Von Edit Király
Brücken stehen für Verbindung und Verständigung, setzten aber die Getrenntheit dessen, was sie verbinden, voraus. Vielleicht sind es gerade diese starke konventionelle Symbolik der Brücke wie auch ihre paradoxen Eigenschaften, weswegen ihre tradierten Bedeutungen im 20. und 21. Jahrhundert oft hinterfragt und kritisch reflektiert wurden: Genügt die Sicherung von Transport und Verkehr, um die Kommunikation zwischen zwei Seiten zu ermöglichen?
Diese Frage stellt sich mit besonderer Deutlichkeit in der Donauregion, die traditionell durch Epochen der Annäherung wie der Entfernung und entsprechend durch eine lange Tradition der kulturellen Kommunikation und Abgrenzung geprägt ist. Damit zeigt sie auf kleinstem Raum verdichtet jene zwei einander widersprechenden politisch-gesellschaftliche Logiken auf, die Europa seit Jahrhunderten prägen: politische Rivalitäten und Grenzziehungen auf der einen Seite, kulturelle Übergänge und Ähnlichkeiten sowie gesellschaftliche Verbindungen auf der anderen. Folgender Aufsatz möchte anhand des Beispiels der Brückenwächter in Štúrovo/Párkány zeigen, wie diese verschiedenen Aspekte in einem mittlerweile traditionsreichen Künstlerprogramm miteinander verknüpft und zugleich sichtbar, hörbar und erfahrbar gemacht werden können.
Die künstlerischen Interventionen an dieser jahrzehntelang existierenden Leerstelle der Kommunikation erinnern an ein historisches Trauma aus dem Zweiten Weltkrieg: die einstige Sprengung der Brücke, die das Städtchen mit ihrem Gegenüber Esztergom verband. Sie setzen Kommunikation als ein Ereignis in Szene, die immer wieder ein Hindernis überwinden muss. Die Entfernung zwischen den beiden Flussufern wird hier als Störung bzw. Barriere, aber auch als eine produktive Zwischenzone erfahrbar.
Das Widerspiel von Überquerung und Unterbrechung, das sich im Bild der zerstörten Brücke materialisiert, wurde zum fruchtbaren Ausgangspunkt für das kulturelle und künstlerische Projekt, das Karol Frühauf 2004 mithilfe des Štefan und Viera Frühauf Stiftungsfonds und der Unterstützung des Štúrovo und Umgebung Kulturvereins ins Leben gerufen hat. Es ist gerade die fehlende Selbstverständlichkeit der Brücke, ob als Erinnerung oder als Vorstellung, die das Brückenwächter-Programm in Štúrovo/Párkány immer wieder in Szene setzt. Durch den Bezug zur Brücke bzw. zur fehlenden Brücke gerieten Fragen der Vermittlung mit allen ihren politischen, poetischen und medialen Aspekten in dessen Fokus. Entsprechend bedeutet die Brücke für die Brückenwächter und seit 2006 auch für die Teilnehmer des AquaPhone Festivals zwar etwas Handfestes, wurde aber auch zur Aufforderung, über dieses Handfeste hinauszugehen.
Eine Brücke – zwei Städte
Stadt, Fluss und Brücke bilden in jeder Donau-Stadt ihren eigenen Zusammenhang. Die Geschichte der Zwillingsstädte Štúrovo/Párkány und Esztergom ist besonders vertrackt, weil sie – obwohl beide überwiegend von Ungarn bewohnt1Daten für Štúrovo/Párkány: 1910 waren es 98% 2021 64%. Vgl. <https://velemjaro.sk/telepulestar/parkany>, 27.6.2023. – durch die neuen Grenzen nach dem Ersten Weltkrieg in zwei verschiedene Länder eingegliedert wurden. In ihrem Charakter wie auch in ihrer Geschichte könnten sie daher am Anfang des 21. Jahrhunderts kaum unterschiedlicher sein. Esztergom, Krönungsstadt der ersten ungarischen Könige, ist seit Ende des 12. Jahrhunderts eine erzbischöfliche Stadt und Zentrum der ungarischen katholischen Kirche gewesen. Die riesige Kuppel des Esztergomer Domes thront über die gesamte Gegend, selbst von Štúrovo/Párkány aus gesehen erscheint sie hoch über den Bürgerhäusern, als wäre sie Teil der eigenen Stadt. Das deutlich kleinere22021 hatte Štúrovo/Párkány 10.000, <https://velemjaro.sk/telepulestar/parkany>, 27.6.2023, 2009 Esztergom 30.000 Einwohner, https://hu.wikipedia.org/wiki/Esztergom_n%C3%A9pess%C3%A9ge#Statisztik%C3%A1k>, 27.6.2023. Štúrovo/Párkány3Die Siedlungsgeschichte reicht weit in die Urzeit zurück. Die Ortschaft am linken Donauufer wurde im Mittelalter Kakath genannt. Die osmanischen Eroberer zerstörten sie und erbauten an ihrer Stelle eine kleine Festung mit dem Namen Dsigerdelen, doch auch diese verfiel nach den Türkenkriegen. 1720 wurde das hier stehende Städtchen schon als Párkány bezeichnet. Vgl. Baka, Tomáš: Párkány. Huszadik századi történetek. Bratislava 2018, S. 10-13. auf der linken Seite der Donau wurde hingegen seit dem 18. Jahrhundert von den Verkehrsströmen begünstigt. Ab 1850 lief die Haupteisenbahnlinie Wien-Budapest, eine der ersten Zugverbindungen der Habsburger Monarchie, durch die Gegend, mit einem Bahnhof wenige Kilometer vor der Stadt.4Esztergom wurde erst in den 1890er-Jahren mit einer Seitenlinie aus Almásfüzitő bzw. Budapest bedacht. Die Stahlbrücke wurde an Stelle der früheren Schiffsbrücke 1893 in Auftrag gegeben und 1895 fertiggestellt, um Esztergom zuverlässig mit dieser wichtigen Verkehrsachse der Monarchie zu verbinden.
