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Ernest Wichner: Heute Mai und morgen du | Rezension

Aberglück

Ernest Wichner: Heute Mai und morgen du. Gedichte. Frankfurt/Main: Schöffling 2022. 286 S.

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Von Jonis Hartmann

 

Ganz wie sein Titel Heute Mai und morgen du, als ein spielerisches einerseits, andererseits düster-ahnendes Motto des Kippens, verhält sich Ernest Wichners neuer Gedichtband in all seiner Doppelbödigkeit. Das Werk bietet auf fast 300 Seiten nicht nur einen Überblick über Wichners dichterisches Schaffen seit den 1980er-Jahren mit ausgewählten Texten aus allen bisherigen Veröffentlichungen, es wird gerahmt von neuesten Gedichten der letzten Zeit, schließlich verortet durch ein kundiges Nachwort von Maren Jäger.

Die ersten Abschnitte (insgesamt gibt es neun) der neueren Gedichte, so in Dialekt und die Sprechmarie, sind eine Mischung aus Dreizeilern, längeren Zyklen im Parlando-Modus, die sich wie Tagebucheinträge verhalten. Sie verhandeln kleinere Begebenheiten der unmittelbaren Umgebung wie Straßenszenen, das Telefonieren, Zwischenmenschliches. „Keinesfalls bin ich gemeint, sieh mich / nur an, ich werde mich in deinem Angesicht zugrunde // schweigen“ (S. 23), auch eine als Kaspar Hauser beigesellte Stimme: „Das Leben hat mich ausgespuckt“ (S. 26). Dazu literarische Begegnungen (Adolf Endler oder Elke Erb) wie „Leipzig wars, wo wir uns / trafen zur Messezeit“ (S. 25) oder in ZWEI GLOCKENSCHLÄGE „den Freunden Gellu [Naum] und Oskar [Pastior]“ (S. 28), letzteres als ein ehrlich-empfunden wirkendes literarisches (Zeugen-)Bild: „Zwischen leeren Konservendosen unsere / Umarmung“. Es folgen längere Erinnerungs- und Rekonstruktionsgedichte: „Da legte einer aus Versehen sich / ins Gras und zog den Horizont als Decke über sich“ (S. 39). Zum Teil kleidet Wichner seine Zyklen in bewusst altmodische Szenen-Wortwahl und Vokabular: „auf der Promenade // den Hut der neuesten Saison, frisierte Dackel und / liebestolle Kavaliere in Uniformen spazieren führend / in den je eignen wohlverdienten Untergang“ (S. 41). Auch hier jedoch kippt Wichners Aufbau von beinahe lieblichem Ausgangsbild in eine Abwärtsbewegung. Im selben Zyklus in DER ALTE MATZ spürt Wichner Erinnerungen an jene gleichnamige Person, „den alten Matz“, nach, einer dörflichen Bekanntheit, die als „Wasserleiche zurückkehrt“ (S. 44). Jenen Gedichten wohnt allein durch ihre Sprechzeitform das Vergangene bei. Dieses scheint verloren, oft sogar zerstört, schon im Gedicht selbst, was, lyrisch gesprochen, die Lesenden selber jene Erinnerung nicht miterleben lässt, sondern sie zu Zeugen eines sich Erinnernden bestellt.

