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Cvetka Lipuš: Komm, schnüren wir die Knochen | Rezension

Eigenwillig und übernational

Cvetka Lipuš: Komm, schnüren wir die Knochen. Gedichte. Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof. Salzburg: Otto Müller Verlag 2019. 119 S.

 

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Von Vesna Kondrič Horvat

Komm, schnüren wir die Knochen, der 2019 im Otto Müller Verlag auf Deutsch erschienen ist, ist der sechste Gedichtband der Kärntner Slowenin Cvetka Lipuš, geboren in Eisenkappel (sl. Železna Kapla), wo sie im mehrheitlich deutsch-, offiziell jedoch zweisprachigen Kärnten ihre Kindheit und Jugend verbrachte. Danach studierte sie in Klagenfurt und in Wien Vergleichende Literaturwissenschaft und Slawistik, zog 1995 für 15 Jahre in die USA und lebt seit 2009 wieder in Österreich, in Salzburg. Obwohl sie nie in Slowenien lebte, schreibt sie ihre Gedichte ausschließlich in ihrer Muttersprache Slowenisch, doch alle ihre bisherigen Gedichtsammlungen wurden auch ins Deutsche übersetzt, in ihre Sprache, die sie erst in der Schule richtig erlernte und die eigentlich ihre „zweite Muttersprache“ geworden ist.

Lipuš versprachlicht in ihren Gedichten – die oft Zyklen bilden, mit einem Hauch zum Epischen, zum Erzählen – das Leben zwischen verschiedenen Sprachen und Kulturen, aber man kann in ihnen, wie der slowenische Dichter Milan Vincetič feststellte, „weder Leid der Angehörigen der slowenischen Minderheit in Kärnten spüren, noch eine pathologische Bindung an die heimatliche Landschaft. Mehr noch: Ausland ist für die Dichterin nur ein ,lay over‘ mit zwei optimalen Lösungen: bleiben oder zurückkehren“. Ihre Lyrik ist trotz ihrer vielen kulturellen Erfahrungen durch und durch intimistisch und man kann für alle ihre bisherigen Gedichtbände Worte wählen, die man bei dieser äußerst artikulierten Dichterin gern anwendet: kompromisslos, souverän, originell, vor allem aber übernational.

Nach den zwei ersten, in Österreich entstandenen Gedichtbänden verfasste sie drei in den USA, in Pittsburgh. Bereits in diesen wurde ihre Sprache offener, die Gedichte länger, auch epischer. Einiges trug dazu ihre amerikanische Erfahrung bei, denn in den USA begann sie sich intensiv mit amerikanischen Autoren auseinanderzusetzen und erfuhr, dass die englischen Texte im Vergleich zu den deutschen viel lockerer sind, weniger verworren. Komm, schnüren wir die Knochen [Pojdimo vezat kosti, 2010] ist der erste Band, der 2010, nach ihrer Rückkehr aus Amerika, erschienen ist. „Wie eine Spinne spinnst du die Worte“ (S. 35), meint das Ich und durch die Schau nach innen, zu den Knochen, öffnet es weite Horizonte, indem es in Zwölf Mal Frau Luna diese bittet: „Liebe Silberwangige, lass deinen Zopf herunter, damit / ich zu dir hinaufklettern kann, wenigstens für eine Nacht“ (S. 65). Auch in diesem energiegeladenen Band findet man eine reiche Bildsprache, die in allen Gedichtbänden sehr intensiv bleibt. Die Sprache, oft sehr eigenwillig, ist sehr genau, jedes Wort stimmt und man weiß, dass mit einem anderen Wort alles zusammenbrechen würde. Man kann auch den Hang zum Visuellen beobachten, denn die Bilder generieren reichliche Vorstellungen. Auch der Klang trägt wesentlich zum Erfolg dieser Gedichte bei. Vielsagend ist dabei die Bemerkung des Kritikers Andreas P. Pitteler: „Auch wenn die Slowenischkenntnisse nicht ausreichen, ihre Gedichte zu verstehen, so genügt allein das laute Lesen der Wortkombinationen um die sprachliche Poesie, die Melodik, die sorgfältige Komposition dieser Texte zu erkennen“. Dazu kann man spüren, wie für die Dichterin der Inhalt, die Sprache und der Klang zu einer Bedeutungseinheit verschmelzen, und Klaus Detlef Olof ist es wunderbar gelungen das auf Deutsch nachzudichten. Vor dem Hintergrund der sehr rhythmischen, sprachlich perfektionierten Gedichte rollt sich eine reiche Themenpalette ab: Schon seit der ersten Gedichtsammlung steht bei Cvetka Lipuš existenzielle Thematik im Vordergrund und sie versucht immer mehr das Vergangene an die Oberfläche zu befördern. Thematisch wölbt sich ein Bogen von den Gedichten im ersten Band Schwellen des Tages [Pragovi dneva] aus dem Jahr 1988 bis zu ihrem fünften Band Belagerung des Glücks [Obleganje sreče, 2008]: In der ersten Sammlung steht ein Ich im Mittelpunkt, das sich zwar die ganze Zeit an die Umwelt gebunden sieht. Mit jeder weiteren Sammlung öffnet sich dieses Ich aber mehr und mehr der äußeren Welt. Nun steht nicht mehr das nach innen gekehrte Ich im Vordergrund, sondern dieses Ich, das sich in seinem Zufluchtsort unsicher fühlt, muss manchmal ausbrechen. Das lyrische Ich konzentriert sich auf die existenziellen Grundfragen und ist zugleich an den weiter gefassten Problemen interessiert.

