Mădălina Diaconu zeichnet ein überlebensgroßes Portrait des 2015 verstorbenen Philosophen Walter Biemel – ein siebenbürgischer Freigeist, dankbarer Humanist und Vermittler zwischen den Kulturen
»Die guten Geister – weder sterben sie, noch werden sie krank, noch müde«, schrieb im Oktober 1991 Onica Busuioceanu aus Los Angeles ihrem Freund und Wohltäter Walter Biemel, als sie von seinen gesundheitlichen Problemen erfahren hatte. Er war gerade von Vorträgen aus China zurückgekehrt und hatte ihr einen Scheck für eine Reise nach Paris geschickt, um sie dort zum ersten (und letzten) Mal nach Jahrzehnten wiederzusehen. Am 6. März 2015 starb »der gute Geist« Walter Biemel im hohen Alter von 97 Jahren, nachdem die altersbedingte Schwäche in den letzten Jahren zugenommen hatte.
Die Kindheit in Rumänien
Geboren wurde Walter Biemel am 19. Februar 1918 in Topčider bei Belgrad, wo sein Vater im Ersten Weltkrieg als k. u. k. Offizier diente. Seine Kindheit verbrachte er mit drei älteren Brüdern in einer kunstliebenden sächsischen Familie in Kronstadt (rum. Brașov), das 1919 zu Rumänien gekommen war und das Biemel im Rückblick als »eine der schönst gelegenen Städte Rumäniens in Siebenbürgen« bezeichnete. Sein Vater war Violinist, Professor am Konservatorium in Kronstadt, Erster Geiger der Philharmonie und Präsident der dortigen Philharmonischen Gesellschaft. Seine Mutter wirkte vor der Heirat als Lehrerin und eröffnete Walter Biemel die Welt der Literatur. Er selbst lernte zuerst Geige, doch wechselte er später zur Bratsche, die er bis ins hohe Alter so gut gespielt hat, dass er sogar Kammermusikkonzerte für Quartette mit anderen Freunden gab. Zu den Familienfreunden in Siebenbürgen zählten Musiker und Künstler, wie etwa der Maler Hans Eder, der ihn auch porträtierte. In Kronstadt besuchte er das Honterusgymnasium, von dem der Soziologe und damalige Bildungsminister Dimitrie Gusti gesagt habe (so wieder Biemel), es sei »das schönste Gymnasium Rumäniens«. Er interessierte sich für Psychologie und Psychiatrie, vor allem aber für Philosophie. Von seinen Lehrern erinnert sich später Biemel insbesondere an Trontsch, Meschendörfer, Neustädter und Bikerich. Bei seiner Entscheidung, Philosophie zu studieren, wurde er maßgeblich von seinem ältesten Bruder Rainer beeinflusst, der mit sechzehn Jahren nach Frankreich ging, dort Philosophie bei Alain studierte und bei Grasset und Gallimard in Paris arbeitete; dieser hatte seinem jüngeren Bruder die französische Fassung der Kritik der reinen Vernunft zum Lesen gegeben. Kant wird Biemel auch später begleiten; seine Habilitationsschrift befasste sich dann mit der Kant’schen Ästhetik. Mit fünfzehn Jahren besuchte Biemel auf Anregung seines Vaters Nicolae Iorgas in Rumänien berühmte Sommerschule von Vălenii de Munte, wo er begann, sich verstärkt für die rumänische Kultur zu interessieren. Bei der Matura wählte er gar den rumänischen Nationaldichter Eminescu als Thema. Viel später, anlässlich der Verleihung des Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturpreises 1997 in Dinkelsbühl, bekannte Walter Biemel in seiner Rede: »Ich bin dem Schicksal dankbar, ein Siebenbürger Sachse zu sein« (Siebenbürgische Zeitung vom 13.8.2010). Diese Zugehörigkeit hat er zugleich als »Schicksal« und Lebensauftrag verstanden, zwischen Kulturen zu vermitteln, zunächst zwischen der deutschsprachigen und der rumänischen, später zwischen der deutschen und der französischen.
