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Helmuth Frauendorfer: Abendweg | Rezension

Davongekommen? 

Helmuth Frauendorfer: Abendweg. Roman. Ludwigsburg: Pop Verlag 2022. 332 S. 

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Von Edith Konradt

 

„Werner, noch mehr Schnaps, bitte!“, fordert die Protagonistin Helen von ihrem Bruder (S. 269), als sie einen Koffer voller Stasi-Akten unter die Lupe nimmt, in denen die Spitzeltätigkeit ihres Mannes Klaus Anders minutiös dokumentiert ist: eine Parallelexistenz, von der sie – inzwischen Mitte fünfzig und Mutter von drei Kindern – nichts geahnt und Merkwürdigkeiten seines Verhaltens stets für sich zu erklären, ja zu entschuldigen gewusst hat. Doch nun sieht sie sich gezwungen, ihre Ehe Schritt für Schritt unter einem radikalen Perspektivwechsel durchzugehen, da sie begreift, dass ihr Alltag weitgehend von Strategien und Operationen der „Firma“ gesteuert, ihre Person also instrumentalisiert wurde, sodass sie verzweifelt versucht herauszufinden, was der Geheimdienst nicht zu beeinflussen und zu besudeln vermochte: „Aber es muss doch etwas geben, das nur mir gehört in meinem Leben“. (S. 295) 

Der Roman rollt die Ereignisse von Helens vermeintlich normalem Leben aus der Ich-Perspektive als Rückschau auf, den erzählerischen Rahmen bildet das Begräbnis von Klaus Anders als vorläufiger Schlusspunkt ihrer mehrfach fremdbestimmten und als möglicher Startpunkt in eine von ihr selbst bestimmte Existenz. Denn soziale Unterordnung und öffentliche Unauffälligkeit hatte ihr schon der Vater von klein auf als oberste Verhaltensmaxime eingetrichtert – was für ihn zählte, war allein der familiäre Zusammenhalt: „Solange wir zusammenhalten, bleibt alles gut“. (S. 57) Und: „Das Leid ertragen und schweigen. Dann kommst du davon. Das rettet dir das Leben. Dann landest du nicht im Gefängnis“. (S. 78) 

Die Ich-Erzählerin, im rumänischen Banat geboren, wird an ihrem ersten Geburtstag, dem 17. Juni 1951, mit ihren Eltern und Großeltern in die Bărăgan-Steppe deportiert, nach viereinhalb Jahren darf die Familie ins Heimatdorf Wojtek zurückkehren, wo Helen in einem von konservativen Positionen und katholischen Traditionen geprägten banat-schwäbischen Umfeld aufwächst. Das Gymnasium besucht sie in Temeswar, wo sie die quirlige, für alle neuen Impulse offene und wagemutige Brigitte kennenlernt, die rasch zu ihrer Herzensfreundin avanciert. Als Philologie-Studentin macht sie nach dem zweiten Semester ein Reiseleiter-Praktikum an der Schwarzmeerküste, wo sie dem Westberliner Klaus Anders begegnet, der sich als Wissenschaftler ausgibt und angeblich an seiner Promotion in Atomphysik (sic!) arbeitet. Sie kommen sich näher, stellen einen Heiratsantrag und im Herbst 1973 kann Helen zu Klaus nach Westberlin ausreisen. Dass er ihr während der Wartezeit den Umgang mit der Freundin und dem Bruder verboten hat, schmerzt sie zwar, doch der gemeinsame Fluchtversuch dieser ihr so nahen Menschen schafft unumstößliche Fakten: Brigitte wird beim Schwimmen durch die Donau erschossen, Werner gelingt es, das jugoslawische Ufer zu erreichen und schließlich im fernen Bayern Fuß zu fassen. 

In Westberlin sieht sich Helen auf die Hausfrauenrolle reduziert, nachdem sie die neue Lebenswelt erkundet hat, sodass sie nicht zuletzt wegen der häufigen Abwesenheit ihres Mannes nach einem eigenen Betätigungsfeld sucht und sich ohne sein Wissen als Übersetzerin unter Pseudonym publizistisch zu behaupten beginnt – ein doppeltes Versteckspiel der Ehepartner, das Helen fraglos hinnimmt, weil diese Arbeit sie erfüllt. Die Geburt und das Aufziehen der beiden Kinder setzen jedoch ihren literarischen Exkursionen ein Ende, sodass Helen in der Folgezeit ganz in ihrer Mutterrolle aufgeht, wobei kurz vor der Wende noch eine Adoptivtochter aus dem Osten in die Familie aufgenommen wird. 1990 zieht Klaus aus beruflichen Gründen nach Leipzig: Den Wissenschaftler hat er an den Nagel gehängt, nun ist er mit Finanz- und Immobiliengeschäften befasst, die Wochenend-Ehe kommt seinen auch sexuell übergriffigen Machenschaften zupass. 

