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Elazar Benyoëtz: Fazittert. Eine Spätlesung | Rezension

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Absagen ans Eindeutige

Elazar Benyoëtz: Fazittert. Eine Spätlesung. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2020. 420 S.

Unter den deutschsprachigen jüdischen Aphoristikern der Gegenwart sei der 1937 als Paul Koppel in Wiener Neustadt geborene und Ende 1939 mit den Eltern nach Palästina gelangte Elazar Benyoëtz eine „Ausnahme“, stellt Christoph Grubitz fest, der beste Kenner seines inzwischen äußerst umfangreichen Schaffens. Im Bewusstsein der gescheiterten Assimilation schreibe er „die jüdische Überlieferung in deutscher Sprache nach 1933/45“ fort.[1] „Kaum ein Werk ist so ausschließlich von der jüdischen Tradition und der deutsch-jüdischen Geschichte geprägt.“[2] Der jüngste Band des in Jerusalem lebenden Dichters und Gelehrten ist es vielleicht mehr denn je. Sein etwas unglücklich gewählter Titel überzeugt nicht ganz, weil die Relation zwischen dem Substantiv „Fazit“ und dem Verbum „zittern“ zu vage bleibt. Der Titel weist allerdings deutlich darauf hin, wie Benyoëtz das Werk verstanden wissen möchte – als Alterswerk, womöglich als ultimatives Alterswerk. „Man will mit seinem Tod gesprochen haben, / die Poesie ist die Sprache dafür“, heißt es einmal (S. 266). Kokettiert der 85-Jährige hier mit dem eigenen irdischen Ende? Eher nicht, und wenn doch, sei es ihm nachgesehen … Naturgemäß ist das Ende des Lebens, der unvermeidliche eigene Tod, aber immer präsent. „Die Geschichte geht weiter / und nimmt uns nicht mit“ (S. 28). Und verständlich sind auch Erwägungen, die das eigene Nachleben betreffen: „Was man alles von mir sagt / werde ich dereinst gewesen sein müssen“ (S. 343). Für Nachrufe allerdings, das zeigt Fazittert, ist es eindeutig zu früh. Vielmehr gilt weiterhin, was der Dichter in Am Torheitstor schreibt: „Autobiographie: / Man sieht nicht gern seine Stunde kommen, / und nimmt sie lieber / Jahr um Jahr vorweg.“ (S. 220) Abgesehen davon steht schon seit Langem fest, dass Elazar Benyoëtz keinesfalls zu jenen Autoren gehört, „die Spuren hinterlassen, / ohne Eindruck gemacht zu haben“ (S. 206). Ganz im Gegenteil! Das vielleicht Wichtigste an seinen Texten ist der Denkraum, den sie oft mit nur wenigen Worten öffnen. Das gilt auch für Fazittert, selbst wenn man sagen muss, dass die Zusammenstellung der poetischen Texte nicht so zwingend erscheint wie in früheren Bänden des Autors. Vielleicht sind es auch einfach zu viele – oder zu viele einander ähnelnde. Ermüdung ist möglich, zumal beim linearen Lesen.

Das Buch enthält Gedichte, auch in Gedichtform gebrachte Aphorismen, und wie immer fehlen ausführliche Zitate nicht. Aristophanes, Marc Aurel oder Catull, Hölderlin, Kleist, Goethe oder Lichtenberg werden herbeigerufen, aber auch spätere Dichter-Denker wie Jacob Burckhardt, Max Rychner, Otto Ludwig oder Gottfried Benn. „Das Zitat ist eine Liebeserklärung / oder eine Kampfansage“ (S. 54). Liebeserklärungen gibt es, vor allem an Annette Kolb, „meine christliche Schwester“, die sich noch im Alter von 97 Jahren von Elazar Benyoëtz das junge Israel zeigen ließ (S. 339). Kampfansagen hingegen gibt es kaum.

