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Johann Lippet: biographie. ein muster. poem. | Rezension

Als täte es der Dichter seinem Vater nach und legte einem die Hand auf die Schulter  

Johann Lippet: biographie. ein muster. poem. Vom Autor durchgesehene, kritische Neuauflage. Leben sammeln in der Diktatur. Essay von Walter Fromm (Reihe Lyrik, Bd.149). Ludwigsburg: Pop Verlag 2023. 149S. 

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Von Georg Aescht

 

Die seligen neunziger und frühen zweitausender Jahre hätten uns beinahe in Vergessen gewiegt. Das „Ende der Geschichte“ war eingeläutet worden, der Kriegslärm rund um die Welt und die diktatorisch verfügte Grabesstille im östlichen Europa schienen just eben jener Geschichte anzugehören. Fast sah es aus, als nähme der Wahnsinn ein Ende. Heute wissen wir, dass er lediglich eine Wende genommen hat und dass es keine Gerade gibt, schon gar keine Zielgerade. Alle vermeintlich vernünftige Welt ist ratlos, die Welt der Kunst und Literatur genauso, aber recht hatten die Unken in ihrem stets aufgewühlten Teich schon, zum Leidwesen aller. Die Realität war und ist aus den Fugen, ihre Sur-, ja Irrealität ist nur anders, nun ja: irre. 

Ein großsprecherisches Entree für die Besprechung eines schmalen Bändchens, aber in dieser „biographie“ finden sich heute allerhand (Ir)Realitäten von gestern und vorgestern trefflich gefügt zu einem „muster“, dem man gerade nach den letzten Wenden auch jenseits des Lesegenusses viel abgewinnen kann. Noch bei seinem ersten Erscheinen im Bukarester Kriterion Verlag 1980 war es ein „gedicht“, jetzt hat der Autor sich zur Gattungsbezeichnung „poem“ entschlossen. Walter Fromm, der die Neuerscheinung mit „Stellenkommentaren“ und einem erhellenden Essay begleitet, verweist die Frage nach dem Grund zu Recht an jene, die fachliches Interesse daran haben: „Ob es ein Entwicklungspoem, ein Entwicklungsgedicht oder gar ein Entwicklungsroman in Versen ist, ein Lehrstück, Bildungsroman oder politischer Versroman – das ist eine Frage für Germanistenseminare, aber sie ist weiter nicht von Bedeutung“. (S. 125) 

Von Bedeutung sind heute vielmehr das Gestern und das Vorgestern, aufgehoben in diesem Buch. Gestern: In einem Verlag für Literatur in den Sprachen der „mitwohnenden Nationalitäten“ (Minderheiten gab es in Ceauşescus Rumänien nicht, die Kommunisten waren „integrativ“ avant la lettre) erscheint 1980 ein rumäniendeutsches Buch, das in Kleinschreibung verfremdet und in Versen gebrochen nicht nur „die individuellen Erfahrungen, die Bildungsprozesse und die Sozialwerdung einer ganzen Generation der um 1950 geborenen Babyboomer anschaulich wie in einer filmischen Chronik ablaufen lässt“. (Fromm, S. 122) In dem Buch steht sogar expressis verbis, nachgerade mirakulös, all das, was der deutschen Minderheit seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zugestoßen ist, wie es ein Babyboomer erlebt und erfahren hatte, und zwar so, wie es in Geschichtsbüchern auch außerhalb Rumäniens nicht stand: Nachkriegswirren, Deportation, Enteignung und zähneknirschende Bereitschaft, am Sozialismus mitzutun. Das alles hätte man damals als sensationell empfinden können in Rumänien, wo doch jedes klare Wort verboten war: „die angst vor den wörtern / die angst vor den bezeichnungen / die man nicht mehr los wurde / war nie so groß wie in jenen jahren“. (S. 25) Damit sind wir allerdings schon beim Vorgestern, denn „jene“ Jahre waren in den Achtzigern vermeintlich vorbei und die Angst, nach den Worten von Johann Lippets Kollegen Richard Wagner, „eine Erzählung der Eltern“. 

Der geerbten Angst getrotzt hat der Autor im Verein mit dem Verlagslektor Klaus Hensel und der Verlagsleitung. Wer sonst noch in der Apparatur des sozialistischen Kulturbetriebs an welchen Hebeln und Rädchen gesessen hat, lässt sich heute nicht mehr ausmachen. Klar zeigt sich allerdings, diese Apparatur war dergestalt, dass sie sich perpetuierte und zugleich selbst sabotierte. Wie die historischen Ereignisse, deren Durchschlag auf seine eigene Biografie Lippet getreulich, fast treuherzig nacherzählt, ist die Veröffentlichung dieser Erzählung selbst, nun ja: irre (wenn wir früheren Widersinn in heutigem Sprachgebrauch fassen wollen). Mitten im Prozess harter Restalinisierung eines Landes erscheint eine Geschichte, in der die Eckpfeiler einer gerade überwunden geglaubten stalinistischen Vergangenheit in aller Klarheit benannt werden. Ohne Raunen beschwört Lippet ein Imperfekt, das gerade wieder zum Präsens wird. 