Die beiden Städte, die am Anfang des 20. Jahrhundert auf dem besten Wege waren, einen engen wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenhang zu bilden, entwickelten sich im Laufe des Jahrhunderts allmählich auseinander.5Ihre Geschichte zeigt viel Ähnlichkeit mit jener der beiden Donau-Städte Komárno/Komárom mit dem Unterschied, dass in deren Fall der ältere und größere Stadtkern zu der Tschechoslowakei kam, während die Vorstadt Új-Szőny (heute Komárom) zu Ungarn. Vgl. Máté Tamáska: Spatial portrait of twin towns on the Danube. In: Garrard, John / Mikhailova, Ekaterina: Twin cities: Urban Communities. Borders and Relationships over Time. London 2019, S. 191-202. Esztergom blieb zwar auch im 20. Jahrhundert eine Kleinstadt, aber ihre Position als Hochburg der ungarischen katholischen Kirche blieb unbestritten, für Párkány (sk. Parkan) hingegen bedeute die Verrückung der Grenzen vor, während und nach den Weltkriegen eine ständige Neudefinition seiner Grenzlage. Seine Bürger haben in diesem Jahrhundert fünfmal die Staatsbürgerschaft gewechselt6Im Prozess der Zerstückelung der Tschechoslowakei vor dem Zweiten Weltkrieg bekam wiederum Ungarn durch den Ersten Wiener Schiedsspruch 1938 die südliche Slowakei zugesprochen und besetzte sie binnen wenigen Tagen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam Párkány wieder zu der Tschechoslowakei und wurde 1993, als die Slowakei aus dem gemeinsamen Staat ausschied, Teil der Slowakischen Republik., auch wenn sie nie ihre Stadt verlassen haben.7Die ungarische Minderheit der Slowakei wurde nach dem Zweiten Weltkrieg entrechtet, als 1945 gemäß dem 33. Beneš-Dekret ihren Mitgliedern die Staatsbürgerschaft und alle politischen Rechte aberkannt wurden. Erst 1948 bekamen sie diese nach Ablegung einer Treuegelübde wieder zurück. In diesen sogenannten »Jahren der Heimatlosigkeit« wurden etliche Ungarn auch aus Párkány im Rahmen eines von der Tschechoslowakei forcierten slowakisch-ungarischen Bevölkerungsaustausches nach Ungarn ausgesiedelt. Viele der Bleibenden deklarierten sich als Slowaken. Erinnerungen zufolge war es in diesen Jahren nicht ratsam, auf der Straße ungarisch zu sprechen. Vgl. Zoltán Sidó: Magyar nyelvű oktatás Szlovákiában. [Ungarischsprachiger Unterricht in der Slowakei]. In: Nyelvünk és kultúránk [Unsere Sprache und Kultur] 1999/April-Juni, S. 51–60; Baka: Párkány, S. 18, S. 32. Diese wurde 1948 nach Ľudovít Štúr, einer zentralen Gestalt der slowakischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts, in Štúrovo umbenannt.8Den neuen, historisch nicht verankerten Namen musste die Stadt auch 1991 nach einem gültigen und erfolgreichen Referendum für die Rückbenennung beibehalten. Vgl. György Himmler: A »bársonyos« forradalom és a népszavazás. [Die »samtene« Revolution und die Volksabstimmung). In: Baka: Párkány, S. 164–166. Besonders schmerzlich war, dass Ľudovít Štur sich gegen die ungarische Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts stellte und dass er keinerlei Beziehung zur Stadt hatte.
Die neue Situation brachte auch wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen mit sich. Schon ab den 1960er Jahren begann die Kleinstadt infolge der hier angesiedelten Papierfabrik9Um diese Zeit begann auch auf der ungarischen Seite eine Industrialisierung von Esztergom und Umgebung Vgl. Tamáska: Spatial portrait of twin towns on the Danube, S. 195. zu wachsen, ihre Bevölkerung hat sich zwischen 1910 und 1991 mehr als vervierfacht10Von 3000 auf über 13.000 gestiegen Vgl. <https://velemjaro.sk/telepulestar/parkany>, 27.6.2023., der Siedlungskern verschob sich weg von der Donau11Obwohl der historische Stadtkern von Esztergom nach wie vor unfern des Donau-Ufers situiert ist, liegen alle infolge der neuen Industrien entstandene Wohngebiete weiter abseits des Flusses. Vgl. Tamáska: Spatial portrait of twin towns on the Danube, S. 195. und infolge des Zustroms an Arbeitskräften wuchs auch der Anteil der Slowaken.12Vgl. <https://velemjaro.sk/telepulestar/parkany>, 27.6.2023. Die Stadt hat heute sowohl eine ungarische als auch eine slowakische Grundschule und am Gymnasium gibt es slowakische und ungarische Klassen. In den Ämtern gibt es eine funktionierende Zweisprachigkeit.13Obwohl man immer wieder auch Hinweise auf Gruppen findet, die die Zweisprachigkeit ablehnen. Vgl. Kornélia Slabáková: Végsősoron örülök, hogy ide költöztünk [Letztendlich freue ich mich, dass wir hierher gezogegen sind]. In: Baka: Párkány, S. 178–185, hier S. 182. Párkány nahm und nimmt kulturelle Impulse aus der Tschechoslowakei bzw. aus der Slowakei auf.14Vgl. Peter Kerekes: Az én városom: Párkány [Meine Stadt: Štúrovo]. [Übersetzt ins Ungarische von Ágnes B. Mánya]. In: Látó 2016/4, S. 10–20, hier S. 13.
Aus der Sicht des Urbanisten Máté Tamáska sind Štúrovo/Párkány und Esztergom vergleichsweise spät, am Ende des 19. Jahrhunderts, zu Zwillingsstädten geworden – und dieser Entwicklung folgte eine lange, bis Ende des 20. Jahrhundert anhaltende Periode der Desintegration. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Grenze nunmehr als unverrückbar wahrgenommen wurde und diese Perzeption sich mit der nationalen Abgrenzung der beiden sozialistischen Nachbarstaaten paarte, lösten sich die früheren komplementären Strukturen auf und entwickelte jede Seite ihre je eigenen Industrien, Wohngegenden und Erholungsgebiete. Diese Parallelstrukturen blieben in Tamáskas Darstellung selbst nach dem Wiederaufbau der Brücke bestehen.15Tamáska: Spatial portrait of twin towns on the Danube. Allerdings bescherte dieser die Möglichkeit einer engeren ökonomischen Verflechtung.