Wichners bedeutender Gedichtband Die Steinsuppe von 1988 ist im Folgenden fast vollständig abgedruckt. Obwohl auch hierin ein Erinnernder tätig ist, Erinnerungsarbeit leistet, schwelgt er nicht darin, sondern versucht, mit literarisch-lyrischen Methoden sie als Leseerlebnis nachzukonstruieren. Es gelingt ihm sehr gut, nicht zu sagen beklemmend gut, wie das Nachwort, im Übrigen umfangreich und informativ, historisch nachweist. Ein Gedichtpaar wie BEGEGNUNG 1 + 2 schafft es auf eindrückliche Weise, die Stimmung und die Situation Wichners und anderer Autorinnen und Autoren im Securitate-durchzogenen rumänischen Staatssystem der 1970er- und 1980er-Jahre einzufangen: „da kamen sie dir entgegen / schreiend, hoben die Arme hoch / machten Tanzschritte auf dich zu / gaben lauthals ihren Mut dir mit / auf dass du ihn weiter tragest / in die andere Richtung / aus der sie gekommen waren / die du zu gehen plötzlich / nicht mehr vorhattest“ (S. 66) und „der da kommt, kurze Schritte / ,wie abgehackt‘, der / meint es nicht so / wird vorbeigehen und dich / nicht einmal ansehen / sein Gesicht nicht verziehen / sich nichts anmerken lassen / und einfach vorbeigehen // so dass du das Wort ,Zufall‘ / denken wirst, kurz nur / vor dem Schlag / auf den Hinterkopf“ (S. 67). Auf solch bedrohliche Straßenstimmungen folgen weitere, schriftbildlich avanciert arrangierte Gedichte, die um einen unter Bewachung stehenden Schreibgestus operieren, ein Gestus, dem das Heimliche selbstverständlich eingeboren scheint, „bunte Seifenblasen / über behelmten Köpfen“ (S. 71), „geh über die Brücke / les es wieder / seh was kommt les / wie’s verschwindet“ (S. 77). Interessant in dieser Werkgruppe der Steinsuppe ist die Verwendung von geschwärzten Auslassungen, zum Beispiel bei FROST 2 (S. 108) – ein Text, der sich durch seine (Halb-)Lesbarkeit zu entziehen versucht. In späteren Abteilungen des Bandes im Band wendet sich Wichner verwandten Stimmen zu wie Tristan TZARA (S. 84) mit „da geht einer die Sprache / ab“ oder auch Hans Arp in MIT ARPS UND ANDEREN ZUNGEN (S. 86), Gedichte, die den sprachspielerischen Trieb Wichners hervorzwingen: „Wer schraubt den Kugelblitz auf schwarzrotgoldne Ränder“, besonders treffsicher gelingt es in Anrufung Oskar Pastiors, der „Phykosylomanie“ des Titels (beides S. 92). Die humorigen Ausflüge in dichtgepackte lyrische Passagen, die im Verhältnis von Text zu Papier mit ihren breiten Zeilen schon an Ulf Stolterfoht erinnern, „Prompt reagieren darauf die Tatsachen“ (S. 94, 95), offenbaren Wichners Vieldimensionalität in der Dramaturgie seiner hochgestellten Steinsuppe.

In der nächsten Abteilung, Gedichten aus der Entstehungszeit der Steinsuppe, die offensichtlich hier zum ersten Mal versammelt sind, finden beide Seiten im Gedicht stärker zusammen, das Kippen, Umschlagen in den Alptraum wie in EDENKOBEN (S. 117): „Noch einmal blüht der Flieder / im Oktober. Tornados fliegen / übers Haus. Stare haben längst / die Spätlesen erobert. Tief / sind wir verstrickt in Fried- / lichkeiten. Bäume knicken / streichholzgleich. Alle fahren / alle rennen. Von der Küste / von der Küste hat man lange / nichts gehört. Herbst noch / einmal vor dem Fenster, vor / dem Fenster unten ist der / Flieder explodiert“.

Im Abschnitt der Gedichte aus Rückseite der Gesten findet sich ein längerer Zyklus ÜBERS DORF (ab S. 152), der in seinem Setting an Hans Thills späteren Gedichtband Das Buch der Dörfer von 2014 (Matthes & Seitz, Berlin) erinnert – Thill ist außerdem als Kurator der Literaturprojekte in Edenkoben (siehe oben) bekannt. Wichner entwickelt eine sprachlich übermütige Reise in Befindlichkeiten, die „dorffolgerichtig“ (S. 152) dem Orte bereits eingeschrieben sind, wie ein Warten aufs Benennen.