Das Studium in Bukarest
1937 inskribierte sich Walter Biemel an der Universität Bukarest für den Fachbereich Philosophie und besuchte Lehrveranstaltungen für Philosophie, Psychologie, Soziologie und Pädagogik. Von den Professoren wurde er am stärksten von dem Kulturphilosophen und Ästhetiker Tudor Vianu geprägt; Vianu lernte er über einen gemeinsamen Freund auch persönlich kennen, den Kunstkritiker und Essayisten Alexandru Busuioceanu (den Vater von Onica Busuioceanu), der – wie Vianu – regelmäßig die Sommer im Kronstadt verbrachte. Mit Vianu hielt Biemel auch nach dem Krieg Kontakt; er besuchte ihn sogar 1964 kurz vor seinem Tod in Bukarest, als Vianu das berühmte mittelalterliche Manuskript des Codex aureus (damals in der Bibliothek des Batthyaneums von Karlsburg (rum. Alba Iulia), für eine Ausstellung zur karolingischen Kunst in Aachen vermittelte. Über die Familie Busuioceanu lernte Biemel in der Zeit seiner Freiburger Studienjahre auch Lucian Blaga in Kronstadt kennen und unterhielt sich mit ihm über Heidegger. Der zweite Teil von Blagas Kulturtrilogie, Spațiul mioritic [Der mioritische Raum], erschloss ihm den Reichtum der rumänischen Volkskunst, die er auch später in seinem Haus in Aachen sammelte. Dazu trugen auch die ethnographischen Feldforschungen während seiner Studienzeit bei, die unter der Leitung der Professoren Dimitrie Gusti und Traian Herseni, im Rahmen der sog. Bukarester Soziologieschule, vor dem Zweiten Weltkrieg betrieben wurden. So nahm Biemel bei den in Rumänien klassisch gewordenen Feldforschungen in Drachenbach (rum. Drăguș, im Kreis Fogarasch/Făgăraș) teil.
Andere Professoren Biemels an der Universität Bukarest waren der Philosoph Ion Petrovici, der Philosoph und Psychologe Constantin Rădulescu-Motru, der Religionswissenschaftler Mircea Eliade und der Kunsthistoriker George Oprescu. Ausgerechnet die Vorlesungen Nae Ionescus, der als charismatischer und umstrittener Professor die Generation Eliades maßgeblich geprägt hat (auch in Bezug auf ihre politische Annäherung an die Eiserne Garde), besuchte er nicht. Das wird er später bedauern, auch wenn er (wie er sagte) »vom hitleristischen Wahnsinn nicht angesteckt wurde« – denn Walter Biemel erhielt bereits 1936–1937 über seinen älteren Bruder Rainer in Frankreich Informationen zur politischen Entwicklung in Deutschland. (Rainer Biemel machte sich später einen Namen in der französischen Verlagsbranche, hat Rilke und Thomas Mann ins Französische übersetzt und Erinnerungen an seine irrtümliche Deportation nach Russland 1945 sowie einen weiteren Roman unter dem Pseudonym Jean Rounault veröffentlicht.) Statt sich politisch zu engagieren, wie so viele Kollegen seiner Generation, schrieb und veröffentlichte Walter Biemel sehr früh, mit knapp zwanzig Jahren, Aufsätze und Rezensionen zur Kant-Deutung von Ion Petrovici, zu Heidegger, Rilke und der deutschen Romantik in deutschsprachigen Kulturzeitschriften in Kronstadt (Klingsor) und Hermannstadt (Saeculum).
1941 schloss Walter Biemel sein Philosophiestudium mit einer Arbeit über Nietzsches Wertlehre ab, die allerdings niemals veröffentlicht wurde. Im selben Jahr arbeitete er als Übersetzer aus dem Rumänischen ins Deutsche bei der Studien- und Dokumentationsdirektion (Direcția de Studii și Documentare) in Bukarest und übersetzte Die Nostalgie des Paradieses ins Deutsche, das Hauptwerk des Theologen, Philosophen (und damals einflussreichen Politikers) Nichifor Crainic. Ein Arbeitskollege, Ștefan Teodorescu, erzählte ihm begeistert über sein Studium bei Heidegger in Freiburg im Breisgau. Damals kannte Biemel bereits Heideggers Sein und Zeit. Daraufhin beantragte er ein Visum für ein Doktoratsstudium in Freiburg; die Versuche der deutschen Botschaft, ihn von seiner Entscheidung abzubringen und stattdessen zu Nicolai Hartmann nach Berlin zu vermitteln, blieben fruchtlos. Schließlich erhielt Biemel doch das von ihm gewünschte Visum und erreichte Freiburg im April 1942.
