Helmut Erwert: Elli oder Die versprengte Zeit. Roman. Aachen: Patrimonium-Verlag 2017. 326 S.
Von Márta Magyar
Helmut Erwert wurde 1933 im jugoslawischen Weißkirchen (serb. Bela Crkva) im Banat geboren. Die dramatischen Umstände seines Lebens im serbischen Banat zwangen ihn nach eigener Angabe dazu, diesen Roman zu schreiben: Er war ein Flüchtlingskind einer alleinerziehenden Mutter in Niederbayern mit Großeltern, die als Kriegsverbrecher galten.[1]
Der Roman Elli oder Die versprengte Zeit basiert also auf Autobiografischem und geht auf historische Hintergründe ein. Die Erzählung reflektiert das vergangene Jahrhundert und die zwei Weltkriege in Südosteuropa. Im lebhaften Erzählton bietet er den Lesern einen Rückblick auf die 1930er- und 1940er-Jahre, die kriegerische Unterwerfung Jugoslawiens im Jahre 1941 durch das Dritte Reich und den Einmarsch der Roten Armee im Oktober 1944. Der Roman ist in fünf Kapitel aufgeteilt; am Ende jedes Kapitels stehen Fotos, die die Geschichte illustrieren. Ganz hinten findet sich eine vom Autor zusammengestellte Auswahl von wichtigen historischen Ereignissen (S. 321).
Im Mittelpunkt steht Elli, die mit einem geflohenen jugoslawischen Fliegeroffizier namens Tihomir Ivković im Briefwechsel gestanden hat. Die Geschichte spielt in der Kleinstadt Weißkirchen und spiegelt zunächst das harmonische Zusammenleben vieler Ethnien: Serben, Kroaten, Tschechen, Roma und Deutsche. Religiöse Bräuche, kulturelle Veranstaltungen und Zeremonien wie Hochzeiten, Erntefeste oder Karneval werden bildhaft dargestellt: „Mit Sonderzügen waren tausende Schaulustige in die Stadt gekommen, bewunderten die Schauwagen, Musikkapellen, Reitergruppen des Karnevals. […] Am Hochzeitstag schaukelten 28 Kutschen und Fiaker in langer Entourage zur Kirche.“ (S. 26)
Der Erzähler ist Ferdinand Weinhöpl, der vom Brüsseler Diplomaten Jérôme um Hilfe gebeten wird, um über das Leben von Elli Informationen zu sammeln. Die Geschichte lässt sich sehr gut lesen, und die Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Fäden sind leicht herzustellen.
Die zunächst idyllisch anmutende Geschichte wendet sich ins Negative: Das harmonische Leben der Gemeinde mündet in eine hoffnungslose Begegnung mit dem Krieg. Die politische Lage, die wirtschaftlichen Veränderungen werden sehr ausführlich beschrieben, die Alltagsschwierigkeiten werden minutiös aufgezeigt, so zum Beispiel die Krise des Geschäfts von Elli und ihrem Ehemann Johann, die dadurch entsteht, dass die Grenzen geschlossen werden und keine Ware mehr ins Dorf geliefert werden kann.
