historischen Epochen der Ungarndeutschen – der bitteren Erfahrungen der Überwachungszeit bis 1956 – anhand von Fallbeispielen thematisiert.

In einer Darstellung zur Gegenwart des Ungarndeutschen darf allerdings ein Blick zurück, nämlich in die Erforschung der ursprünglichen Dialekte der deutschen Minderheit in Ungarn, nicht fehlen. Dies geschieht im Rahmen eines Doppel-Interviews mit den noch aktiven großen Vertretern der ungarndeutschen Dialektologie, Katharina Wild und Karl Manherz, das von einer Doktorandin der Germanistik (Gabriella Sós) durchgeführt wurde. Darin werden die Arbeiten der beiden Forscher, ihr Engagement und ihre Wirkung auf die Forschungen von heute vorgestellt.

Kleinere Beiträge zu Aspekten der Medien, der Lehrbücher, der Lehrerfortbildungen und hervorstechenden kulturellen Ereignissen runden das Bild zur Gegenwart der Ungarndeutschen ab.

Wir möchten vor allem dem engagierten und überaus hilfsbereiten Redaktionsteam am IKGS herzlich für die Aufnahme dieses Themenblocks in die renommierten Spiegelungen unseren Dank aussprechen und unserer Freude Ausdruck verleihen, dass der ungarndeutschen Minderheit ein Themenheft gewidmet wurde.

Ein Dank geht auch an alle Beitragenden und Gutachter, vor allem an die MitarbeiterInnen des IKGS, die die mühsame Arbeit des Redigierens und der Fertigstellung dieses Bandes übernommen haben.

Elisabeth Knipf-Komlósi und Claudia Maria Riehl

Erfahren Sie hier mehr über dieses Heft.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2020), Jg. 15, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 9–10.

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