Die zunächst 1920, dann 1944 neuerlich zerstörte Brücke blieb Jahrzehnte lang nicht nur ein Zeichen des Krieges, sondern indirekt auch Memento einer einstigen Normalität. Mehr als alle Daten und Ziffern erzählen die persönlichen Erinnerungen an die einst begehbare und befahrbare Brücke der Jahrhundertwende und der Zwischenkriegszeit von den vielfältigen Beziehungen zwischen beiden Städten. Aus der familienhistorischen Dokumentation von Péter Buza geht hervor, dass man am Anfang des 20. Jahrhunderts von Párkány nicht nur zum Arbeiten oder in die Schule in das größere Esztergom gegangen ist, sondern auch, wenn man ins Kino wollte. Noch in der Zwischenkriegszeit, als sich das Leben der ungarischen Minderheit unter den bürgerlich demokratischen Verhältnissen der Tschechoslowakei konsolidierte, florierte der kleine Grenzverkehr.16Nachdem die Brücke 1927 wieder aufgebaut wurde. Es gab Geschäfte, die in beiden Städten eine Niederlassung hatten, manche schickten von Párkány aus ihre Kinder in die Schulen auf der gegenüberliegenden Seite, dort gab es wiederum Gesellschaften und Vereine, die regelmäßig die berühmte Gastwirtschaft der Familie Zahovay in Párkány besuchten.17Vgl. Péter Buza: A kalapdoboz. Élet a határon. [Hutschachtel. Leben an der Grenze] Budapest 2009, S. 49. Wenn es in Parkan/Párkány brannte, rief man die Esztergomer Feuerwehr, weil sie schneller kam als die regional zuständige, und in Notfällen wurden Patienten nach Esztergom ins Krankenhaus gebracht und nicht nach Nové Zámky (ung. Érsekújvár) auf der tschechoslowakischen Seite, schlicht und einfach weil Esztergom näher war.18Kerekes: Az én városom, S. 13. Nichts vermittelt besser die Verwobenheit des Alltagslebens als die Erinnerung an jene locker über die Schulter geworfenen Handtücher, mit denen man zum Baden in die Nachbarstadt ging.19Kerekes: Az én városom, S. 13.
Es ist dieser historischen Verwobenheit zu verdanken, dass der Impuls, die Brücke nach langen Jahrzehnten wieder aufzubauen, von den Zivilorganisationen der Städte kam und nicht von der Großpolitik. Diese bot lediglich die politischen Rahmenbedingungen20Nach der Wahlniederlage des nationalistischen Politikers Vladimír Mečiar 1999 zeichnete sich in der Slowakei eine neue politische Situation ab. und die Finanzierungsmöglichkeiten.21Vgl. Breakfast over the Bridge. Regie: Mattia Mura 2021. 2008 wurde auch die grenzüberschreitende Ister-Granum Euroregion gegründet. Als die Verbindung über den Fluss 2001 wieder in Betrieb genommen wurde, konnte man zunächst nur nach Vorweisen des Reisepasses zwischen den beiden Ufern verkehren. Erst nach dem EU-Beitritt beider Länder 2004 und nach dem Wegfallen der Grenzkontrollen Ende 2007 wurde der Übergang wieder völlig frei. Aus den beiden Grenzstädten wurden wieder Brückenstädte.
Stadt – Niemandsland – Fluss
In Štúrovo/Párkány wurde die Jahrzehnte lang fehlende Brücke zum Fixpunkt negativ bestimmter Identität. Sie verband persönliches und gemeinsames Leid auch in den Überlegungen von Karol Frühauf, dem Initiator des Brückenwächter-Programms, zu der Stadt seiner Kindheit: »Die Brücke meiner Kindheit war ein Stumpf, eine einzige Öffnung, die durch einen Zaun abgeschlossen wurde. Dahinter konnte man die zwei verwaisten Pylonen sehen und die einzige Öffnung auf der Esztergomer Seite.«22Karol Frühauf: Gyermekkorom városa. [Stadt meiner Kindheit]. In: Tomáš Baka: Párkány. Huszadik századi történetek. [Štúrovo/ Párkány. Geschichten aus dem 20. Jahrhundert] Bratislava 2018, S. 120–127, hier S. 127. [Übersetzt von Edit Király]. Eben dieses Fehlen bezeichnete er dann als »seine« Brücke oder als die Brücke seiner Generation: »Ich erinnere mich, – schreibt er – ›unsere Brücke‹ erweckte in uns den Wunsch, zu überqueren – ein unsichtbares Hindernis zu überwinden, das sich in der Leere zwischen den beiden Öffnungen materialisierte […].«23Frühauf: Gyermekkorom városa, S. 127.
Ähnlich empfand es der slowakische Filmregisseur Peter Kerekes, dessen Plan, über die fehlende Brücke einen Dokumentarfilm zu drehen, Ende der 1990er Jahre von der Geschichte überholt wurde.24Als sich nach der Niederlage des nationalistischen Politikers Vladimír Mečiar 1999 in der Slowakei eine neue politische Situation und mit ihr die Hoffnung auf den Wiederaufbau der Brücke abzeichnete, ließ er seinen Filmplan fallen und veröffentlichte lediglich seine Aufzeichnungen hierzu. Auch ihn faszinierte die Lücke in der Brücke und der Bruch in der Geschichte der Stadt. In seinem Essay Meine Stadt: Štúrovo merkt er über den anvisierten Drehort an:
»Es ist ein wunder Punkt, dieses Niemandsland – Fluss – Grenze. Eine Bedeutung bekam der Ort erst, wie er ohne Brücke blieb. Das Torso einer Brücke als genius loci, sprechend wurde sie erst, wie es sie nicht mehr gab.«25Kerekes: Az én városom, S. 19.
