Leben verkehrt gelesen ergibt Nebel, und Hesse meint in seinem gleichnamigen Gedicht, Leben heißt einsam sein. Zeitweise und mancherorts vielleicht. Selten jedoch dürfte sich die Einsamkeit so vertrieben vorkommen wie im siebenbürgischen Pfarrhaus von Rothberg/Roșia, obwohl dies Dorf auch den Anspruch auf transsilvanische Gottverlassenheit erheben könnte. Wenn da nicht ein evangelischer Pfarrer dann und wann in seiner Kutsche oder im Pferdeschlitten vorbeigleiten würde. Und einen berühmten Gast von irgendwo aus der Welt neben sich sitzen hat. Und kameradschaftlich winkt nach links und rechts. So etwas spricht sich herum, wird fotografiert, kommt in die Zeitung. Kein verlassener Ort also, vielleicht sogar ein gottbelassenes Dorf. Nicht von ungefähr, denn der liebe Gott wird täglich in die robuste Uraltkirche zum versöhnlichen Zwiegespräch eingeladen, kommt auch, was nicht selbstverständlich ist, bei der zerbröselten Kirchengemeinde. Wenn sich auch die Schafe in der Ferne verlaufen haben, so hindert das den Hirten nicht, hier zu Hause für sie zu beten, ja den Allmächtigen in die Pflicht zu nehmen. Auch Gott habe das Recht, sich zuweilen gelangweilt zurückzuziehen, meint der umsichtige Seelsorger, denn spannendes Tagewerk gibt es anderswo mehr als genug. Darum sollen in seiner Kirche, die wohlgemerkt im Dorf gelassen wurde, nicht nur die versammelten Ahnen, auch die willkommen geheißenen Verstoßenen, dazu mehr oder weniger heiliges Pack, Geister aller Art, kurz ein biblisches Krethi und Plethi unterhalten werden. Und da tritt ein Fachmann vor den Altar.
Die Worte waren lange unterwegs. Sie liefen dem Studenten voraus, wurden dann über zwei Jahre gewaltsam zum Schweigen gebracht, mussten sich nachher gegen Gerüchte und Bösartigkeit behaupten, verschafften sich langsam wieder Gehör, geboten bald über einen Zuhörerkreis, bis sie gedruckt schwarz auf weiß das Sagen hatten. Jene Jahre, schon weit aber unvergessen, verklären sich selbst zu Legenden aus dem Kommunismus, das Erzählen damals war der Ersatz zum Handeln, man hob ab wie der berühmte Raketenlandsmann aus Schäßburg/Sighișoara. Was wurde da gelacht im Kreuz- und Quergang durch die Geschichte, Anekdoten erwachten in den Träumereien an sächsischen Kaminen, Helden mussten an den Haaren in die Rumpelkammer gezogen werden, und oft fiel dem Hausherrn in Freck/Avrig oder Rothberg der Taktstock aus der Hand bei so viel Stimmengewirr, doch seine Frau Susanne schüttelte nur den klugen Kopf, den wie ein Strohhut Klaviermusik umgab: reden, reden, reden … Jetzt schließen die Bücher ihre Arme um das Gewesene. Nehmet hin und leset! Dies ist mein Buch, das für euch geschrieben und hingegeben wird zur Vergebung … ja welcher Sünden? Zuerst hat er ein Bilderbuch aufgezeichnet, dann eine Verteidigungsschrift wie einen Wegweiser aus der Hand gegeben, weiter in des Nachbars Garten gepfiffen und wird nicht müde, wieder mit vollen Taschen aus der Schatzkammer seines Gedächtnisses zu treten. Begrüßt von Wartenden wie zum 90. Geburtstag: Herzlich willkommen Eginald Schlattner!
Frieder Schuller
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 240–241.