Die siebenbürgische Dramatikerin Elise Wilk im Porträt
Von Christine Chiriac
Zeitdruck und Reisen sind zwei feste Bestandteile im Leben der Dramatikerin Elise Wilk – und meistens kommen beide gleichzeitig vor. Als ich sie kurz vor Weihnachten traf, saß sie im Zug von Kronstadt (rum. Brașov) nach Hermannstadt (rum. Sibiu) vor ihrem knallroten Reiselaptop und arbeitete konzentriert an mehreren Texten: zum einen an ihrem Bühnenstück Kalt im Auftrag des Theaters Niklasmarkt (rum. Gheorgheni), zum anderen an Artikeln für die Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien und die Karpatenrundschau, deren Kronstädter Redaktion sie seit 2015 leitet. Zwischendurch fotografierte sie verschneite Bahnhöfe, beobachtete skurrile Zuggäste und telefonierte mit jemandem vom Hermannstädter Staatstheater, wo am selben Abend eines ihrer Stücke aufgeführt werden sollte.
Als ich sie fragte, wann sie zum letzten Mal eine ganze Woche zu Hause in Kronstadt verbracht hat, musste sie erst einmal überlegen. Es mache ihr großen Spaß, unterwegs zu sein, sagte sie, und lange Zugfahrten seien perfekt, um in Ruhe arbeiten zu können. »In Ruhe« bedeutet für Elise Wilk »im Großraumabteil« und »knapp vor Abgabetermin«. Nach ausgedehnten Recherche- und Nachdenkphasen, in denen sie vor ihrem inneren Auge die Figuren und Situationen entstehen lässt, bringt sie innerhalb kurzer Zeit alles zu Papier. So war es zum Beispiel mit dem Manuskript ihres Stücks Avioane de hârtie [Papierflieger, 2015]. Sie reichte es wenige Stunden vor Ablauf der Frist ein und gewann damit den rumänischen Dramatikerwettbewerb in Temeswar (rum. Timișoara). Ähnlich war es mit ihrem allerersten Stück, S-a întâmplat într-o joi [Es geschah an einem Donnerstag, 2008], das mit dem rumänischen Dramatikerpreis »dramAcum« ausgezeichnet wurde.
Seither sind zehn Jahre vergangen, und Elise Wilk gilt heute als eine der erfolgreichsten und meist aufgeführten rumänischen Dramatikerinnen. Ihre Stücke waren bereits in New York, Perm, Berlin, Oslo, Florenz und Paris zu sehen, sie wurden ins Ungarische, Bulgarische, Tschechische, Griechische und in viele andere Sprachen übersetzt. Allein Papierflieger wurde aus dem Rumänischen in sechs Sprachen übertragen und in Rumänien acht Mal inszeniert. Das Stück Crocodil [Krokodil, 2017] gewann letztes Jahr den einzigen rumänischen Wettbewerb für Einpersonenstücke in Bacău und wurde in dieser Spielzeit im dortigen Bacovia-Theater uraufgeführt. Mit Exploziv [Explosiv, 2015] gelang Elise Wilk eine Adaption der Bakchen von Euripides, bei der sich Pentheus, Agawe und Dionysos (in Wilks Fassung: Denis) in einer rumänischen Eliteschule begegnen und mit anonymen, typisierten Figuren wie »die Schöne«, »die Streberin« und »der Prügler« konfrontiert werden. Das Stück feierte 2016 in der Regie von Andrei Măjeri in Craiova Premiere und wurde seither rund fünfzig Mal gespielt. Auch gewann es als Hörspiel-Adaption des Rumänischen Rundfunks (Regie: Mihnea Chelariu) den Asia-Broadcast-Union-Preis in China. Ein weiterer Höhepunkt in der Karriere der jungen Dramatikerin war die Inszenierung des Stücks Die grüne Katze [Pisica verde, 2012] als deutschsprachige Erstaufführung am Jungen Schauspielhaus Zürich (Regie: Enrico Beeler, 2015), einer Spitzenadresse des zeitgenössischen Theaters. Die grüne Katze wurde vom Schweizerischen Rundfunk als Hörspiel produziert (Regie: Paivi Stadler) und ging im Januar in der Regie von Yiannis Paraskevopoulos erstmals im griechischen Kozani über die Bühne.