Als eine Anleitung, das Tatsächliche durch die Vorstellung zu überschreiten, deutete der ungarische Dichter Lajos Parti Nagy die Brückengeschichte in seinem für das Aquaphone-Festival des Jahres 2007 geschriebenen Text Die Donau bei Štúrovo. Er hielt mit der im Ungarischen gebräuchlichen Formel für Märchenanfänge »mal gab es sie, mal gab es sie nicht« (in der Bedeutung von »es war einmal«) nicht nur Fakten fest, sondern spannte die Brücke im Raum des Imaginären auf.
Über – Brücken: Installationen und Performances
Als Bezeichnung einer Zwischenzone, die einen Bruch, eine Grenze und zugleich deren Aufhebung konfiguriert, hat die Metapher der Brücke politische wie auch mediale Dimensionen. Sie ist ein Ort des »Weder-Noch«, der zugleich auch als ein Ort des »Sowohl-Als auch« verstanden werden kann.26Das Paradigma der Ähnlichkeit wurde von Anil Bhatti und Dorothee Kimmich auch mit Blick auf solche und ähnliche Konstellationen in der Habsburger Monarchie formuliert. Vgl. Anil Bhatti, Dorothee Kimmich (Hgg.): Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma. Konstanz 2015. Diese komplexe Figur wurde in Štúrovo im Laufe der vergangenen fast 20 Jahre von Brückenwächtern unterschiedlichster Provenienz jeweils anders ausgelegt und ausgefüllt.27 Der an der Unterstützung des kulturellen und künstlerischen Programms maßgeblich beteiligte Štefan und Viera Frühauf Stiftungsfonds wurde vom Philantropen Karol Frühauf ins Leben gerufen und nach seinen Eltern benannt. Insgesamt aber inspirierte die fehlende wie auch die wiederaufgebaute Brücke alle jene künstlerischen Projekte, die im Rahmen des Brückenwächterprogramms entstanden sind.
Die Arbeiten konnten sich auf unterschiedlichste Arten des Übersetzens und der Übersetzung beziehen: aus einer Sprache in die andere, die Vermittlung zwischen Kulturen, zwischen lokalen, regionalen und europäischen Anliegen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Imagination und sogar auf die zwischen Medien. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer verwendeten die Brücke als Modell, als Ort der Ausstellung oder der Performance, als Fundgrube für unterschiedlichste Materialien oder immer wieder auch als eine Art Positionsbestimmung. Sie wurde als Topos in verschiedene Medien übertragen – als Klang, als Stimme, als Geräusch, als Bild, und als Text – und wurde weit über den konkreten geografischen Zusammenhang hinaus exemplarisch für Fragen der Kommunikation und der Identität ausgedeutet.
Die rumänische Essayistin Cristina Vidruţiu (Brückenwächterin 2018) kontrastierte in einer ihrer Brückengeschichten die Begriffe Grenze und Brücke, um ihre bevorzugte Position an jenem Punkt der Brücke auszuwählen, wo die Grenze verläuft:
I feel the most at ease on the border
There, I feel like I am the most of myself.
In between.
Left foot in Slovakia,
Right foot in Hungary.
Always on the border.28<https://vidrutiucristina.wixsite.com/bridgestories/single-post/2018/09/17/The-Border-On-The-Bridge>,
21.12.2022.
Die britische Medienkünstlerin Esther Ainsworth (Brückenwächterin 2013) hat die Klänge und Geräusche der Brücke aufgenommen, um daraus eine eigene Musik zu machen (Bridge Beat, Bridge Soundings).29 <https://soundcloud.com/e_s_t>, 21.12.2022. Der deutsche Fotograf Michael Jochum (Brückenwächter 2010) hat Menschen aus der Stadt vor weißer Leinwand mit einer (analogen) Kamera fotografiert.Er hat sie dabei wie »auf einer virtuellen Bühne auftreten lassen«30 Rózsa T. Endre: Híd a zavaros folyó felett: Michael Jochum Zászlóinstalláció a Mária Valéra hídon [Bridge over troubled waters. Michael Jochum Fahneninstallation auf der Maria-Valeria-Brücke]. In: Balkon 2010/11–12, S. 34–36, hier S. 35., um die dann (digital) auf weiße Leinwand kopierten Fotos auf der Brücke aufzuhängen31 <https://www.michael-jochum.de/#iLightbox[8dd52eb40cd8ac2e179]/0>, 21.12.2022. – im Kontrast zu jenen üblicherweise Brücken schmückenden Fahnen, die nicht Zivile, sondern Staaten repräsentieren. Er nannte seine Installation Bridge over troubled waters.32 Simon & Garfunkel 1970.
Der Kontrast von Flüchtigem und Festem wurde zum Thema der Performance von Sabina Kaeser und Thomas J. Hauck (Brückenwächter 2007). Mit Hilfe einer Schablone »druckten« sie auf dem Brückengelände aus Mehl ein Gedicht »aus«: Attila Józsefs An der Donau (1936) in ungarischer und slowakischer Sprache. Das berühmte Gedicht, das die Versöhnung der Donau-Völker thematisiert, überquerte in ihrer Performance zweimal die Staatgrenze, Sprachgrenzen und zugleich auch die Grenzen von Textmedien. Der »feste« Text wurde zum flüchtigen Ereignis: Die ungewöhnliche Materie machte das Gedicht für kurze Zeit tastbar, sichtbar und lesbar, bis sie letztlich spurlos verschwand.33 <https://www.bridgeguard.org/bruckenwacht/bisherige/>, 21.12.2022.
