Briefe an einen Freund
Josip Kosor: Moj Prijatelj Stefan Zweig. Nepoznata pisma Josipa Kosora Stefanu Zweigu / Mein Freund Stefan Zweig. Unbekannte Briefe Josip Kosors an Stefan Zweig. Zagreb: Matica Hrvatska 2022, 373 Seiten, ISBN 978-953-341-244-3.
Josip Kosor (1879–1961) und Stefan Zweig (1881–1942) lernten sich im Jahr 1909 in Wien kennen. Der damals 30-jährige Kosor, ein aus Dalmatien stammender und in Slawonien aufgewachsener Kroate, schrieb am 28. Mai dem damals 28-jährigen Zweig einen sowohl demütigen als auch frechen Brief in einem fehlerhaften Deutsch. Dies wundert kaum, denn Kosor habe vor »ungefähr zwei Jahren in München Deutsch zu lernen […] und junge Moderne zu lesen« begonnen, darunter auch den »[h]ochverehrten Stefan Zweig […] mit einer mondsilbernen Leier in der bleichen brennenden Hand« (S. 58). Er, Kosor, sei »ein kroatischer Schriftsteller, geborener Dalmatiner und buchstäblicher Autodidakt«, der bisher »über sechs bücherne Romane und Novellen« geschrieben habe (S. 58). Der Erfolg sei »groß« gewesen, habe ihn jedoch »verdrießlich« (S. 58) gemacht. An die Klagen über das mangelnde Leseinteresse und das Unverständnis in der Heimatprovinz folgt im ersten Brief ein überschwängliches Lob über die deutsche Sprache, über Heine und Nietsche (sic!) und auch über Zweig (S. 60). Nun, nach München und nach einer Station in Russland, lebe Kosor in Wien und finanziere sich vor allem durch eine Arbeit »bei einem Ministerium« an »einem unbedeutenden Posten« (S. 60). Dem ambitionierten Mann schwebt aber, nicht ganz zu Unrecht, Größeres vor. So legt er dem Brief an Zweig eine »kleine Skizze« bei und bittet diesen, ihm »einige Zeilen zu schreiben, wann und wo« (S. 62) er ihn persönlich begrüßen dürfe.
Stefan Zweig, der zum Wiener Großbürgertum gehörte und gut und gerne Freunde und Kollegen wie beispielsweise Joseph Roth unterstützte, sagte zu. Denn am 27. Juli schrieb Kosor an Zweig Folgendes: »Ich wollte Sie heute besuchen, ich kam schon vor ihre Tür, mußte aber umkehren – verschämt und geängstigt. Ich traute mir’s nicht, Sie unangemeldet zu stören […].« (S. 64) Weitere Briefe folgten. Was Zweig an Kosors nervöser, unausgewogener und avantgardistischer Kurzprosa begeistert haben mag, waren die Dialoge: Sie trafen den Nerv der Zeit. So riet er dem Kollegen aus der Provinz, Dramen zu schreiben. Kosor wechselte die Gattung, schrieb fortan Dramen (S. 17, S. 36) wie zum Beispiel Brand der Leidenschaften (Požar strasti), einen zunächst auf Deutsch verfassten Text. Das Drama wurde bereits 1911, also zwei Jahre nach seinem ersten Brief an Zweig, am Hoftheater in Mannheim und am Residenztheater München aufgeführt und erschien danach in verschiedenen Übersetzungen in London, Moskau, Zagreb und anderswo (vgl. S. 9, S. 26). Es war der Startschuss zu Kosors Karriere als Bühnenautor. Diesen, wie ihm schien kometenhaften Aufstieg verglich Kosor später mit der etwas früher ansetzenden Popularität von Ivan Meštrović (1883–1962) (S. 13, S. 31f.). Der Vergleich hinkt aber, feierte doch der aus ähnlichen Verhältnissen stammende Meštrović seine weitaus größeren Erfolge als Bildhauer schon seit 1903. Auch in materieller Hinsicht gab es signifikante Unterschiede, denn dem Expressionisten Kosor hatte vor allem eine geschickte Heirat im Jahr 1923 zum Reichtum verholfen (S. 18, S. 42). So lebte er neben München und Wien auch in London, Paris, Zagreb, Belgrad… und seit 1938 ausschließlich in Dubrovnik, lernte neben Deutsch auch Englisch. Seine literarischen Texte schrieb er dennoch vorwiegend auf Kroatisch und ließ sie übersetzen. Oder er übersetzte sie selbst, wie beispielsweise für Zweig. Dabei scheute er in seinen Briefen kaum davor, gelegentlich aus den Texten deutscher Kollegen ohne Anführungszeichen zu »zitieren« (vgl. S. 47f., S. 52f.).
