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George Guțu: Celaniana – Band 1 und 2 (Literaturwissenschaft, Bd. 86 und 87) | Rezension

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George Guțu: Celaniana – Band 1 und 2 (Literaturwissenschaft, Bd. 86 und 87). Berlin: Frank und Timme 2020. 532 S.

Die 2020 beim Berliner Verlag Frank und Timme veröffentlichte Studie des emeritierten Bukarester Universitätsprofessors und Bukowina-Forschers umfasst zwei Bände, wobei der erste Paul Celans früher Lyrik und dem geistigen Raum Rumäniens, der zweite der Lyrik Celans und der rumänischen Dichtung der Zwischenkriegszeit gewidmet ist. Wohl berechtigt wird als Motto zum zweiten Band eine Aussage gewählt, welche Defizite bei der Rezeption Rumäniens in der westlichen Kultur- und Literaturforschung entlarvt und die Bedeutung der rumänischen Kultur beziehungsweise ihren Beitrag zu Europa betont. Es sei für die Celan-Exegese umgekehrt nicht selbstverständlich, dass man die rumänische Literatur kenne, weil man das nicht brauche. Dem gleichen hegemonialen Umgang mit europäischem Kulturerbe beziehungsweise einer wissenschaftlichen Ignorierung oder Ignoranz ist auch die 1977 in Leipzig verteidigte und als Typoskript veröffentlichte Dissertation George Guțus zum Opfer gefallen, denn lange wurde sie von der binnengermanistischen Forschung nicht beachtet oder man hat daraus Ergebnisse übernommen, ohne auf die Quelle zu verweisen: Der Autor setzt sich auf vielen Seiten mit Barbara Wiedemann-Wolf auseinander und weist mit gründlichen wissenschaftlichen und ethischen Argumenten ihre Einwände ab beziehungsweise belegt anhand des Briefwechsels mit ihr unerlaubte Übernahmen aus seiner Promotionsschrift sowie Fehldeutungen und Entstellungen in seiner Hermeneutik. Solch ungünstige Rezeptionsverhältnisse beziehungsweise Missbräuche seiner Dissertation gingen darauf zurück, dass die Arbeit als handelsübliche Herausgabe aus autorenrechtlichen Gründen erst nach der Wende 1989 dem Publikum zur Verfügung gestellt werden konnte und durfte, und zwar unter den widrigen Umständen, dass Rumänien (wie noch leider bis heute) über wenige international sichtbare wissenschaftliche Verlage verfügte. Der erste Band erschien 1990 bei der Druckerei der Universität Bukarest, der zweite 1994 beim Universitätsverlag.

Auf diese Schrift gehen auch die 2020 erschienenen beiden Celaniana-Bände zurück. Wie bereits im Vorwort erwähnt, gilt das Augenmerk der »Werkgenese in ihren Verstrickungen mit dem Herkunftsraum«, untersucht werden sollen nicht nur die motivischen Verwandtschaften, sondern vielmehr die »kultursemantischen Implikationen« (I, S. 15) und hiermit der Einfluss des rumänischen und auch des bukowinadeutschen Literatur- und Kulturraums, denn, so die Hauptthese, die rumänische Koordinate durchziehe das ganze Werk Celans. Der Autor verweist dabei auf einen wenig bekannten, in der Bukarester Zeitschrift Neue Literatur 1975 veröffentlichten Brief an Alfred Margul-Sperber, in dem Celan sich zum Verhältnis zwischen seinem Herkunftsraum und seinen späteren Daseinsbestimmungen äußert – »mein Weg [führte] mich, den […] karpathisch Fixierten – weit ins Transkarpathische hinaus […]«. (I, S. 43) Zugleich hebt er die Verschränkung zwischen dem osteuropäischen und dem westeuropäischen Kulturraum hervor, wobei diese Grenzüberschreitung weit über den Rahmen des heimatlichen Eigenen hinausgeht und eine Dynamik der Transgression auszeichnet, die ins Außereuropäische, ins Dichterisch-Absolute abgleitet.