Die für die Brückenprojekte engagierten Künstler verbringen drei bis sechs Monate im sogenannten Brückenwächter-Haus.34Dieses gehörte früher einem Getreidehändler. Hinweis von Karol Frühauf. Sie sollen, so der Plan, dazu beitragen, »virtuelle Brücken [zu bauen], die helfen, reale Brücken zu schützen«.35Website des Projekts: <https://www.bridgeguard.org/>, 12.12. 2022. Ihnen ist auch die Pflicht auferlegt, mit der Öffentlichkeit in der Stadt zu kooperieren.36Dazu gehört die Arbeit in der »allgemeinen Kunstschule oder im Kinderheim«, Diskussion mit Gymnasiasten, »mindestens ein[.] öffentliche[r] Auftritt« und »das Gespräch mit der Bevölkerung«. <https://www.bridgeguard.org/>, 12.12.2022. Auf dieser Grundlage entstand als weiteres künstlerisches Projekt das Aquaphone Festival, das mithilfe von Literatur und Musik temporäre Verbindungen zwischen den beiden Ufern herstellt. 2006 von der Kuratorin Hanneke Frühauf (Karol Frühaufs Frau) ursprünglich als einmalige Veranstaltung geplant, hat das Festival seither bis auf das Covid-Jahr 2020 jedes Jahr stattgefunden.37Erinnerungen zufolge zog gerade während des Ereignisses ein Sturm auf, und als er endlich vorbei war, erschien ein Regenbogen über der Landschaft, worauf die Organisatoren beschlossen, es in Form eines alljährlichen Ereignisses zu wiederholen. Frühauf, Karol & Hanneke: AquaPhone. Štúrovo – Esztergom 2006–2015. Bratislava 2015, S. 80, S. 171.
Fernsprechen über den Fluss: Aquaphone
Von den beiden bestimmenden Momenten der Trennung in jeder menschlichen Kommunikation, nämlich dem einander Fern- und Fremdsein38Emmanuel Levinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg i. Br., München 1983. Zitiert nach Sybille Krämer: Der Bote als Topos: oder Übertragung als eine medientheoretische Grundkonstellation. In: Till A. Heilmann, Anna Tuschling, Anna Heiden (Hgg.): medias in res. Medienkulturwissenschaftliche Positionen. Bielefeld 2014, S. 53–68, hier S. 58f., setzt das Aquaphone Festival vor allem das Fernsein in Szene. Die künstlerische Intervention erinnert an jene Zeit nach dem Krieg, als die Verständigung zwischen den beiden Städten nur über den etwa 500 Meter breiten Fluss möglich war. Familienmitglieder, Freunde und Bekannte riefen sich damals über die Donau ihre Botschaften zu. Die räumliche Anlage mit dem großen Fluss und den zwei Ufern, die zwei Städte und zwei Länder voneinander trennen, dient dem Festival dabei als Modell für verschiedene Formen der Kommunikation, der Vermittlung und auch der Übersetzung.
Am Anfang steht immer ein literarisches Werk – das abwechselnd slowakische, ungarische und deutschsprachige AutorInnen für den Anlass jährlich schreiben. Der Text wird in die anderen zwei Sprachen übersetzt und die beiden Schweizer Musiker Alfred Zimmerlin und Markus Eichenberger nehmen die deutsche Version als Basis für die Konstruktion ihrer musikalischen Begleitung. In der einstündigen Performance wird der Text auf Slowakisch, Deutsch und Ungarisch vorgetragen, also in den wichtigsten Sprachen, die in dieser Gegend einst gesprochen wurden oder derzeit gesprochen werden. »Original« und »Übersetzung« werden dabei gleichrangig behandelt: Das beweist auch der Blick auf die Liste der ÜbersetzerInnen, die nicht nur berühmt, sondern oft selbst AutorInnen sind.39Péter Esterházy, László Márton, Mila Haugová u. a. Vgl. auch Attila Rizsányi: A (határ)folyó mint mediális tényező [Der (Grenz-)Fluss als medialer Faktor]. In: Híd [Brücke] 4/2017, S. 57–61, hier: S. 60. Diesen Eindruck verstärkt noch die Zweisprachigkeit mancher AutorInnen.40Zsuzsanna Gahse, Ilma Rakusa, Vladimir Vertlib u. a.
Die Musik wird auf der Párkányer Seite mit einem Cello (Alfred Zimmerlin), auf der Esztergomer mit einer Klarinette oder einem Saxofon (Markus Eichenberger) zum Erklingen gebracht.
»Ist ein frischer Text da, treffen wir uns […], um die Struktur der Musik und die Struktur des Textes genau aufeinander abzustimmen,« schreibt Alfred Zimmerlin über den Prozess und das Prinzip des Komponierens. »Im Subtext geht es – losgelöst vom Textinhalt – ganz zentral um Gleichgewichte: um das Ausbalancieren dessen, was an beiden Ufern der Donau geschieht.«41Alfred Zimmerlin: Ein AquaPhone-Reflex. In: Frühauf: AquaPhone, S. 171.
Die Verszeilen werden – ebenfalls auf beiden Ufern der Donau – jeweils von einer männlichen (Karol Frühauf) und einer weiblichen (Éva Uzsák) Stimme rezitiert. Das Ereignis findet in unmittelbarer Nähe der Brücke statt, man kann es von beiden Seiten der Donau, wie auch von der Brücke hören. Die Stimme braucht ungefähr zwei Sekunden, um die Donau zu überqueren. Diese geringfügige Verzögerung und die abnehmende Lautstärke trägt zu der Erfahrung der Entfernung bei.42Rizsányi: A (határ)folyó, S. 59. In ironischer Umkehr der ursprünglichen Situation muss heute nicht die Grenze, sondern der freie Verkehr auf der Brücke als Hindernis für die Kommunikation »besiegt« oder zumindest übertönt werden.43Vgl. Zimmerlin: Ein AquaPhone-Reflex, S. 171; auch Rizsányi: A (határ)folyó, S. 59. Deshalb und weil teilnehmende Künstler wie Zuhörer nicht unmittelbar am Wasser Platz nehmen, werden Musiker wie Rezitierende akustisch-technisch verstärkt.