Bei Heidegger in Freiburg
Die Atmosphäre in Freiburg erinnerte Biemel angenehm an Kronstadt, und Heideggers pädagogische Begabung, sowohl in den Anfänger- als auch in den Fortgeschrittenenseminaren, übertraf seine Erwartungen. Bereits zu Ende desselben Jahres veröffentlichte er in der Bukarester Kulturzeitschrift Universul Literar die Übersetzung von Fragmenten aus Heideggers Hölderlin und das Wesen der Dichtung – das war die allererste Übersetzung Heideggers ins Rumänische! Im Doktorandenseminar befanden sich damals unter den 15 Teilnehmern nicht weniger als drei aus Rumänien: Alexandru Dragomir, Octavian Vuia und Walter Biemel. Mit Dragomir übersetzte Biemel Heideggers Was ist Metaphysik? ins Rumänische und ließ es erst 1956 in der rumänischen Zeitschrift Luceafărul in Paris veröffentlichen. Im selben Seminar lernte er auch seine zukünftige Frau, Marly Wetzel, kennen, an die er sich später mit den folgenden Worten erinnert: »Sie war eine außergewöhnliche Persönlichkeit: mit einer scharfen Intelligenz, sehr kritisch, offen für die Kunst, von der Literatur begeistert, sehr sprachbegabt.« Die Beziehung zu Heidegger entwickelte sich dann zu einer lebenslangen Freundschaft.
Am Husserl-Archiv in Löwen
1944 musste Biemel die Forschungen für seine Dissertation zum »Naturbegriff bei Novalis« aufgrund der Schließung der Universität unterbrechen. Ein Jahr später zogen Walter Biemel und Marly Wetzel ins belgische Löwen (nl. Leuven), wohin der Jesuitenpater Leo van Breda die Husserl’schen Manuskripte gerettet hatte; beide waren dann bis 1951 Mitarbeiter des neu gegründeten Husserl-Archivs. Die Lebensumstände
waren insgesamt schwierig, einerseits wegen der Armut zum Ende des Krieges, andererseits wegen der in Rumänien bevorstehenden politischen Wende. Biemel verzichtete auf die rumänische Staatsbürgerschaft (wie alle Mitglieder der rumänischen Botschaft in Brüssel) und erhielt einen Flüchtlingsausweis von der International Refugee Organization. 1945 heiratete er Marly Wetzel, die von da an als Marly Biemel zeichnen wird. Beide lernten die Gabelsberger Stenographie, um die Husserl’schen Manuskripte zu transkribieren, und gaben gemeinsam mehrere Bände der Husserliana bei Martinus Nijhoff (Den Haag) heraus, für die sie auch die Vorworte verfassten: Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen (Hua II, 1950), Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (Hua III, 1950), Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Hua VI, 1954) und Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925 (Hua IX, 1961).
Mit dem besonders arbeitsintensiven Aufenthalt in Löwen begannen auch Biemels Bemühungen um eine Annäherung zwischen der deutschen und der französischen Kultur in der Zeit des Aufbaus eines vereinigten Europas nach dem Krieg. Biemel spielte eine bedeutende Rolle bei der Einführung des Werks von Heidegger in Frankreich unmittelbar nach dem Ende des Kriegs, d. h. ausgerechnet in einer für Heidegger schwierigen Zeit, und zwar durch seine Löwener Dissertation Le concept de monde chez Heidegger (veröffentlicht in Paris/Löwen, 1950; 1981 wiederaufgelegt) und durch Übersetzungen: Heideggers De l’essence de la vérité (1948, später übernommen in Questions I, 1968) und Kant et le probleme de la métaphysique (1953) wurden mit entsprechenden Einführungen gemeinsam mit Alphonse de Waehlens unterzeichnet und – wie auch seine französische Heidegger-Monographie – in bekannten Verlagshäusern wie Vrin und Gallimard veröffentlicht. Später erwarb sich Biemel auch große Verdienste um die Verbreitung der Heidegger-Forschung in den USA. Außerdem übersetzte er mit Jean Ladriere Karl Jaspers’ La situation spirituelle de notre époque (1951) und gab (gemeinsam mit Hans Saner) den Briefwechsel 1920–1963 zwischen Heidegger und Jaspers heraus (1992).