Erst die Stasi-Akten, die Helen 2003 von der Adoptivtochter – mittlerweile angehende Journalistin – in Kopien ausgehändigt werden, eröffnen ihr ein ungeahntes, verstörendes Bild ihres Lebens, das ihrer Selbstwahrnehmung zuwiderläuft: „Mit rasendem Atem sprach ich zu meinem Bruder: ,Nach meiner Ankunft fand eine Aussprache statt. Daran beteiligten sich […] auch mehrere hochrangige Geheimdienstler der DDR. Man gab sich fürsorglich. Es wurde Klaus nahe gelegt, zu verhindern, dass seine Frau sich verselbständige. Bei einer Rumänin bestehe da ja keine Gefahr. Aber er solle darauf achten, dass sie nicht in Kreise gelangt, die für ihn und den Geheimdienst nicht mehr kontrollierbar waren, wie etwa Studentenkreise. Berufliche Unabhängigkeit war auch eine Gefahr. Arbeitskollegen könnten schnell negative Einflüsse auf eine junge Frau aus Rumänien haben. Sie sollte nur den ideologischen Einflüssen ihres Ehemannes ausgesetzt sein. Dafür habe er zu sorgen. Er sollte sie klassisch am Herd und im Haushalt beschäftigen und ihr viele Kinder machen. Das könne doch nicht schwer sein. Frauen aus Rumänien seien doch sowieso sehr konventionell.‘ […] Er versprach es. Er versprach ihnen mein Leben. Meine Lebensform wurde von Offizieren festgelegt“. (S. 268f.) Und dem befreundeten Journalisten Bogdan, der ihr zu bedenken gibt, dass Integrität keine Selbstverständlichkeit sei, vertraut Helen ihr bitteres Fazit an: „Du brauchst mich daran nicht zu erinnern. Diese Ungeheuerlichkeit meines Lebens schreit jede Sekunde aus jeder Pore meiner Haut. […] Meine beste Freundin Brigitte haben sie in der Donau erschossen. Mein Mann hat für die Stasi gearbeitet. Meine zwei Kinder sind im Auftrag der Stasi gezeugt worden. Meine Beinahe-Affäre sollte mich im Auftrag der Stasi flachlegen. Und die Adoption des dritten Kindes wurde von der Stasi organisiert. Mein Gott, in was für einem Dreck habe ich gelebt. Und ich war glücklich dabei“. (S. 298) 

Doch ehe die Stasi-Akten Helens Leben auf den Kopf stellen, zeichnet der Roman ihre biografischen Stationen sehr detailliert und anschaulich nach, wobei einzelne Episoden teils chronologisch geordnet, teils thematisch vernetzt werden. Zwischen Prolog und Epilog sind insgesamt 80 Abschnitte in sechs unterschiedlich langen Romanteilen zusammengefasst und fügen sich wie Mosaiksteinchen zu einem letztlich genauen, wenn auch zwangsläufig gesplitterten Gesamtgefüge, das gleichzeitig die von Totalitarismus und Diktatur geprägte (rumänien-)deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts bedrückend vergegenwärtigt. Allerdings ist der Erzählton eher sachlich-nüchtern und scheint deshalb streckenweise den Wahrnehmungen wie den Emotionen der Protagonistin nicht unbedingt zu entsprechen, doch der Duktus bleibt flüssig und der Text leicht lesbar, sodass die dargestellten „Ungeheuerlichkeiten“, um diesen Ausdruck der Ich-Erzählerin noch einmal zu bemühen, in den Vordergrund treten können und durch keinerlei stilistische Ablenkungen verunklart werden. Denn als Autor weiß Helmuth Frauendorfer aus eigener leidvoller Erfahrung sowie aus seiner eigenen Konfrontation mit Securitate- und Stasi-Unterlagen sehr wohl, wovon er spricht. 

Doch wie kommt es, dass Helen auch vor ihrer Ausreise aus Rumänien annehmen konnte, ihr Leben sei normal verlaufen? Zieht man nämlich in Betracht, dass ihr Vater erst in die Sowjetunion zur Zwangsarbeit deportiert wurde, danach die gesamte Familie in die Bărăgan-Steppe, was die Großeltern nicht überlebten, hält man sich ferner die Enteignungen, Repressalien und Willkürakte seitens des rumänischen Staates im Namen einer als „fortschrittlich“ propagierten ideologischen Doktrin vor Augen, die im Roman in lebensnahen Szenen gestaltet sind, so kann von „Normalität“ wahrlich nicht die Rede sein. Als mögliche Erklärung böte sich lediglich an, dass die Protagonistin dieses kollektive Schicksal der Banater Schwaben als gegeben erlebt und mangels einer anderen Perspektive in ihrem Herkunftsland als „normal“ empfunden hat. Denn selbst wenn sie einräumt, dass sie immer und überall Angst hatte, sich eventuell falsch zu verhalten, also verdächtig zu machen, resümiert sie: „Ich glaube, ich hatte eine glückliche Kindheit“. (S. 31) Den Lesern allerdings erschließen sich gerade anhand solcher Widersprüche die Schutthalden einer dystopischen Realität, die sich hinter der Fassade der kommunistischen Utopie türmten. 

Abendweg ist ein beklemmender Roman, dessen Titel nicht allein einen konkreten Ort am Cospudener See bei Leipzig bezeichnet, sondern vielmehr metaphorisch zu verstehen ist, wenn es zu Beginn des zweiten Abschnitts heißt: „Der Abendweg ist Schatten. Er legt sich auf die Menschen, die hier entlang gehen“. (S. 13) Und durchaus auch auf die Menschen, die nach beendeter Lektüre dieses Buches am liebsten wie die Ich-Erzählerin fordern würden: „Schnaps, bitte!“.