Neben literarischem Text und Musik spielt der Schauplatz als dritter medialer Faktor in der Gesamtwirkung mit.44Rizsányi: A (határ)folyó, S. 59. Die Brücke, die im akustischen Erlebnis kaum eine Rolle spielt, wird zur nicht wegzudenkenden Kulisse der Performance, funktioniert als deren ideeller Bezugspunkt. Das Paradoxon der Brücke, die das Getrennte verbindet,45Vgl. Simmel 1909. wird hier allerdings erweitert: Die Komplexität des Kommunikationsprozesses setzt die Erinnerung an eine einstige Störung in Gang. Die Performance aktualisiert diese Erinnerung über die räumliche Entfernung: Fluss und Landschaft werden zu einem widerständigen Kommunikationskanal46Rizsányi: A (határ)folyó, S. 58. und rücken dadurch Vermittlung bzw. Übertragung sinnlich in den Fokus. Dass die Entfernung wie ihre Überwindung ein Erlebnis eigenen Zuschnitts sein kann, bezeugen die Zeilen des Musikers Alfred Zimmerlin: »[…] am Schluss wird der Moment des Verklingens des letzten Tons immer wieder zu einem Erlebnis der unglaublichsten Art, denn im letzten Unisono kommt alles zusammen: das Hüben, das Drüben, die Brücke, der Fluss, Natur, Kultur, Sprachen…«47Zimmerlin: Ein AquaPhone-Reflex, S. 171.
Das Festival macht Kommunikation zu einem Ereignis. Oft haben die vorgetragenen Werke schon Dialog-Form, sie werden aber auf jeden Fall in Dialog-Form vorgetragen und sind dann als eine Art Gespräch zu verstehen. Eine beliebte Konstellation war der Dialog von Mann und Frau (beim slowakischen Autor Michal Hvorecky zwischen einer Slowakin und einem Ungarn48Michal Hvorecky: Ein Gespräch über die Donau von Štúrovo nach Esztergom. Übersetzt von Mirko Kraetsch. In: Frühauf: AquaPhone, S. 193f., bei der slowakischen Dichterin Mila Haugová zwischen den verliebten Flüssen Donau und Morawa49Mila Haugová: Die Flüsse Donau und March. Übersetzt von Karol Frühauf. In: Frühauf: AquaPhone,
S. 179–181.). Manche Gedichte experimentierten mit anderen Formaten, setzten eine andere Art von Zwiegespräch oder gerade das Fehlen des Zwiegesprächs in Szene. Der slowakische Dichter Tomáš Janovic machte 2008 die Formel »Wie man in den Wald hinein ruft/ so tönt es heraus« zum musikalischen Thema und variierte sie: »Rufst du Bach/ so ertönt eine Fuge./ Rufst du Gershwin/ so ertönt Swing.« – wobei das Gegenüber wie selbstverständlich die Rolle des Echos übernahm.50Tomáš Janovic: Wie man über die Brücke ruft. Aus dem Slowakischen von Karol Frühauf. In: Frühauf: AquaPhone, S. 157.
Der ungarische Dichter Dániel Varró verfasste Prozeduren der Überquerung (2017) als Monolog eines Mannes, wobei das Gedicht ein schweigendes weibliches Gegenüber impliziert. Es probiert Möglichkeiten des alltäglichen kommunikativen Brückenschlags aus und plündert zu diesem Zweck die Zitatenkiste der Weltliteratur – ein Kontrast, der dem Text einen unvergleichlich ironischen Unterton gibt. Um diesen Monolog den örtlichen Verhältnissen in Štúrovo/Párkány anzupassen, wurden dann bestimmte Zeilen einer weiblichen Stimme zugeordnet. Sie wiederholt auch einzelne Sätze des Mannes – lauter Eingriffe, die die Textvorlage komplett veränderten.
Der Kontrast von Reden, Kommunikation und Nicht-Sagen machte ebenso die Spannung des Gedichtes Wollte nur sagen (2021)51Übersetzt von Wilhelm Droste. Aus der Sammlung Karol Frühauf. der ungarischen Lyrikerin Erdős Virág aus. Statt eines Gesprächs tauschen die Sprechenden (auch bei ihr Mann und Frau) nur Gesprächsfloskeln aus, wobei das Gesagte das Nicht-Gesagte nur erahnen lässt. Floskeln der Kontaktaufnahme und die wiederholten Versicherungen, dass der Andere anwesend ist, nehmen einen großen Raum im Gespräch ein: »bist du da? bist du da?«, »hörst du? hörst du?«, »bleib etwas dran! ich bleibe.« Der Akzent verschiebt sich von der Mitteilung zur Aufrechterhaltung des Kontakts, das Mittel wird zum Zweck. Der typische Gesprächsanfang »ich wollte nur sagen«, der im Prinzip eine Mitteilung einleiten sollte, wird durch seine Wiederholung zum musikalischen, rhythmisierenden Element.
Statt der Mitteilung baut das Gedicht eine Spannung auf, in der letztlich das Verschweigen fühlbar wird. Die Umstände des Nicht-Sprechens werden im verhinderten »Beziehungsgespräch« selbst zur Aussage über die Beziehung. In den Dialog fließen Floskeln ein (»sich mit dem Strom vernetzen«, »Grenzen verwischen«), die auf eine Liebesbeziehung anspielen, aber auch auf das konkrete Umfeld verweisen. Abschließend listen die Sprechenden Gegenstände auf, deren physischer Zusammenhang ihre Beziehung bezeichnen könnte – und lassen damit keine Zweifel dran, dass sich Spiel und Tiefgründigkeit bestens vertragen. Statt der Worte beginnen also die Dinge zu reden, sogar durch den Namen des Ortes hindurch: »Du der Pfeiler, ich die Brüstung [im Ungarischen: »Párkány«].«
Frühstück auf der Brücke
Einer der komplexesten künstlerischen Versuche, die Geschichte der beiden Städte mit allgemeinen Fragen der Kommunikation zu verbinden, ist das im Rahmen des Brückenwächterprograms entstandene Filmprojekt Breakfast over the Bridge.52Breakfast over the Bridge. Chapter 1. Regie: Mattia Mura 2021. <https://www.bridgeguard.org/bruckenwacht/bisherige/>, 21.12.2022. Das Werk des italienischen Dokumentarfilmemachers Mattia Mura53Brückenwächter von Anfang September 2020 bis Ende Januar 2021. inszeniert die Brücke als vielschichtigen Kommunikationsraum – im konkreten wie im übertragenen, im persönlichen wie im politischen Sinn. Diese verschiedenen Bedeutungsschichten der Kommunikation werden auf unterschiedlichen visuellen und performativen Ebenen erkundet – durch Einzelinterviews, inszenierte Begegnungen und Archivmaterial.