Dies ist vielleicht auch in den ersten beiden erhaltenen Briefen Kosors an Zweig der Fall gewesen. Sie gehören zum Nachlass Stefan Zweigs, der seit den 1960er-Jahren in der Daniel A. Reed Library in Fredonia, New York, aufbewahrt wird. Beim Material aus Fredonia, dem Kern des Buches, handelt es sich allerdings nur um die Texte Kosors an Zweig. Kosor war in den 1910er-Jahren, also zur Zeit der literarischen wie materiellen Hauptunterstützung durch Zweig, Neurastheniker, Avantgardist und Bohémien in einem. Er wechselte damals häufig seine winzigen Zimmer oder Wohnungen, führte lose wie intensive Beziehungen zu verschiedenen Frauen, konnte weder Briefe noch Bücher aufbewahren oder sammeln (S. 11, S. 29). Das ist bedauernswert, weil wir somit Zweigs Antworten fast nur aus Kosors Briefen kennen. In ihnen ist der zitierte Zweig höchst wohlwollend und unterstützend dem kroatischen Autor gegenüber. Kosors Ton aber ändert sich mit der Zeit, von der (gespielten?) Unterwürfigkeit eines frech-ambitionierten Neulings aus der Provinz bis hin zum hochmütigen Ton eines Ebenbürtigen, der nach der ersten Begegnung mit Zweig allmählich vom Provinzler zum Weltmann wurde. Stefan Zweigs Leben hingegen zeugt von einer immer größer werdenden Resignation: Englisch hat er nie richtig lernen, im Exil nie Fuß fassen können, wie er den Ersten und den Zweiten Weltkrieg erlebt hatte, wissen wir aus seiner Autobiografie Die Welt von Gestern, die erst 1943, also nach seinem Freitod am 23. Februar 1942 erschienen ist. Der Autor hat in ihr die Zeit seit dem Ersten Weltkrieg als eine Zeit der Verunsicherung beschrieben.
Am 22. April 1938, also vier Jahre zuvor, als er zum zweiten Mal für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde (der erste Versuch war 1927), bittet Kosor »seinen Freund« Stefan Zweig um ein Votum in eigener Sache, ja er formuliert sogar die Sätze, die Zweig überbringen soll: »möchten Sie nicht an die Nobelpreiskommission Stockholm für die Literatur schreiben: ›Falls die hochgeschätzte Nobelpreiskommission für das Jahr 1939 einen südslawischen Autor für den Nobelpreis für Literatur zu verleihen beabsichtigt, ich schlage in allen seinen Qualitäten synt[h]etisch genommen, für das Jahr 1939 den schöpferischen Josip Kosor, dessen Werk ich kenne, und über welchen ich schon im ›Merkur‹ schrieb‹« (S. 362, S. 364). Der Brief enthält einige Taktlosigkeiten, wobei die syntaktisch-grammatikalischen Fehler fast die geringsten Entgleisungen darstellen. 1938 ist Zweig aus mehreren Gründen nicht in der Lage, das Geforderte zu tun: Nicht nur, dass er schon seit 1934 im Exil ist und allein dadurch zu keiner Akademie oder Institution gehört, wie es für ein Votum nötig gewesen wäre. Für einen Nobelpreis ist der ehemals erfolgreichste deutschsprachige Schriftsteller bisher noch nicht einmal nominiert gewesen. Kein Wunder also, dass er am 29. April wie folgt antwortet: »Leider habe ich mit jenen Leuten von der Kommission auch nicht die geringste Beziehung. Das Vorschlagsrecht haben nur Leute, die selbst den Preis bekommen haben und die staatlichen Behörden. Sonst, lieber Freund, wie gern hätte ich es getan! Mir ist ja jede Gelegenheit willkommen, um