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Gisela von Bayern, die erste Königin Ungarns

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Von Tobias Weger

In Bayern existieren zahlreiche Orte, die auf mannigfaltige Beziehungen zu Südosteuropa verweisen – über Ereignisse, Persönlichkeiten oder Strukturen. In den Spiegelungen werden im Rahmen der neuen Rubrik Südosteuropäische Spuren in Bayern künftig solche Beziehungsgeschichten vorgestellt. Wir machen in dieser Ausgabe den Anfang mit einer mittelalterlichen Herrscherin, die auch eine Verbindung zur Europäischen Kulturhauptstadt 2023 Wesprim (ung. Veszprém) hatte.

 

„Bajor Gizella“, Gisela von Bayern, die erste Königin Ungarns, wird in der katholischen Kirche verehrt und in politischen Sonntagsreden und Feuilletons bis heute gerne als verbindende Herrschergestalt bemüht, wenn es gilt, die guten Beziehungen zwischen Deutschland und Ungarn zu untermauern. Wie so häufig vermischen sich auch im Fall Giselas Geschichte und Legendenbildung.

Gisela kam um 985 als drittes Kind des bayerischen Herzogs Heinrich aus der Dynastie der Liudolfinger zur Welt, der von späteren Historikern mit dem Epitheton „der Zänker“ (ung. civakodó) belegt wurde. Ihr ältester Bruder Heinrich wurde nach dem Tod Kaiser Ottos III. im Jahr 1002 als Heinrich II. zum deutschen König gewählt und 1014 in Rom zum Kaiser gekrönt. Die übrigen Geschwister schlugen eine geistliche Laufbahn ein: Ihr zweiter Bruder Brun war von 1006 bis 1029 Bischof der Diözese Augsburg, ihre jüngere Schwester Brigida Äbtissin des Klosters Andlau im Elsass, ihr Bruder Arnold Erzbischof von Ravenna und ihre jüngste Schwester Gerberga Äbtissin von Frauenchiemsee. Die Geschwister waren von dem später heiliggesprochenen Bischof Wolfgang von Regensburg zu Frömmigkeit und Demut erzogen worden.

Als Gisela gerade geboren wurde, ließen sich der ungarische Großfürst Géza und sein Sohn Vajk von Bischof Adalbert von Prag christlich taufen. Vajk nahm aus diesem Anlass den Namen des Erzmärtyrers Stephan an. Nach der Chronik des Mönches Hermann von Reichenau aus dem 11. Jahrhundert soll er im Jahr 995 die demnach erst etwa zehnjährige Gisela geheiratet haben. Die spätere historische Tradition hat die Eheschließung auf die Burg Scheyern in Oberbayern verlegt: In der dortigen Burgkapelle sollen sich Stephan und Gisela das Jawort gegeben haben. Einen stichhaltigen Beleg dafür gibt es nicht, nach anderer Überlieferung könnte die Trauung ebenso gut in der damaligen Herzogsstadt Regensburg stattgefunden haben. Gesichert ist nicht einmal Stephans persönliche Anwesenheit in Bayern, dynastische Ferntrauungen waren im Mittelalter nicht außergewöhnlich.

Scheyern, im 12. Jahrhundert Mönchen des Benediktinerordens übereignet, gilt als mittelalterliche Stammburg der späteren Wittelsbacher Dynastie, und sowohl das bayerische Herrscherhaus als auch das von ihm protegierte Kloster konnten von der Aura der als selig geltenden Fürstin profitieren. In einem barocken ikonografischen Zyklus in der Johanneskirche, der Kapitelkirche des Klosters, wurde die Vermählung Giselas und Stephans im zweiten Bild verewigt. Darauf ist zu sehen, wie Kaiser Heinrich II. dem jungen Paar seinen Segen gibt. Der eigentliche Ort der Erinnerung an die Eheschließung ist allerdings die so genannte Königskapelle (ehemals Sakristei), ein Raum auf quadratischem Grundriss mit gotischem Gewölbe, der mitunter mit der mittelalterlichen Burgkapelle identifiziert wird, ohne dass es für diese Gleichsetzung Beweise gäbe. Bereits aus der Barockzeit stammen zwei dort aufgestellte Figuren Heinrichs II. – Giselas Bruder – und Stephans I. – ihres Gatten. Seit dem Jahr 2005 befindet sich an einer Seitenwand ein Tondo des in Ungarn vielfach mit seinen Werken im öffentlichen Raum präsenten Bildhauers Géza Stremeny (* 1937). In einem zentralen Flachrelief wird in verklärter Pose die Vermählungsszene Giselas und Stephans dargestellt. Sie umrahmt eine Inschrift in ungarischer und – nicht fehlerfreier – deutscher Sprache:

Die Heimatstadt vom Heiligen Stephan erinnert sich mit tiefer Verehrung an das königliche Paar an diesen [sic] Ort ihrer Vermehlung [sic]. Der Heilige Stephan und die Selige Gisela haben gemeinsam den christlichen ungarischen Staat begründet. Sie haben ein starkes und reiches Land im Herzen Europas hinterlassen. Ihre Ehe hat die Feden [sic] der ungarischen und der bayerischen Geschichte miteinander verknüpft und wurde Quelle schöpferischer Kraft. Die Bürger der Stadt Esztergom im September 2005.