Lipuš, die sich mit ihrer eigenwilligen Poetik einen Namen gemacht hat, sucht in jedem Band nach einer neuen Sprache, so auch in Komm, schnüren wir die Knochen. Er enthält 23 Gedichte. Zum ersten Mal ist die Mehrheit der Gedichte selbstständig und nur sieben sind mehrteilig, ohne Untertitel und nur nummeriert. Sehr offensichtlich ist auch hier die amerikanische Erfahrung, sichtbar nicht nur durch englische Titel einiger Gedichte (Let it go, How does it feel, Love stricken, Welcome back, Like a prayer) und die Bemerkung des amerikanischen Rezensenten John K. Cox, dass kein mitteleuropäischer Dichter dem nordamerikanischen Leser mehr imponieren würde als Cvetka Lipuš, sondern auch durch die Auflockerung der Sprache. Tina Škrajnar Petrovič versuchte die ganze Sammlung sehr knapp zusammenzufassen: „Der Körper schmerzt und leidet und auch die Seele leidet, denn auch das Gespräch mit dem Mitmenschen ist oberflächlich und eine peinliche Sache, während im Menschen ,im Brustkorb die Stille pocht‘. Das im Titel enthaltene Schnüren der Knochen stellt eine Welt dar, in der der Mensch den Sinn sucht und sich Instanterlebnissen hingibt, die aber in eine noch größere Entfremdung und Unglück führen“. Mit den Bildern des Alltags dringt Lipuš aber auch zu gravierenden existenziellen Fragen durch, indem sie zum Beispiel Heidegger heranzieht in Ein Handbuch für das Dasein: „Geehrter Herr Heidegger, / Experte für metaphysische Fragen, / wenn ich wie ein Geschoss durch den Raum / meiner Zeit reise, träumt mir mitunter, dass mich / am Ausgang jemand erwartet. Statt eines Ausweises / verlangt er meine Seele und verweist mich ins / Obergeschoss, wo man Sternstaub serviert“ (S. 23). Oder im 2. Teil des Zyklus Erwache, Wunde, sagt das Messer vor Rilke warnt: „Geh mir nicht zu Rilke, wenn alles reißt, sich / auflöst, zerfällt, wenn alle zu sich selber / drängen, zurück in den ausgezehrten Kern, wenn / der Körper auf das Gesetz der Schwerkraft pfeift, / am liebsten den Sternen die Hand schüttelte, / bis zum Verkohlen …“ (S. 9). Was Fabjan Hafner für Lipuš‘ frühere Gedichtbände feststellte, gilt auch hier: In ihrer „Sehnsuchtslyrik“ gibt es einen gewissen Hang zum Grammatikalischen, zum Wissenschaftlichen, wobei sie sich sehr viel Freiheit erlaubt und man von der „Grammatik der eigenen Metaphysik“ sprechen kann.

Noch entschiedener als in früheren Gedichtbänden versucht Cvetka Lipuš auch mit diesem die gängigen Denkmuster außer Kraft zu setzen, indem sie sieht, dass unsere Welt brüchig geworden ist, die Welt, in der das originelle lyrische Ich in die Tiefe, bis in die Knochen durchdringt und im Zyklus Keine Bange vor der Schlange selbstironisch aufschreit: „Soll ich dir sagen, wie es ist, wenn ich mit / hundertfünfzig die Stunde gegen mich anrenne und / mich dort ein abgenagter Knochen erwartet“ (S. 17).

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2022), Jg. 17, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 249–251.