Er stand im Portal der Stadtpfarrkirche von Hermannstadt. Die Frage an ihn konnte nicht mehr ausbleiben: Mein Vater lebt in Westdeutschland, soll ich auswandern oder nicht? Eine kleine Menge Neugieriger und ausreisegequälter Siebenbürger Sachsen hatte sich vor ihm versammelt, denn sie erwarteten eine Antwort von ihm. Keine alltägliche, keine hausgemachte Antwort, sondern ein klares Wort, den Rat eines Wissenden. Er hatte schon viele Stunden mit rumänischen Kulturfunktionären, Schriftstellern und Schülern zusammengesessen, hatte mit Schnaps auf die Völkerfreundschaft anstoßen müssen und ging trotzdem nicht auf das Anliegen der rumänischen Gastgeber ein, doch endlich ein paar Bücher unbequemer DDR-Autoren aus seiner westdeutschen Buchausstellung in Bukarest zu entfernen. Eine Deutschstunde in der Brukenthalschule habe ihn an seine Kindheit erinnert, ja, damals gab es auch diesen Respekt vor den erhabenen Dichtern. Am Abend trat er selbst als Dichter auf, las im Barocksaal des Brukenthalpalais, wartete geduldig auf eine Aussprache, die nicht in Gang kommen wollte, und als die Stille fast unerträglich wurde, sagte er leise, es gehe wohl ein Engel durch den Raum. Es war ihm bewusst, mit welchen Mikrophonen die Engel im Raum mithörten, er ließ sich nichts entgehen und schrieb nachher in einem Brief: »… weiß ich doch aus eigener Erfahrung, daß der Verlust von Heimat erst dann total wird, wenn man den geographischen Verlust auf die gesamte Substanz ausdehnt … Siebenbürgen ist ja mehr als ein gegenwärtiger Zustand, vielmehr ist es in seiner vielschichtigen Vergangenheit ein Exempel mehr für die nivellierende Tendenz großräumiger Machtpolitik.«
Das war im November 1969; Rumänien hatte zwei Jahre zuvor diplomatische Handreichung mit Westdeutschland aufgenommen, und die deutsche Buchausstellung sollte ein Zeichen der Öffnung sein. Doch die DDR protestierte. Letztendlich wurden die fragwürdigen Bücher entfernt, ihre Schutzumschläge mit Namen und Titel blieben aber gut sichtbar unter dem Vitrinenglas. Der Dichter bewunderte Rumäniens Wendigkeit, Ziege und Kraut zu versöhnen, wie in der Redensart – să împace şi capra şi varza. Und jetzt im Kirchenportal stehend, verriet er jenen, die auswandern wollten: »Noch alle, die wir aus dem Osten in den Westen kamen, haben es früher oder später erfahren. Im Westen ist es besser, im Osten war es schöner. Doch jeder hat das Recht, besser zu leben.«
Ich war bei der Karpatenrundschau Kulturredakteur und brachte diese Sätze in einem Interview mit dem Dichter. Die Zensur tilgte die ganze Antwort von Günter Grass.
Frieder Schuller
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2015), Jg. 10 (64), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 242.