Ihnen meine Treue und Herzlichkeit zu erweisen. Verzeihen Sie, dass ich so kurz bin, aber Sie können sich denken, was der Zusammenbruch Österreichs für mich bedeutet. Herzlichst Stefan Zweig« (S. 40). Kosors Aufforderung vom 2. März ist sein letzter erhaltener Brief an Zweig. Auch Zweig hüllt sich offenbar nach seiner höflichen Ablehnung in beredtes Schweigen. Finanzielle Unterstützung durch ihn suchte der seit 1938 in der Villa Tamarix auf Lapad bei Dubrovnik lebende Kosor schon lange nicht mehr. Aus dieser Villa schreibt er seinen letzten erhaltenen Brief an Zweig. Zweigs Antwort vom 29. April ist jedoch nicht nur wegen seiner durchaus hilflos wirkenden Ablehnung und Distanzierung hochinteressant: Es handelt sich um einen von nur drei erhaltenen Originalantworten Zweigs an Kosor (zwei Briefe und eine Postkarte), die sich in der Abteilung für Geschichte der kroatischen Literatur der Kroatischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Zagreb befinden und die 2017 im Band XII von Kosors Gesammelten Werken (Zagreb: ExLibris) publiziert wurden. Von ihnen hat das Literaturarchiv in Salzburg erfahren, 2020 den Herausgeber der Werke, Ivica Matičević, um ein Exemplar gebeten und ihn in Folge über das Briefmaterial in Fredonia informiert (S. 7f., S. 24f.). 2022 erscheint, als Resultat, das zweisprachige Buch Moj prijatelj Stefan Zweig / Mein Freund Stefan Zweig. Der Herausgeber des Buches ist erneut Ivica Matičević, Kosors Texte haben Marta Glowatzky Novosel und Tihomir Glowatzky aus dem Deutschen ins Kroatische übertragen.
Die in den USA entdeckten und mit diesem Buch dem kroatischen und deutschen Publikum zugänglich gemachten Briefe, Gedichte und Textskizzen bilden ein wertvolles Corpus, das zur Lektüre und zur Forschung animiert. Die wenigen erhaltenen Briefe Zweigs an Kosor können zwar die verlorengegangenen Antworten des österreichischen Bestsellerautors nicht ersetzen, Zweigs distanzierte Höflichkeit in den noch erhaltenen Briefen scheint jedoch genauso symptomatisch wie die Tatsache, dass Kosor Zweigs Briefe, aus verschiedenen Gründen, lange nicht hat aufbewahren können. Das spricht sowohl über das Verhältnis beider Autoren als auch über ihre vollkommen verschiedenen Herkunftsgeschichten und Lebensstile.
Außer den Briefen enthält das Buch Moj prijatelj Stefan Zweig / Mein Freund Stefan Zweig noch Kosors Gedichte und Textskizzen (»Pisma, dopisnice, razglednice / Briefe, Postkarten, Ansichtskarten«, S. 55–372), ferner das Vorwort des Herausgebers (S. 7–23, S. 24–43), die Erklärung des Übersetzers Tihomir Glowatzky (S. 45–48, S. 49–53) sowie die biobibliographischen Hinweise zu dem Herausgeber (S. 367–368,) und zu den beiden Übersetzern (Tihomir Glowatzky, S. 369–370 und Marta Glowatzky-Novosel, S. 371). Das Buch verfügt außerdem über zahlreiche Abbildungen, es handelt sich vorwiegend um zeitgenössische Fotografien und Briefkopien in guter SW-Qualität. Eine weitere Korrespondenz befindet sich gerade in Druckvorbereitung und soll 2024 publiziert werden, denn auch Hermann Bahr soll Kosor zum Erfolg verholfen haben. Seien wir also gespannt!
Marijana Erstić
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 108-111.