Köln – Aachen – Düsseldorf
1951/1952 begann für Walter Biemel ein neuer Lebensabschnitt durch den Umzug nach Köln, wo er am Aufbau des neu gegründeten Husserl-Archivs beteiligt war. 1958 habilitierte er sich mit der Arbeit Kants Begründungen der Ästhetik und ihre Bedeutung für die Philosophie der Kunst, die in der Reihe Kantstudien Ergänzungshefte in Köln erschien, und erhielt daraufhin einen Lehrauftrag für Philosophie an der Kölner Musikhochschule. In Köln erfreute er sich der Unterstützung des ehemaligen Assistenten Husserls und Leiters des Husserl-Archivs in Köln, Ludwig Landgrebe, den er aus Löwen kannte. (Landgrebe war 1940 wegen der jüdischen Herkunft seiner Ehefrau nach Belgien deportiert worden.) Wie im Falle Heideggers entstanden freundschaftliche Beziehungen zwischen den beiden Familien. 1972 hat Biemel eine Festschrift für Ludwig Landgrebe unter dem Titel Phänomenologie heute bei Martinus Nijhoff (Den Haag) herausgegeben.
1962 erfolgte der Ruf Biemels auf den Lehrstuhl für Philosophie an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, wo bald darauf die Philosophische Fakultät ausgebaut wurde, und er übersiedelte mit Marly Biemel in die »alte Kaiserstadt«, wie er Aachen stolz bezeichnete, wo er bis zu seinem Lebensende blieb. Schließlich übernahm Biemel 1976 den Lehrstuhl für Kunstphilosophie an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf, den er bis zu seiner Emeritierung 1983 behielt. Damit verlagerte sich der Schwerpunkt seiner Lehre auf die Kunstphilosophie.
Walter Biemels Werk und die moderne Kunst
Seine Publikationen und weltweit gehaltenen Vorträge befassen sich hauptsächlich mit phänomenologischen Themen sowie Kunst- und Literaturauslegungen, wie auch die Einteilung seiner Gesammelten Schriften zeigt, die 1996 in Stuttgart/Bad Cannstatt bei frommann-holzboog in zwei Bänden erschienen sind. Im Zusammenhang mit der »Geschichte der Philosophie« beschäftigte sich Biemel außer mit den Phänomenologen (Husserl, Heidegger, Sartre) auch mit Kant, den deutschen Idealisten und Dilthey. In der Literatur fand er einen reichen Stoff für philosophische Interpretationen bei den deutschen Romantikern, bei Proust, Rilke, Kafka und Celan. Um ein Beispiel anzuführen: In Kafkas Erzählung Der Bau sieht Biemel eine Parabel des scheiternden »Wohnens« (im weiten Sinne Heideggers) durch die Arbeitswut und die Suche nach einer absoluten, daher auch unmöglichen Sicherheit und durch ein allgemeines Misstrauen, das seinerseits eine Kontrollmanie auslöst. Von Biemels Interesse an der Literatur zeugt auch seine Monographie Zeitigung und Romanstruktur. Philosophische Analysen zum modernen Roman (Freiburg i. Br., München, 1985), die unter anderem Prousts A la recherche du temps perdu aus der Perspektive der Husserl’schen Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins auslegt.
Außerdem zeigt sich Walter Biemels besondere Sensibilität für die moderne Kunst in der ungewöhnlichen, nichtsdestotrotz überzeugenden Anwendung phänomenologischer Grundgedanken (hauptsächlich Husserls und Heideggers) auf die Polyperspektivität Picassos oder auf die Erscheinungen der Pop Art als Produkte ihrer Zeit. Das belegt am besten der Band Philosophische Analysen der Kunst der Gegenwart (Den Haag, 1968), der auch ins Spanische (1973), ins Rumänische (1987) und ins Kroatische (1980) übersetzt wurde. Um die Kunst kreisen auch die Beiträge in dem Band Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger, den Biemel gemeinsam mit Friedrich-Wilhelm von Herrmann, dem Herausgeber der Gesamtausgabe Heideggers, 1989 bei Klostermann (Frankfurt/Main) herausbrachte. Auch verfasste Biemel Texte zur Gegenwartskunst für Ausstellungskataloge und Kunstzeitschriften, in denen er unter anderem Norbert Kricke, Rolf Sackenheim, Erwin Heerich, Gerhard Hoehme, Günther Uecker, Daniel Hees, den Neuen Realismus, den siebenbürgischen Künstler Friedrich von Bömches oder den rumänischen Maler Silviu Oravitzan darstellte. Und nicht zuletzt verdienen seine phänomenologischen Analysen des Alltagslebens, die einen frischen Blick auf allgemein bekannte Phänomene wie den ›Neid‹ oder die ›Dummheit‹ werfen, eine gesonderte Erwähnung.