Man meinte in jenem Präsens das Vorgestern beim Namen nennen zu können, und siehe da, in dieser leicht verfremdeten Form war das möglich. Erstens wird laut Walter Fromm das Unsägliche (vulgo Tabus), das bis dahin als unsagbar gegolten hatte, in aller Authentizität ausgebreitet. Zweitens geschieht das in einer „Art Hyperrealismus, der im Kern nach der Lippet-Formel der lyrisch verdichteten, fiktional eingebetteten empirischen Sachlichkeit funktioniert“. (S. 133) „Und drittens: „die Sprache ist lapidar und schnörkellos, es ist ein Narrativ des Understatements“. (S. 135) Fazit Fromm: „Mir will scheinen, dass Johann Lippet mit seiner poetischen Formel in erstaunlichem Maße seiner Zeit voraus war. Seine neuartige literarische Chiffrierung – fiktional eingebettete, lyrisch verdichtete empirische Sachlichkeit , die er seinem autofiktionalen Erzählen zugrundelegt, konnte wohl damals noch nicht so richtig verstanden und akzeptiert werden, auch von Kennern nicht“. (S. 142) Das klingt auch wieder hochgemut, ja nach literarhistorisch tragender Bedeutung, dabei gibt es gerade bei Lippet keinen Ton, der aus geschwellter Brust käme. Understatement mag er damals nicht einmal als Vokabel gekannt haben, praktiziert hat er es sehr wohl meisterlich. Drum lohnt es sich, ihn weniger zu besprechen denn sprechen zu lassen. 

„ich, johann lippet, bin nur indirekt aus dem banat. / meine mutter brachte mich in österreich zur welt, / wohin sie aus der sowjetunion gekommen war, und die frage / nach dem warum und wie wird sich mir noch öfter stellen.“ (S. 5) Die Mutter war mit vielen anderen arbeitsfähigen Deutschen aus Rumänien 1945 zur Zwangsarbeit dorthin deportiert worden und hatte überlebt. Dass das nicht selbstverständlich war, steht bei Lippet schwarz auf weiß, in allen düstersten Facetten, von denen man im sozialistischen Rumänien allenfalls munkelte. In Österreich nun gibt es, was in der Nachkriegszeit Normalität war: Not, Fremdheit, Arbeit, auch Liebe und den Sohn Johann, aber „dann stand die entscheidung vor der tür / österreicher werden / australier werden / oder nach hause fahren / und meine mutter und mein vater / entschlossen sich nach hause zu fahren“. (S. 17) Eine Reise in einem der Nachkriegs-Schicksalsjahre, 1956, quer durch Welten, in denen die Zeichen der Vergangenheit bedrohliche Urständ feiern: „ich versuche mir alles zu erklären. / versuche mich an die reise zu erinnern. / sehe den ersten panzer meines lebens / im bahnhof von budapest. // der panzer mit seinem langen rohr im nachthimmel“. (S. 18) Dass es ein sowjetischer ist, weiß man. 

„auf einem pferdewagen fuhr ich ins banat ein. von anfang an / versehen mit merkwürdigkeiten: / geburtsort, legitimationsschwierigkeiten. und nach hause gekommen. / misstrauisch gegen die, die zu viel wissen wollen. [] und wir standen auf dem bahnsteig / mit dem bahnhofsvorsteher / dem die lampe in der hand hängen blieb / als er hörte woher wir gekommen waren.“ (S. 19) Der Text ist so unprätentiös wie poetisch, die Sprechweise so beiläufig und zugleich verbindlich, als täte es der Dichter (und man darf hier das „lyrische Ich“ und den Menschen Johann Lippet in eins setzen) seinem Vater nach und legte einem die Hand auf die Schulter. Da ist kein Raum zwischen den Zeilen für Groll und Ranküne, das nackte Leben ist schwer genug, dass man klipp und klar und ausschließlich zur Sache redet: „vater und mutter / saßen jahrelang abends zusammen in der küche / wenn er frei hatte / wenn er an einem tag das pensum für zwei geschafft hatte / um auch der arbeit im garten nachgehen zu können / und meistens herrschte stille / nur das aufseufzen ging durch die vier wände / und das stöhnen der kuh / die ich auf die weide führen durfte / drang durch die stallmauern / und das summen der fliegen im sommer an den wänden / ersetzte die worte / bis sich vater entschlossen hatte für das nächste frühjahr / auch in die kollektivwirtschaft einzutreten / denn fast alle waren schon eingetreten“. (S. 28) 

Stille Dramen, Leben, Arbeit, Lieben, Sterben, parataktisch gereiht, und wenn das lyrische Subjekt einmal in den Vordergrund tritt, steht es in Klammern: „(… ich nahm mir jeden tag vor / von morgens bis abends mit der kuh auf der weide zu bleiben / verabredete mit meiner ältesten schwester den ort / wohin sie mir das mittagessen bringen soll / doch nach dem mittagessen / hielt ich es nicht mehr lange aus / sagte zu hause / die kuh habe nicht mehr fressen wollen / und nahm mir vor // für den nächsten tag / mit der stille / der einsamkeit / fertig zu werden)“. (S. 35f.) Für Befindlichkeiten ist in dem ganzen Buch kein Ort, Gefühle sind nicht zum Genießen da, sie müssen ausgehalten werden. 