In der Einführung zu Celaniana 1 werden im ersten Kapitel Celans Lebensstationen als U-Topoi dargestellt, das zweite Kapitel beleuchtet die Koordinaten seines Werkes als jüdischer Dichter, seine Begegnung mit der französischen Literatur und sein Verhältnis zur Mystik. Im Hauptteil wird auf (noch bis heute) wenig bekannte frühe und früheste Gedichte Celans eingegangen, wobei Guțu der Genesis der Celanschen Hauptmotivik (Mutter – Schwester – Geliebte; Träne; Schlaf – Tod; Zeit; Wort) nachgeht. Die surrealistische Schaffensphase sowie deutliche Hinweise auf den geografischen und geistigen Raum Rumäniens werden in den nächsten Unterkapiteln belegt. Das zweite Kapitel des Hauptteils ist den rumäniendeutschen Weggefährten gewidmet. Der Autor geht auf drei inzwischen in der westeuropäischen Bukowina-Forschung bekannt gewordene Dichter (Alfred Margul-Sperber, Alfred Kittner, Immanuel Weissglas) ein, wobei er oft überraschende thematisch- motivische Ähnlichkeiten sowie Verwandtschaften im sprachlichen Ausdruck zwischen ihnen und Celan feststellt. Bei Sperber entdeckt Guțu beispielsweise »poetische Bausteine«, die die Celansche Sprache vorbereitet zu haben scheinen. (I, S. 158) Zwei Anhänge runden den Band ab: Der erste enthält bibliografische Angaben zu den Dichtern, im zweiten werden Erstveröffentlichungen abgebildet: frühe Gedichte und Briefe Celans, rumänisch verfasste Gedichte und Texte sowie rezeptionsgeschichtlich relevante Texte.

Die Hauptaufgabe der gesamten Untersuchung besteht darin, die zwischen Celan und der Kulturlandschaft Rumäniens bestehenden Beziehungen und Einflüsse zu erforschen und diese in ihrer »weltanschaulichen, kulturgeschichtlichen und ästhetischen Relevanz« (I, S. 77) sichtbar zu machen. Näher beleuchtet werden soll der Niederschlag der rumäniendeutschen und rumänischen Dichtung im Werk Paul Celans. Dabei bedient sich der Autor eines komparatistischen und kulturmorphologischen Analyseverfahrens, wobei sechs »wahlverwandschaftlich nahestehende« (ebd.) Dichter einbezogen werden. Anhand einer diese Weggefährten verbindenden Motivtypologie möchte Guțu beweisen, dass die Lyrik Celans in einen gedanklichen Entstehungszusammenhang eingebettet ist, aus dem sich das literarische Schaffen aller dieser Autoren speist. Die offensichtlichen Ähnlichkeiten in der Themenwahl und Motivik, ja sogar in den Darstellungsmöglichkeiten und den Entscheidungen für ähnliche künstlerische Lösungen gehen auf einen kongenialen Schöpfungszusammenhang zurück, der sich durch die Lage der Bukowina als Begegnungsstätte von verschiedenen Ethnien, Kulturen, Sprachen und Literaturen erklären lässt. Darüber hinaus sind Celans Kontakte mit den rumänischen Literaten nicht nur während seines Bukarester Aufenthaltes zwischen 1945 und 1947 belegt, sondern bereits früher in seinem Czernowitzer Gymnasium, wo er beispielsweise auf die Lyrik Tudor Arghezis aufmerksam gemacht wird. In der Czernowitzer Presse wurden bereits um 1900 neben deutschen auch rumänische Autoren veröffentlicht und rezipiert, später in der Zwischenkriegszeit avancierte die rumänische Kulturbühne zu einem bedeutenden interkulturellen Austauschforum. Celans Lyrik »wuchs also auch auf dem Hintergrund einer sie fördernden, nährenden, mit einem Wort katalytischen rumänischen Dichtung«. (II, S. 28)