Die Handlung kommt wegen der zu ausführlichen Darstellung der Gegend, Gefühle, Geschehnisse sehr langsam voran. Der Autor verliert sich an manchen Stellen in Einzelheiten, so dass man durch die zu detaillierte Beschreibung streckenweise das Interesse an der sonst spannenden Geschichte verliert. Diese wird von einem aufregenden, dramatischen und romantischen Faden aufrechterhalten, was sich durch die geheimnisvolle Liebe zwischen dem Piloten Tihomir und der Hauptfigur ergibt. Neben dieser romantischen Schiene kommt im zweiten und dritten Kapitel dem Einmarsch der Deutschen Armee ins Dorf eine zentrale Rolle zu. Dabei werden die Gefühle und Meinungen der Figuren in den Fokus gerückt und unter anderem die Sprache der Hitlerjugend und die Frage der Kollektivschuld reflektiert. Die Zeit der Güterkonfiszierung durch russische Soldaten Ende Dezember 1944 wird am Beispiel von Ellis und Johanns Haus veranschaulicht: „Der LKW schob sich am Eismausoleum vorbei in den Hinterhof. Rotarmisten sprangen ab, spannten Kabelschnüre über den Torbogen, andere gingen durch den Rosengarten, brachen die Tür zum Hausgang auf, trugen den Tisch aus dem weißen Zimmer, stellten den Ballon Spiritus aus dem Magazin darauf, brachten Schüsseln, Teller, Gläser und Steinguttassen herbei und trampelten dabei Ellis Buchsbaumeinfassungen und die Rosenbete nieder.“ (S. 255)
Die Hauptperson nimmt an diesen Ereignissen nicht teil, sie ist mit ihrem Kind nach Deutschland geflohen, so dass ihr die Verschleppung und die Zwangsarbeit erspart bleiben, nur ihr Mann muss in den Krieg, was bereits früher erzählt wird. Hierzu bemerkt der Erzähler: „Ich segne Ellis Entscheidung zur Flucht. Was hätte ihr und ihren Kindern hier geblüht?“ (S. 255) Vielleicht wäre auch sie zur Zwangsarbeit verschleppt worden, ihre Kinder hätten ohne Mutter aufwachsen oder sterben müssen. Genau durch diese unbeantworteten Fragen macht der Autor die Geschichte so spannend.
Das zu Beginn beschriebene pulsierende, harmonische Zusammenleben der Völker, das sich drastisch zum Schlechten verändert hat, bleibt am Ende nur ein Wunsch. Die Liebe Ellis zu Tihomir, dem Piloten, der lieber seinem Ruf folgt und keine Beziehung eingeht, bleibt unerfüllt. Trotz Ellis neuer Beziehung zu Johann denkt sie oft an ihren ehemaligen Geliebten. Wir erfahren am Ende beim Besuch des Piloten, dass Johann gestorben ist: „Eine Gruppe Partisanen habe ich beschützt, nach der Kapitulation sei er ihr Verbindungsoffizier gewesen, habe die Begleitung der Auslieferungstransporte nach Jugoslawien organisiert, mit deutschen Kriegsgefangenen gesprochen, auch über den Unfall.“ (S. 304)
Obwohl Ellis Ehemann nie zu ihr zurückkehren kann und der Pilot seinen Platz zu übernehmen hofft, steht die unermessliche Trauer der Frau zwischen den zwei ehemaligen Geliebten. Dieser romantische Faden ist sowohl einzigartig als auch ein Beispiel dafür, was Frauen im Krieg durchmachen mussten. Die anfängliche Liebesgeschichte endet in einer Tragödie, denn am Ende stirbt auch die vereinsamte Hauptperson: „Gegenüber dem Fenster entdeckten wir Elli in der Ecke des Sofas, zwischen Kissen niedergesunken, die Augen starr zur Zimmerdecke gerichtet, und mein Herz begann zu rasen. Der herbeigerufene Arzt konnte nur noch den Tod feststellen. (S. 314)
Der Roman ist gut strukturiert und aufgebaut, die Handlungsstränge sind deutlich und können gut verfolgt werden, die Figurenkonstellation ist interessant und spielerisch aufgebaut. Das pulsierende Dorfleben und die Kriegszustände sind realitätsnah dargestellt, so dass sich der Leser in die Handlung hineinversetzen kann. Der Roman kann trotz stellenweise ins Stocken geratener Handlung als spannende Lektüre weiterempfohlen werden.
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2020), Jg. 15, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 273–275.
[1] Vgl. Stefan P. Teppert: Helmut Erwert legt mit „Elli oder Die versprengte Zeit“ einen vielschichtigen zeitgeschichtlichen Roman vor. In: Siebenbürgische Zeitung Online, 4.4.2018, ˂https://www.siebenbuerger.de/zeitung/artikel/kultur/18706-helmut-erwert-legt-mit-elli-oder-die.html˃, 12.2.2020.