Es geht in die Stadt aufs Internat, „und vater gab mir keinen rat mit auf den weg / seine hände fühlte ich bloß hart und schwer / auf meinen schultern / als ich von ihm abschied nahm. (S. 41) ich, sein nachkomme, bin gesessen / in schulen und internaten, wo mir beigebracht wurde: / so hast du zu sein und zu leben. / und das ende war, dass ich nicht aufbegehrte. (S. 42) aufstehen / waschen / essen / schule / ferien und was dazu kam / trug zu meiner BEWUSSTSEINSERWEITERUNG bei / die nun folgenden jahre / waren ein systematisches und radikales verdrängen / der tradition / die nicht mehr in meine dorfgasse passte / in meine zeitgasse / um eine neue aufzubauen / diese jahre / waren ein aus- und einsteigen“. (S. 58) Aussteigen aus dem Volkstum, zur bemüht brauchtumspflegerischen Kerweih pervertiert, Einsteigen in Erkenntnisse, die man von alten Männern in der Dorfkneipe, später dann von „bärtigen männer(n) / die man von den bildern her kannte / bruchstückweise“ (S. 77) bezieht, ins Zeitalter des Rock ’n’ Roll und der langen Haare, aber auch in die Literatur von Dichtern, vermittelt von einer großartigen Lehrerin, worauf man sie sich zu „lehrmeistern“ „zurechtlegt“. 

Es entbehrt nicht eines gewissen Reizes, sich vorzustellen, Ceauşescu hätte gewusst, dass ein mutmaßlich langhaariger junger deutscher Dichter im Banat seiner Weigerung, mit dem Warschauer Pakt in Prag einzumarschieren, folgende Zeilen gewidmet hat: „und dann an einem augusttag / überraschten mich nachrichten / saß ich den ganzen tag vor dem radio / und von der rede / gehalten einen tag vor unserem nationalfeiertag / prägte ich mir ganze sätze ein / und die aufregung war noch niemals so groß / und das schweigen war noch nie so laut“. (S. 66) 

Bis der Tod des Vaters diesem gedämpft zuversichtlichen „Werdegang“ einen Riss zufügt, der für den Moment so harsch ist, dass nur Lippets wunderbar leise Verse angemessen erscheinen: „und wir tragen ihn ins haus / und ich spüre die schwere hand auf meiner schulter / wir stellen den sarg auf zwei stühle / daneben steht ein anderer sarg / in den vater gelegt werden soll / zwei nachbarn greifen nach ihm / halten ihn in den armen wie einen säugling / und ich gehe hinaus // und zünde mir die erste zigarette zu hause an [] und ich hoffe / am nächsten morgen nicht mehr aufzuwachen“. (S. 67f.) Hier wie öfter mitten im „poem“ eine Lyrik, wie man sie selbst hätte schreiben mögen, ja gar wollen, erinnert man sich doch ebenso wie dieser begnadete Raucher an „die erste zigarette zu hause“und an vieles andere, das ins „muster“ passt. 

Aber „jeden morgen / jedes jahr // war das aufstehen ein anderes / und jeder morgen dieser jahre / begann so mit etwas neuem / unerwartetem“. (S. 75f.) Theatergruppe, erste Gedichtveröffentlichungen „mit auslassungszeichen“ (S. 74), Dichterfreunde, Parteieintritt, Liebe und Heirat, mühseliger Start ins Familien- und Berufsleben unter prekären Bedingungen, all das nimmt Lippet nicht zum Anlass für irgendeine bedächtig nickende Nostalgie. Im Gegenteil, er besteht auf der Selbst-Verständlichkeit des ungeziert geschriebenen Wortes, und dessen am „lehrmeister“ Bertolt Brecht geschulte Verständlichkeit erweist sich auch heute, fast ein Menschenleben nach dem Ersterscheinen, als schlichtweg selbstverständlich: „von dieser meiner erziehung ist geblieben: der versuch / froh zu sein, dass ich sie überwunden habe. / ich weiß, dass dies das vorläufige ist, / und nachher wird kommen: das wieder-umlernen. // bei meinem umlernen, das kommen wird, werde ich hoffentlich / meine ideen nicht als grundsätze hinstellen. / ich, johann lippet, verfasser dieser biographie, / die nicht nur die meine ist und noch offen bleibt“. (S. 85) 

Sie wird sich schließen wie die aller, aber sie bleibt.