Der Titel stellt Begegnung und Bewirtung auf der Brücke in den Mittelpunkt. Eine einfache kommunikative Situation, das gemeinsame Frühstück jeweils zweier Unbekannter aus Štúrovo/Párkány bzw. aus Esztergom, rahmt den Film. Die Teilnehmer, insgesamt drei »Paare«54Es wird auch ein viertes frühstückendes Paar eingeblendet mit dem Satz, dass die beiden Städte eigentlich eine Stadt seien, aber dieses Gespräch wird zum Material eines zweiten Films. Vgl. Breakfast over the Bridge. Chapter 2. Regie: Mattia Mura 2022., werden am Anfang einzeln als stumme Figuren präsentiert. Dann beginnt einer von ihnen, der Historiker Tomáš Baka, über den Unterschied von »großer« und »kleiner« Geschichte, von historischen Ereignissen und Erinnerungen der Einzelnen zu reden. Interviews55Teils mit Frühstücksteilnehmern gemacht., welche die Brückengeschichte rekonstruieren, unterbrechen die Frühstücksszenen.
Die Interviewpartner stellen vor, mit welchen Mitteln die beiden Städte über Jahrhunderte hinweg kommuniziert haben, und sprechen auch von der zweimaligen Zerstörung der Brücke im 20. Jahrhundert. Obwohl der Film Stadtgeschichte erzählt, interessiert hier weniger das Geschehene als die mit der Erinnerung verbundene Emotion. Einerseits wird breit und selbstzufrieden darüber gelacht, dass 2001 noch selbst die über die Brücke trabenden Pferde einen Ausweis brauchten, um die Grenze zu überqueren. Andererseits lassen sich bei der Erinnerung an das damalige Brückenfest die Tränen nur schwer unterdrücken. Persönliche Erinnerungen und Kommentare werden auf der visuellen Ebene durch Archivmaterial illustriert.
Der Wiederaufbau der Brücke fügt diesen historischen Rückblick unterschiedlichster Teilnehmer zu einer Art grand finale zusammen.56 Es werden hier sämtliche bis dahin vorgestellten Figuren wieder gezeigt und um die Erinnerungen der Drahtzieher der Ereignisse erweitert. Da letztere sich von vornherein kennen, musste ihre Begegnung nach der Logik des Films anders korreografiert werden als die der Frühstücksgäste. Durch die Parallelführung von Frühstücksdialogen und Brückengeschichte wird das Frühstückszenario zum interpretatorischen Rahmen des historischen Narrativs und vice versa. Indem Mura die tastende Kommunikation zwischen zwei Menschen zeigt, macht er die physische Brücke zugleich zur Metapher eines kommunikativen Ereignisses. Der historische Rückblick kulminiert im Wiederaufbau – im Einpassen des letzten fehlenden Brückenbogens in die vorhandene Struktur. Mag aber die gebaute Brücke auch für etwas Abgeschlossenes stehen, die Kommunikation auf der Brücke erscheint als eine immer von Neuem zu erprobende Aufgabe. Das Frühstück folgt jedes Mal einem bestimmten Ritual: Die beiden Gesprächspartner stellen sich vor, der Kellner erinnert sie daran, dass sie das Gemeinsame herausfinden sollten, abschließend reflektieren sie das Gespräch und verabschieden sich. Außerhalb dieser ritualisierten Elemente dokumentiert der Film Ausschnitte ihres spontanen Gesprächs.
Die Tatsache, dass sich die beiden Personen anfangs nicht kennen, sorgt, zusammen mit ihrer Unterschiedlichkeit57Es kommen Männer und Frauen, Junge und Alte auf der Brücke zusammen., für Spannung. Sie wird hin und wieder durch die Genugtuung abgelöst, dass sie irgendeine Gemeinsamkeit entdecken. Requisiten wie ein Tisch und zwei Stühle verleihen dieser kleinen Szenen einen theatralischen Touch. Zu ihm tragen auch die Höflichkeitsgesten und das Bedientwerden von einem Kellner bei. Bühnenhaft wirkt die ungewohnte Umgebung, in der die beiden Gesprächsteilnehmer sitzen, etwas erhoben über der Landschaft, während man im Hintergrund das Geräusch der vorbeifahrenden Autos hört. So alltäglich, habituell oder bloß zufällig ein Frühstück auch sein kann, auf der Brücke wird es von allem Alltäglichen, Habituellen oder bloß Zufälligen abgehoben. Schon der Vorspann des Films erklärt ihn als »social experiment«, das den Aufbau der Kommunikation zwischen zwei fremden Menschen modellhaft darstellt.
Das Gespräch wird durch das Verzehren des üppigen Frühstücks begleitet, das auf dem kleinen Tisch platziert wird: Früchte, Kuchen, Tee u. a.. Als eine Kurzform des Gastmahls impliziert dieses Frühstück sowohl Festliches als auch Sinnliches. Der kleine runde Tisch und die beiden gepolsterten Stühle stehen auf dem Gehsteig entweder am Brückenkopf von Párkány oder in der Mitte der Brücke und werden von der Párkányer Seite bedient.58Da diese Frühstücksbegegnungen im Herbst und Winter 2020/21 stattfanden, steht meistens auch ein Terassenheizstrahler dabei. Die Frühstücksteilnehmer plaudern zwar, aber weit mehr besagt ihre Körpersprache, ihre Gestik und Mimik. Auch jene beiden Männer59Der ehemalige ungarische Minister Boros Imre und der aus der Slowakei stammende ungarische Ingenieur Geönczeöl Gyula., die an einer späteren Stelle von der komplexen Entscheidungsfindung zum Wiederaufbau der Brücke erzählen, werden gestisch durch das routinierte Öffnen der Schnapsflasche charakterisiert. Selbst die Brücke wird im Film als kommunikative bzw. als metakommunikative Geste ausgelegt. Sie war, heißt es, so lange sie nicht wieder aufgebaut war, wie eine »ausgestreckte Hand, die ihr Gegenüber nicht findet«.60Breakfast over the Bridge. Chapter 1. Regie: Mattia Mura 2021, ca. 10:25 Min. Dieses Bild findet man öfters in den Texten über die Brücke.