In Rumänien werden Wilks Werke aber nicht nur in rumänischer Sprache dargeboten. Zurzeit werden Es geschah an einem Donnerstag und Papierflieger auf Ungarisch im »Yorick Studio« in Neumarkt am Mieresch (rum. Târgu Mureș) gezeigt (Regie: Aba Sebestyén), während auf dem Spielplan des Hermannstädter Gong-Theaters das Stück Kinderzimmerzauberei (Regie: Leta Popescu) steht. Dieses ist als Auftragswerk für Kinder entstanden und ist der erste Bühnentext, den Elise Wilk in deutscher Sprache verfasst hat. »Wenn ich ihn auf Rumänisch geschrieben hätte, wäre er wohl ganz anders geworden«, sagt Wilk. »Aber Deutsch ist eine Sprache, mit der man wunderbar spielen kann!« So entstand die Geschichte einer ungeschickten Fee, die aus Versehen in das Kinderzimmer eines apathischen Jungen gelangt, wo sie einen intelligenten Staubsauger trifft; dazu gesellen sich ein glitzernder Meteorit und ein singendes Flugzeug, und es entsteht eine Freundschaft jenseits aller Unterschiede.
Die Fee, die in den achtziger Jahren in Elise Wilks eigenem Kinderzimmer zugange war, muss sehr geschickt und wohlgesinnt gewesen sein. Denn schon als kleines Mädchen wusste die Dramatikerin, dass sie Schriftstellerin werden wollte – und der Wunsch ging in Erfüllung. Als Zweitklässlerin verfasste sie ihren ersten »Roman« über Außerirdische, später schrieb sie Gedichte über Familienmitglieder und entwarf ihr erstes Stück für die Theatergruppe des Kronstädter Johannes-Honterus-Lyzeums. Die 1981 geborene Elise Wilk, die zweisprachig aufgewachsen ist, absolvierte den deutschsprachigen Journalismus-Studiengang in Klausenburg (rum. Cluj-Napoca), arbeitete sechs Jahre für rumänische Tageszeitungen in den Ressorts Politik, Investigation und Online, weitere vier Jahre in einer Pressestelle und als Kulturmanagerin – und wechselte schließlich zurück zum Journalismus. Dem literarischen Schreiben widmete sie sich erst nach den Hochschuljahren in Klausenburg. Sie studierte im Master Literatur und Kommunikation in Kronstadt und verfeinerte ihr Handwerk im weiterführenden Studiengang für Szenisches Schreiben an der Theateruniversität Neumarkt.
In ihren Texten geht es um einfache Menschen und ihren farblosen Alltag, um traumatisierte, vereinsamte, geistesgestörte oder gehässige Figuren, die inmitten einer gähnenden Banalität ihre Orientierungslosigkeit auszuhalten oder zu kompensieren versuchen. Eins sind sie sicherlich nicht: glücklich. Elise Wilk konfrontiert ihre Zuschauer mit Themen wie Mobbing in der Schule, Homophobie und dem Schicksal verlassener Kinder, deren Eltern im Ausland arbeiten. Die Handlung spielt in der Regel in anonymen Provinzstädten, in denen ein trister Postsozialismus voller Plattenbauten das Stadtbild prägt.
Manche Stücke haben starke Bezüge zu Rumänien – so zum Beispiel das Mockumentary Frig. Patru întâmplări neadevărate din Gheorgheni [Kalt. Vier unwahre Geschichten über Gheorgheni, 2017]. Es geht um eine halb dokumentarische, halb erfundene Parodie über die lokalen Stadtlegenden, um düstere bis schräge Gestalten, um Kartoffelschnaps, Eishockey, Mineralwasserquellen und Schmalzbrot mit Zwiebeln. Andere Stücke wiederum sind hinsichtlich ihrer Schauplätze und Figuren sehr allgemein gehalten – das Camera 701 [Zimmer 701, 2013], in dem vier atypische Liebesgeschichten spielen, könnte sich im jedem Hotel der Welt befinden.