Elazar Benyoëtz bleibt, wie könnte es anders sein, seinen Lebensthemen treu. „Der Anfang der Erkenntnis / ist das Ende der Erbauung“ – Verszeilen, die auf die durchweg gegebene philosophische Grundierung der Gedichte hinweisen (S. 11). Jeglichen geschichtsphilosophischen Großentwürfen, jeglichen Ideologien und Welterklärungsmodellen misstraut Benyoëtz zutiefst: „Geschichte hat es nie gegeben, / Geschichten gibt’s seit eh und je“ (S. 85). Zweifel an allen Gewissheiten und Skepsis gegenüber jeder Eindeutigkeit bilden geradezu eine Richtschnur im Labyrinth seines poetischen Vexierspiels, wie es das Gedicht Ein aufhellendes Denken: ein lichtscheues exemplarisch verdeutlicht: „Es kann alles geben, / nur nicht das eine / ohne das andere // Solange Du Recht hast, / bist du nicht im Recht // Eindeutiges kann nur gutheißen, / nicht wahrnehmen // Nicht alles Erhellende / ist schon ‚mehr Licht‘.“ (S. 77)

Erhellendes? Erst der radikale Zweifel, das entschlossene Aufgeben festen Bodens, macht Erkenntnis möglich: „Um auf den Grund zu kommen, / muss man an Boden verlieren.“ (S. 95) Und auch diese Erkenntnis ist nicht von Dauer, denn: „Das Erhellende ist ein Johannisfünkchen.“ (S. 144) Oder auch: „‚Immer‘ wie ‚nie‘ / gehören nicht gesprochen.“ (S. 200). Denn es gilt: „Meine Stärke: / Ich korrigiere mich ständig / und laufend.“ (S. 295). Eindeutiges wird man vergeblich suchen: „Wer seinen Weg geht, / geht ihn auf vielen Wegen“ (S. 116). Und man kann, so darf man ergänzen, diesen Weg nur gehen, wenn einem die Vergänglichkeit allen Lebens dauerhaft bewusst bleibt – eine essentielle Einsicht, die „den Deutschen abhandengekommen“ sei, wie der Dichter unter Verweis auf Hiob 14, 1–2 / Zwingli formuliert: „Der Mensch, vom Weibe geboren, / ist kurzen Lebens und voller Unruhe. / Wie eine Blume geht er auf und welkt, / schwindet dahin wie ein Schatten / und hat nicht Bestand.“ (S. 131) Abhandengekommen ist ihnen auch, Benyoëtz hat es schon mehrfach betont, die Liebe – zu sich selbst und zur eigenen Sprache: „Die Deutschen lieben heute / sich und ihre Sprache / weniger denn je.“ (S. 235) Dabei ist ein gesundes Maß an Selbstliebe, sind Lebensfreude – „Bei gutem Wein, / scheiden die Schnapsideen aus.“ (S. 15) – und Selbstvertrauen – „Lass dich gehen, / man wird dir schon folgen.“ (S. 34) – doch elementar wichtig!

Die letzten 65 Seiten von Fazittert bestehen aus Anmerkungen, und wer sie ignoriert, der versäumt Wesentliches. Wie auch in anderen Büchern des Dichters kommt man nicht umhin, seine Anmerkungen und Belege als allerfeinste Anregungen aufzufassen, Anregungen zum Weiterlesen, zum Weiterforschen, zum Sich-Verlieren in den Weiten der Weltliteratur. Als Beispiele ließen sich die Liebeserklärung an Jakob Haringer (S. 365), der Hinweis auf Hans Arno Joachim (S. 376) und vor allem die Bemerkungen über Paul Heyse (S. 394–399) anführen. Einmal mehr lässt sich aus einem Poesie- und Denkwerk von Elazar Benyoëtz erheblicher Gewinn schöpfen. Trotz der angedeuteten Einwände: Fazittert ergänzt das Bild des noch immer zu wenig bekannten israelischen Dichters auf nicht nur intellektuell anregende Weise – und erweist sich am Ende so unerschöpflich wie das Meer.

Klaus Hübner

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2022), Jg. 17, IKGS Verlag, München, S. 239–241.

 

[1] Christoph Grubitz: Benyoëtz, Elazar. In: Andreas B. Kilcher (Hg.): Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Stuttgart, Weimar 2000, S. 58–61, hier: S. 59.

[2] Ebd., S. 58.

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