Diese Inschrift idealisiert die Beziehung Giselas und Stephans. Vor allem verschweigt sie das dramatische Schicksal der ungarischen Königin nach dem Tod ihres Gatten. Das bis dahin noch vorherrschend heidnische Ungarn erschlossen Stephan und Gisela durch die Gründung von zehn Bistümern und zahlreichen Klöstern der christlichen Missionierung. Eine besondere Bindung soll Gisela zur Stadt Wesprim (ung. Veszprém) gehabt zu haben, die in diesem Jahr neben dem rumänischen Temeswar (rum. Timișoara, ung. Temesvár) und dem griechischen Elefsina/Eleusis (gr. Ελευσίνα/Ἐλευσίς) den Titel „Europäische Kulturhauptstadt“ trägt. Der von Gisela gestiftete Wesprimer Dom St. Michael ist heute im Wesentlichen eine neuromanische Kirche aus dem 19. Jahrhundert, da nach zahlreichen Bränden und Zerstörungen in den kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Osmanen vom ursprünglichen Bau kaum etwas erhalten geblieben ist. Der Dom besitzt allerdings seit 1996 eine Reliquie der seligen Herrscherin – einen Knochen aus ihrem Grab in Passau, der in einem Reliquienschrein mit der Beschriftung „Gisela Reg[ina] Hung[ariae]“ verwahrt wird.

Die Ehe Giselas und Stephans trübten der frühe Tod des zweiten Sohnes Otto und vor allem der tödliche Jagdunfall des Thronfolgers Emmerich/Imre im Jahr 1031. Die einzige Tochter Agatha heiratete den englischen König Edward Ætheling, der über sein dänisches Exil nach Kiew und anschließend nach Ungarn gekommen war. Nach seiner Rückkehr auf den englischen Thron war er einer der letzten eingesessenen Herrscher vor der normannischen Landnahme durch Wilhelm den Eroberer.

Stephan I. von Ungarn verstarb im Jahr 1038 ohne lebenden Thronfolger. Seine Nachfolge trat sein Schwager Peter Orseolo an, der die Königinwitwe Gisela gefangen setzte. Im Heiligen Römischen Reich war 1024 mit dem Tod Heinrichs II. die Ottonen-Dynastie im Mannesstamm erloschen. An ihre Stelle traten die Salier, die sich gleich zu Beginn ihrer Herrschaft mehrfacher Angriffe seitens des ungarischen Königs erwehren mussten. Schließlich gelang es dem deutschen König Heinrich III. – einem Neffen Giselas – im Jahr 1044, den Nachfolger Peters, Samuel von Ungarn, zu besiegen. Eine der Friedensbedingungen war die Freilassung der noch immer inhaftierten Königinwitwe Gisela, die Heinrich III. nach Bayern zurückbegleitete. Es wird vermutet, dass sie zunächst als Nonne in das heute nicht mehr existierende Frauenkloster Kochel am See eintrat. Gesichert ist, dass sie die letzten Jahre ihres Lebens als dritte Äbtissin des reichsunmittelbaren Benediktinerinnenklosters Niedernburg in Passau amtierte. In der dortigen Klosterkirche Zum Heiligen Kreuz wurde sie nach ihrem Tod am 7. Mai 1065, nach anderen Quellen bereits 1060, beigesetzt. Die originale Grabplatte aus dem 11. Jahrhundert hat sich im südlichen Querhaus bis heute erhalten. Sie zeigt ein Kreuz, zwei Adler und die Aufschrift „Gisila Abatissa“ (Äbtissin Gisela) und ist seit dem späten Mittelalter mit einem gotischen Aufsatz versehen. Daneben steht auf einem Steinsockel in einer Glasvitrine eine moderne Porzellanbüste des Heiligen Stephan – ein Geschenk ungarischer Gläubiger wie die unzähligen Kränze, Bänder und Plaketten, die Pilger aus dem Karpatenbecken als Exvoto immer wieder an dieser Stelle niederlegen.

Dabei fehlt jeder offizielle Hinweis darauf, dass Gisela von der römisch-katholischen Kirche beatifiziert oder kanonisiert worden wäre, wenngleich sie vor allem im Bistum Passau und in Ungarn als „Selige Gisela“, gelegentlich sogar als „Heilige“, verehrt wird. Nicht nur im Dom von Wesprim, sondern auch in der Königskapelle in Scheyern und an der Grabstelle im Kloster Niedernburg in Passau zeigen Erinnerungszeichen in den ungarischen Nationalfarben die ungebrochene Beliebtheit dieser auch geschichtspolitisch immer wieder instrumentalisierten Herrscherin an. 2013 wurde sie zur Protagonistin des Musicals Gisela und Stephan, mit einem Libretto der bayerischen Gymnasiallehrerin Claudia Fabrizek und der Musik von Dénes Harmath und Stefan Daubner, das unter anderem im Schyren-Gymnasium in Scheyern zur Aufführung gelangte. Im Mai 2016 wurde das Stück auch im Theater Hangvilla in Wesprim gespielt. Da an gesicherten Fakten aus dem Leben Giselas eigentlich nur wenig bekannt ist, kam die historische Fiktion zu ihrer Geltung. Die Legendenbildung ist also auch nach fast einem Jahrtausend noch nicht abgeschlossen.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 203–207.