In dieser höchst künstlichen Situation erscheint zunächst die gemeinsame Sprache der Frühstücksgäste, nämlich Ungarisch,61Heute sprechen in Štúrovo/Párkány ca. 70 Prozent der Einwohner Ungarisch. »natürlich« zu sein. Diese Selbstverständlichkeit wird jedoch aufgebrochen, als zwei von ihnen entdecken, dass Spanisch ihre gemeinsame Lieblingssprache ist; ab diesem Punkt palavern sie Spanisch. Insgesamt werden im Film Ungarisch, Slowakisch, Französisch, Englisch und Spanisch gleichberechtigt verwendet. Der Kellner Francesco Mouanda serviert das Frühstück und nennt Ungarisch seine »Muttersprache« und Französisch seine »Vatersprache«. Er relativiert allein schon durch diese Bezeichnungen die Hierarchie zwischen der als angeboren begriffenen eigenen und einer fremden Sprache.62Die Figuren des Films sprechen miteinander ihre jeweils »eigene« Sprache, ungarisch oder slowakisch, während sie in den Interviews Englisch, Französisch, aber auch Spanisch verwenden. Dass es immer wieder einer Übersetzung bedarf, wird in der jeweiligen Situation in dem Moment des Zögerns, des Aufschubs oder der Überraschung greifbar. Übersetzung wird ausdrücklich zum Thema, als der Kellner ein kongolesisches Gericht zum Frühstück serviert und die beiden Frühstücksgäste die Speise in ihre eigenen Schemata zu übersetzen versuchen (»dieses Kartoffelähnliche hier« etc.) oder als Kornélia Slobáková, die Vizebürgermeisterin von Štúrovo/Párkány, im Wörterbuch das englische Wort »success« für den Wiederaufbau der Brücke heraussucht.
Anders als die Brückengeräusche, die die Frühstücksgespräche »untermalen«, wird Musik akzentuiert in Szenen eingesetzt,63Bei Breakfast over the Bridge. Chapter 1. Regie: Mattia Mura 2021, ca. 15:26–17:40 Min. wird gezeigt, wie zwei unterschiedliche Instrumente (Querflöte, Geige) ihren musikalischen »Dialog« über die Donau führen können. An anderer Stelle wird Zerlinas Arie aus Don Giovanni (KV 527), gesungen von der in Párkány beheimateten Opernsängerin Orsolya Janszó, und mit dem Lied An der Donau (A Dunánál) der Párkányer Pop-Rock Band Jó világ van kontrastiert. in denen die Begegnung oder der Dialog zwischen den beiden Ufern »flüssig« wird. Hervorgehoben werden diese Szenen durch Panoramaeinstellungen und Luftaufnahmen, in denen auch der große Fluss nicht fehlen darf. Diese Überblickszenarien unterscheiden sich deutlich von den Nahaufnahmen und Halbtotalen, in denen die Gesprächssituationen gefilmt werden bzw. von den schwarz gerahmten Archivaufnahmen, die historische Ereignisse dokumentieren.
Mattia Muras Film reflektiert seine Konstruiertheit aus Ton und Bild mithilfe von Kamera und Montage durchgehend mit: Die Frühstücksteilnehmer erzählen einander im Film, wie sie mit den Filmemachern Kontakt aufgenommen haben. An anderer Stelle sieht man, wie der Tontechniker das Mikrophon am Anzug des ehemaligen Politikers befestigt oder wie Mitglieder der Jó világ van Band vor der Kamera posieren.64Breakfast over the Bridge. Chapter 1. Regie: Mattia Mura 2021, ca. 28:11–30:00 Min.Auch eine Off-Stimme und eine dem On Screen Tanz widersprechende Off Screen Musik brechen die Illusion, dass der Film Wirklichkeit ohne Inszenierung festhält.65 Auch die Frühstückszenen werden von Interview-Situationen unterbrochen, in denen die Teilnehmer vor einem blauen oder roten Hintergrund sitzen. Das Medium, als »diejenige[.] Bedingung […], die die Vermittlung stifte[t], um die Relata allererst ins Verhältnis zueinander zu setzen«,66Dieter Mersch: res medii. Von der Sache des Medialen, In: Heilmann, Tuschling, Heiden (Hgg.): medias in res, S. 19–38, hier S. 20. ist nicht nur thematisch – als Bezug zur Brücke – präsent, sondern auch in Form medialer Selbstreflexion.
Fast genau 20 Jahre nach dem Wiederaufbau67Die Maske, die Vizebürgermeistern Slobaková und ihr Schwiegervater auf der Brücke tragen, oder die Desinfektionsmittel, das die angehende junge Lehrerin dem älteren Lehrer anbietet, gibt als historisches Datum die »Pandemiezeit« an. der Brücke versucht der Film, Erinnerungen aus der Perspektive von Menschen zu dokumentieren, die miterlebt haben, was die Herstellung einer einfachen Verbindung zwischen den Städten bewirkt hat. Die Brücke als Modell macht im Film Breakfast over the Bridge dabei die Schwierigkeiten der Kommunikation über räumliche und zeitliche Entfernungen hinweg deutlich, aber auch ihre Möglichkeiten: Sie ist zugleich konkreter Verkehrsweg und Metapher der Kommunikation über die Donau hinweg.
Edit Király (1959) ist Dozentin des Germanistischen Instituts der ELTE Budapest. Zu ihren Forschungsinteressen gehören die österreichische Gegenwartsliteratur, Reiseliteratur, literarische Raumkonstruktionen, Donau-Diskurse sowie Lost Places. Derzeit ist sie Mitarbeiterin des DACH-Forschungsprojekts »Die Donau lesen«. Sie ist Autorin von »Die Donau ist die Form«. Strom-Diskurse in Texten und Bildern des 19. Jahrhunderts (Wien 2017) und Mitherausgeberin mit Olivia Spiridon von Der Fluss. Eine Donau-Anthologie der anderen Art (Salzburg 2018).
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 89–100.