Ihre Inspiration nimmt Elise Wilk aus dem Alltag, aus guten Büchern, Aufführungen und Filmen, aus ihrer journalistischen Arbeit. Zudem hat sie einen ausgeprägten Geschmack für das Absurde in Rumänien und für all das, was das Land so einzigartig macht. Vor allem im Ressort Investigation konnte sie eine ganze Reihe von bizarren Menschen und Situationen erleben: Fast wäre es ihr gelungen, in einem Dorf bei Fogarasch (rum. Făgăraș) »ein Kind zu kaufen«; ein Mann, der seine Familie verlassen hatte, um Madonna in der weiten Welt zu suchen, gab ihr den schöpferischen Impuls für Durata medie de viață a mașinilor de spălat [Die mittlere Lebenserwartung der Waschmaschinen, 2010].
»Journalismus und Theater haben viel mehr gemeinsam, als man auf den ersten Blick meinen würde«, so Elise Wilk. Man müsse als Theaterautor und als Journalist stets auf dem Laufenden sein und ausführlich recherchieren, am besten unmittelbar in den Milieus, über die man schreibt. »Gute Theaterstücke und gute Reportagen beruhen auch auf der Kunst des Autors, das Wesentliche spannend darzustellen, sodass der Leser oder Hörer eben nicht wegklickt, die Zeitung beiseitelegt oder das Radio ausmacht«, argumentiert die Dramatikerin. Zudem müsse man auf die Menschen zugehen können. Deshalb nimmt Elise Wilk gerne an Proben teil, testet die Texte mit den Schauspielern aus, überprüft, ob die Dialoge natürlich klingen, lässt Stücke von erfahrenen Regisseuren gegenlesen und überarbeitet Stellen, die schwer auszusprechen oder darzustellen sind. »Die Schauspieler müssen den Text sehr gut verstehen und genau wissen, warum sie zu einem bestimmten Zeitpunkt der Handlung einen bestimmten Satz sagen«, erklärt Wilk. »Wenn dies nicht der Fall ist, rezitieren sie nur einen Text, statt eine Person zu verkörpern.«
Die grüne Katze hat die Dramatikerin eigens für eine Gruppe von sechs jungen Schauspielern geschrieben. Um ihnen den Zugang zu den Rollen zu erleichtern, entschied sie sich für eine Geschichte, in der es um Fragen der Jugendlichen in der heutigen Welt geht. Das Publikum war jenseits von Alters- und Ländergrenzen begeistert. »Sechzehnjährige identifizierten sich mit den Figuren, Eltern erkannten ihre eigene Jugend oder die Probleme ihrer Kinder wieder, Lehrer sahen sich in der Handlung des Stücks mit Situationen konfrontiert, die sie auch im Berufsalltag meistern müssen«, fasst Elise Wilk zusammen. Als sie merkte, dass sie thematisch einen Nerv getroffen hatte, entschloss sie sich, weitere Jugendstücke zu schreiben. So entstanden Papierflieger und Krokodil, die gemeinsam mit Die grüne Katze eine Trilogie bilden.