Vor allem aber ist Walter Biemel bis heute noch einem größeren Publikum durch seine rororo-Monographien zu Jean-Paul Sartre (1964) und Martin Heidegger (1973) bekannt. Beide Bücher wurden mehrmals aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt. Aufgrund seiner unmittelbaren Bekanntschaft mit den Koryphäen der deutschen und französischen Philosophie galt Biemel in seinen späten Jahren als eine lebendige Legende der Geschichte der Philosophie; dieses Eindrucks konnten sich jene nicht erwehren, die das Privileg hatten, seine Vorträgen zu hören oder mit ihm Interviews zu führen. Es wäre aber ein Irrtum zu glauben, dass sich Biemel nach seiner Emeritierung mit der bequemen Rolle eines Augenzeugen der goldenen Zeit der Phänomenologie begnügt hätte. Vielmehr trug er weiterhin aktiv dazu bei, das phänomenologische Gedankengut bekanntzumachen, etwa durch die Herausgabe der beiden Vorlesungen Heideggers – Logik. Die Frage nach der Wahrheit (Gesamtausgabe, Bd. 21, 1976) und Hölderlins Hymne »Der Ister«. Freiburger Vorlesung SS 1942 (Gesamtausgabe, Bd. 53, 1984) – sowie durch zahlreiche Vorträge und Erinnerungen. In einem Zeitalter, in dem ein grassierender Pragmatismus, Technizismus und Ökonomismus die humanistischen Studien zunehmend unter Rechtfertigungsdruck setzen, pflegte Biemel die philosophische Tradition einer Kritik der Moderne weiter und hielt Vorträge mit provokativen Titeln, wie »Wozu Kunst?«, »Warum bedürfen wir der Philosophie?« oder »Und wozu Künstler in dürftiger Zeit?«.
Die Stiftung Insel Hombroich
Die Möglichkeit, eine Alternative zu den herrschenden Zeitläufen anzuregen, bot sich Biemel durch die Gründung der Stiftung Insel Hombroich bei Neuss. Und noch einmal half Biemel in seinen späten Jahren mit beim Aufbau einer wissenschaftlichen und künstlerischen Institution, indem er auf der sog. »Museumsinsel Hombroich« die Reihe »Hombroich: Philosophie« gründete und zahlreiche Treffen und Symposien zu philosophischen Themen initiierte. Schließlich schenkte er der Stiftung 2014, ein Jahr vor seinem Tod, seine umfangreiche Bibliothek und sein Archiv, das alle seine Manuskripte, Vorlesungen und auch seine Briefwechsel, darunter jenen mit Heidegger, enthält. In einem Essay zur »Museumsinsel Hombroich« betrachtete Biemel diese Gründung als ein »Wunder«. Das Wort wiederholt sich oft in seinen autobiographischen Rückblicken und entspricht seiner positiven Lebenseinstellung und seinem offenen Blick für die Sonnenseiten des Lebens. So sah Biemel auf seinem von außen betrachtet nicht gerade linear verlaufenen Lebensweg ständig »Glücksfälle«, selbst darin, dass sich in seiner Kindheit ein Knie durch eine falsche Behandlung versteifte: Dafür aber sei er nicht in den Krieg eingezogen worden, so dass ihm der ärztliche Kunstfehler vielleicht das Leben gerettet habe; das ist aber nur ein Beispiel. – Walter Biemel war ein begnadet Dankbarer in allen Lebenssituationen.
Um zur Hombroicher Museumsinsel zurückzukehren: Für Biemel glich sie einem »Ort des Schaffens, des Betrachtens, des Meditierens«, einem Ort des »Gesprächs«, dessen Stimmung – der Freiheit, der Zwanglosigkeit und der Stille – eine »wahre Begegnung« ermöglicht. Die Beschreibung dieser für eine Kultur des Dialogs vorbildlichen Institution lässt Biemels Ideal durchscheinen: Es ging ihm um ein »Hören-Können«, das erst die Freundschaft stiftet – und die Insel Hombroich war ihm gerade »ein Ort der Freundschaft«, das heißt, »der Ort, wo das Zusammensein, Zusammenleben, Zusammenwirken der Menschen uns aus der Hetze unserer Zeit erlöst und uns so Distanz gewinnen lässt zu dem, was uns zwingt, erdrückt und, das heißt zugleich, begrenzt«. Freundschaft ist überhaupt ein Schlüsselwort für die Lebenskunst Biemels.