Celaniana 2 bietet wertvolle, ausführliche hermeneutische Zugänge zur Lyrik der bedeutendsten rumänischen Dichter der Zwischenkriegszeit – Alexandru Philippide, Tudor Arghezi und Lucian Blaga –, mit deren Schaffen Celan vertraut war beziehungsweise welche er auch dichterisch rezipierte, wie der Verfasser belegt. Die einzelnen, nach Autoren gegliederten Kapitel werden nach motivischen Querverbindungen gestaltet, indem Guțu sorgfältig Gedichte auswählt, die den Leser überzeugend in die Dichtung des jeweiligen Autors einführen, zugleich auch die Wahlverwandtschaften mit Celans Lyrik und das gemeinsame historische und kulturell-ästhetische Repertoire sichtbar machen. Dabei wird betont, dass diese Vorliebe für gemeinsame künstlerische Darstellungsmöglichkeiten von dichterischen »Realitäten« nicht allein in den geistigen Raum der Bukowina oder Rumäniens eingebettet ist, sondern dass alle Dichterkollegen Celans, seien es rumäniendeutsche oder rumänische, sich aus einem europäischen Vorrat an poetischen Traditionen speisen. Nicht nur Kittner oder Sperber, auch Arghezi und Blaga rezipieren die europäische Romantik und die Avantgarde, was ein zusätzliches Bindeglied zwischen ihnen auf europäischer Ebene schafft.

Wenn Guțu bei Philippide eine west-östliche Synthese hervorhebt oder das Bild des Todes oder eschatologische Visionen oder Ansätze zu einer Poesie des Unsagbaren entdeckt, so geschieht dies in einer komparatistisch gelungenen Analyse, die Philippide und Celan mit bedeutenden europäischen Dichtern in Verbindung setzt und auf diese Weise Celans Lyrik in einem komplexen Zusammenhang besser verstehen lässt. Ähnlich wird auch in den nächsten Kapiteln verfahren. Im Umgang mit den Gedichten Tudor Arghezis bemerkt der Autor bei ihm und Celan kontrapunktische Verfahren und eine miteinander verwandte Haltung der Transzendenz gegenüber. Einleuchtend für die heutige Celan-Forschung sind zum Beispiel die Unterkapitel zur Psalmendichtung bei den zwei Autoren, zur Theophanie des Nichts oder zum Ewig-Weiblichen. Auch das Blaga-Kapitel liefert ergiebige Überlegungen zur philosophischen Untermauerung der Werke beider Autoren sowie zu der in der späteren Celan-Forschung untersuchten »Stein«-Poetik.

Der zweite Band endet mit einer Reihe von wertvollen Schlussfolgerungen, die auch die Forschungsergebnisse abrunden. Zwei Anhänge werden nachgestellt, der erste umfasst bibliografische Angaben zu den drei rumänischen Dichtern, im zweiten werden Aufsätze und Untersuchungen im Umfeld der frühen Gedichte und Übersetzungen von Paul Celan veröffentlicht. Es handelt sich um frühe Gedichte, das maschinenschriftliche Konvolut von frühen Gedichten Celans im Bukarester Nachlass von Alfred Margul-Sperber, frühe Übersetzungen und Dokumente zu Symposien, Ausstellungen und Rundtischgesprächen in Bukarest.

Zu den bemerkenswerten Thesen des Buches gehört die Feststellung, dass Celans Verfeinerung des sprachlichen Ausdrucks mit der Wende ins Abstrakt-Hermetische als Destillation seiner Frühdichtung anzusehen wäre, denn er hätte einen »nur interkulturell begreifbaren Mumiensprung« von der östlichen in die westliche Kultur- und Geisteslandschaft erlebt und erst die gewonnene Distanz zum rumänischen Kulturraum hätte ihm »dieses Zurückfinden zu einer Kultur der Essenz« ermöglicht. (II, S. 19) Die spätere Stilisierung wäre ohne die schöpferischen Impulse seiner Dichterkollegen schwer denkbar – welche eben nicht als bloße »Einflüsse« anzusehen sind, sondern als »geschichtlich oder kulturmorphologisch bedingte Entsprechungen sowie interkulturelle, individuell geprägte Überlappungen in der geistig-kulturellen Haltung, in der Mentalität«. (II, S. 15)

Raluca A. Rădulescu

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 111-114.