Doch Erfolg ist für Elise Wilk nicht das Wichtigste. »Für mich ist es eine große Freude, wenn mir ein unbekannter Mensch schreibt, dass ihn eins meiner Stücke bewegt hat«, sagt sie. »Der Hauptdarsteller von ›Papierflieger‹ in Bukarest hat sich ein kleines Flugzeug tätowieren lassen, weil er dank dieser Rolle eigene Kindheitstraumata aufarbeiten konnte. Das hat mich sehr gerührt.« Die Dramatikerin kann aber auch von weniger angenehmen Erfahrungen berichten. In Petroșani wurde sie von einer Inszenierung überrascht, die nur noch wenig mit ihrem Text zu tun hatte. Der Regisseur hatte das Stück gekürzt, Lieder und Tänze hinzugefügt – und einen Teil der Zuschauer aus dem Saal verschreckt. In Craiova kam ein Kritiker zur Premiere, setzte sich in die erste Reihe, und »schlief tief und fest, bis das Stück zu Ende war«, ärgert sich Wilk. »Schade finde ich es auch, wenn Menschen während der Aufführung ins Handy tippen. Aber leider ist das heutzutage allgegenwärtig.«
Die Dramatikerin findet die rumänische Theaterszene kreativ und anregend. »Es gibt sowohl im staatlichen als auch im unabhängigen Bereich hervorragende Projekte, viel Offenheit für Neues, sehr gutes politisches und Dokumentartheater«, freut sie sich. »Ich höre oft die Frage, warum der rumänische Film viel bekannter ist als das rumänische Theater – aber das liegt sicherlich nicht an der Qualität der Produktionen, sondern daran, dass man Theater nur sehr schwer ›exportieren‹ kann. Es gibt ein paar große Festivals, die es sich leisten können, aber das war’s. Für kleinere Häuser sind die Kosten enorm.« Als großes Manko in der rumänischen Theaterlandschaft betrachtet Wilk die Lage des Kindertheaters. »Da sind zum Teil noch dieselben Stücke zu sehen, die wir als Kinder gesehen haben«, kritisiert sie. »Mit wenigen Ausnahmen sind die Produktionen verstaubt und altmodisch. Die Intendanten entschuldigen ihre Bequemlichkeit damit, dass die Zuschauer ›nur‹ Kinder sind. Dabei täte man gut, sich mehr zu bemühen, denn Kinder sind ein wichtiges Publikum und im besten Fall die Theaterbesucher von morgen.«
Ihr Interesse für das Jugendtheater nimmt Elise Wilk nun zum Anlass für eine wissenschaftliche Untersuchung. Nachdem sie schon eine Masterarbeit über das Thema Jugend in der zeitgenössischen rumänischen Dramatik verfasst hat, befasst sie sich seit letztem Jahr als Doktorandin mit dem Jugendtheater in Rumänien. Ihr nächstes Stück soll aber nicht mehr von Jugendlichen handeln, sondern von Terrorismus und Radikalisierung. Außerdem übersetzt sie seit fünf Jahren zeitgenössische deutsche Dramatik ins Rumänische und möchte diese Tätigkeit ausbauen. Bisher eröffnete sie Texten von Marius von Mayenburg, Armin Petras, Roland Schimmelpfennig und Anatol Vitouch den Weg zum rumänischen Publikum.
»Senkrechtstart« wäre wohl die passendste Überschrift für Elise Wilks Karriere seit dem ersten Theaterstück vor zehn Jahren. Auf die Frage, wie das alles möglich war, antwortet sie mit einem Schulterzucken: »Keine Ahnung, ich hatte einfach Glück. Ich habe mich bemüht – aber ohne Glück hätte es nicht geklappt. Es hängt eigentlich nicht von mir ab.« Nach den ersten Erfolgen habe sie sich zunächst unter Druck gesetzt, nur noch »sehr gut« zu schreiben. Wie sie heute feststellt, war es eine Ausrede, um sich selbst im Weg zu stehen, »denn niemand schreibt konstant sehr gute Sachen. Ich fände es schrecklich, Auftragswerk nach Auftragswerk zu schreiben und mich irgendwann nur noch zu wiederholen. Lieber weniger – und besser!«
Im deutschsprachigen Raum sind Elise Wilks Theaterstücke im Verlag »Theater der Zeit« erschienen. Die grüne Katze und Papierflieger (übersetzt von Ciprian Marinescu und Frank Weigand), sowie Zimmer 701 (übersetzt von Daria Hainz) können online erworben werden. Die mittlere Lebenserwartung der Waschmaschinen (übersetzt von Dete von Ferber) ist in der Spielzeit 2018/2019 im Theater Neuss in Nordrhein-Westfalen zu sehen.
Christine Chiriac ist Politikwissenschaftlerin (M. A.), promoviert im Bereich der Schulbuchforschung und ist seit zehn Jahren als Journalistin für deutschsprachige Medien in Rumänien tätig.
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2018), Jg. 13 (67), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 194–199.