Die Texte aus bin ganz wie aufgesperrt aus dem Jahr 2010 machen ein anderes Terrain auf, sie sind ernste, gefühlige Gedichte, die mitunter verschlossen wirken und sich Themen wie Unbehaustheit oder auch Neubehaustheit widmen, zum Beispiel in LOTS WEIBER (S. 165), wenn es heißt: „abgewandt, sich selbst / den Rücken gekehrt, den Weg genommen / den man geht, wenn man bleibt / wo man nie war“. Reisen und Begegnungen dokumentieren Lebensabschnitte wie auch Bekanntschaften – die Texte sind wiederum zurück in einem eher traditionelleren Schriftbild, das heißt, keine Auslassungen, flirrende Verse oder abrupte Brüche mehr. Resignation lässt sich blicken: „Ich bleibe im Spiel / verwalte deine Launen auf Papier / und darf krause Elegien schreiben“ (S. 173) sowie eine Form gedichtlichen Verarbeitens nicht näher benannter Prozesse in KEIN GRUND ZUR PANIK (S. 194): „Auch ist mir jetzt egal, ob sie, was meine / Hand als Ordnungskraft geschaffen, in / Stellung bringen gegen mich“. In einem Gedicht NACH UNS, das tatsächlich Hans Thill gewidmet ist (siehe oben), findet sich ein Rückweg ins freche Doppelbödige mit dem geistreichen Neologismus „wir die greinend kriechenden Styropäer“ (S. 204).

Es folgen Gedichte aus dem Band Neuschnee und Ovomaltine, der ebenfalls von 2010 datiert. Sie schwanken zwischen konkretem Bild und Abstraktion, besonders das titelgebende Gedicht arbeitet mit dadaesk anmutendem Sprachspiel und Neologismen „bei märzlicher Sonnenasfinzierung / am Herbertsubjekt“ (S. 217). Mit den letzten Auswahlgedichten steuert der achte Abschnitt ins unverhohlen Politische wie in DAS DEUTSCHLAND (S. 226), eine namentlich Konrad Bayer nachempfundene Bestandsaufnahme. Zuvor ist bereits weiteren Mitgliedern der Wiener Gruppe (Artmann etc.) von Wichner Reverenz erwiesen worden (S. 222–249).

Schließlich endet Heute Mai und morgen du mit neuen Gedichten – darunter findet sich auch die Titelzeile als Vers auf S. 242, Further und die Ärmelschoner überschrieben. Dieser frische Zyklus kreist um die Figur Further (ein alter Ego Wichners, das häufiger auftaucht) und dessen sprachliche Begegnungen mit dem „wahren Ulf“ (Stolterfoht) und Heißenbüttel, die diese Gedichte durchziehen wie Refrains (S. 238–249). Das Verspielte (im Nachwort als „Mnemotopoi und Klangkörper zugleich“ (S. 262) apostrophiert), das der Abschnitt suggeriert (nicht unähnlich einer musikalischen Sprachstimmung wie Can-Utility and the Coastliners, Genesis 1972), bestimmt die eigene Sprachverwendung Furthers/Wichners, der hier wie in einen anderen Status wechselt, den „Klausenburger Krautjargon“ (S. 246), der auch sich selbst unterläuft wie in FURTHER UND DIE UTOPIE (S. 241): „sag niemals nie / steht auf dem Knie / als Tätowie“. Auf Seite 250 mündet die Sammlung in ein Ausrufezeichen, das Fotogedicht UNBEHAGEN IN DER KULTUR – ein komplex würdiger Abschluss dieser monumentalen Werkschau.

Maren Jägers Nachwort untersucht das Werk erhellend auf literaturwissenschaftlichem Niveau. Sie nennt einige Gedichte durchaus zutreffend „Gelegenheitsgedichte“ (S. 274) und beziffert Wichners Dichtung in all seiner Referenzialität als ein „Buch der Freundschaften“ (S. 264) oder auch als eine „freundliche Übernahme“ von Material, sein eigenes „literarisches Gespräch“ (S. 269). Nicht nur der große Übersetzer Ernest Wichner (aus dem Rumänischen), ein „Kurator im vollumfänglichen Sinne“ (S. 258) der rumänisch-deutschen Literaturgeschichte wird sichtbar in diesem Band, in vielen Texten scheint das original Eigen-Dichterische, hauptsächlich in Furthers Sprechen, des Lyrikers Wichners durch. Es sei sicherlich an der Zeit für einen weiteren Gedichtband eben jenes Furthers mit der ihm eigenen Verspolitik und -poetik, die sich der „Gelegenheitsgedichte“ zugunsten einer originären Gelegenheit zum Dichten (ohne Literaturhausleitungspflichten, wie Maren Jäger anführt; S. 258–269) zu entledigen weiß.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 243–246.