»Mein ganzes Leben stand unter dem Glückszeichen der Freundschaft«
Zusammen mit seiner Frau Marly übte Walter Biemel die Kunst der Freundschaft auf allen Stationen seines Lebensweges. Schon mit seinem Kronstädter Jugendfreund Ștefan Baciu, den das Schicksal bis Honolulu trieb, blieb er in regelmäßigem Kontakt, ebenso wie mit dem Philosophen Constantin Noica, dessen Schüler, Gabriel Liiceanu und Andrei Pleșu, Biemel in den 1980er-Jahren unterstützte. Alexandru Dragomir, dem ehemaligen Heidegger-Dissertanten, der nach Rumänien zurückkehrte, um seinen Militärdienst abzuleisten, dessen Vater in den kommunistischen Gefängnissen gestorben war und der selbst eine schwierige Zeit durchmachte, schickte Biemel eine Ansichtskarte, die von seinen ehemaligen Studienkollegen in Freiburg unterschrieben war. Das sind kleine und weniger kleine Gesten der Solidarität mit den Kommilitonen eines freien Geistes. Als der tschechische Phänomenologe Jan Patočka 1972 aus politischen Gründen von der Prager Universität zwangspensioniert wurde, versammelte Biemel Patočkas Freunde und gab die Festschrift Die Welt des Menschen, die Welt der Philosophie (Den Haag, 1976) heraus. Als kurz danach Patočka nach der Unterzeichnung der Charta 1977 sogar in Lebensgefahr schwebte, versuchte Biemel ihn schnell außer Landes zu bringen und veranlasste die Verleihung des Ehrendoktortitels an Patočka durch die Universität Aachen. Doch dann stellte sich heraus, dass der Prager Philosoph nicht mehr ins Ausland reisen durfte; daraufhin scheute sich Biemel nicht, mit einer Delegation nach Prag zu fahren, um in der Wohnung des deutschen Botschafters vor einem Publikum, das aus der tschechischen Opposition bestand, Jan Patočka den Ehrentitel zu verleihen. Biemels Laudatio aus diesem Anlass erschien im selben Jahr in einem Sammelband mit dem vielsagenden Titel Mensch, Welt, Verständigung: Perspektiven einer Phänomenologie der Kommunikation. Patočka allerdings erlag im selben Jahr den Folgen eines Verhörs. Seinen Nachlass, den der Regisseur Ottomar Krejca zu Biemel nach Düsseldorf brachte, übergab dieser zur Veröffentlichung dem dafür geschaffenen Patočka-Archiv am Institut für Wissenschaften vom Menschen in Wien. Und auch um Patočkas Tochter kümmerten sich Walter und Marly Biemel; sie finanzierten ihr ein Studium in Deutschland, so wie sie später auch junge rumänische Philosophen, sowohl vor als auch nach der Wende, geistig und bei Bedarf auch materiell unterstützten und ihnen Kontakte vermittelten. Die Briefe der rumänischen Kunsthistorikerin Onica Busuioceanu, die unter dem Titel Dragă Walter… Scrisori către un binefăcător (1976–2006) im Jahr 2010 im Bukarester Verlag Humanitas erschienen sind, legen ein eindrucksvolles Zeugnis von der diskreten, rücksichtsvollen und zugleich effizienten Hilfe ab, die Walter und Marly Biemel den Intellektuellen in Not gewährten. Onica Busuioceanu war eine Familienfreundin, die in den 1970er-Jahren nach Italien und dann in die USA ausgewandert war und die in allen Jahrzehnten der Korrespondenz und materiellen Unterstützung Walter Biemel nur ein einziges Mal getroffen hat. 1985 schrieb ihm Busuioceanu aus Hollywood: »Lieber Walter, Du bist ein außerordentlicher Mensch! Es reicht nicht, dass Du großzügig und hilfsbereit bist, aber Du hast noch dazu die Gabe, den Moment genau zu spüren, in welchem jemand Hilfe benötigt … Wie schaffst Du es, genau den kritischen Augenblick zu erraten und Deine Hilfe eine Stunde früher anzubieten, so dass Du nicht nur dem anderen aus der Patsche hilfst, sondern darüber hinaus ihm auch die Angst ersparst?«
Die Freundschaftsbeziehungen Walter Biemels erstreckten sich über Länder und Sprachen hinweg, im Osten hinter dem Eisernen Vorhang bis Prag und Zagreb, Belgrad und Bukarest, im Westen bis Frankreich und Spanien (wo Marly und Walter Biemel ein Ferienhaus auf Mallorca hatten) und sogar bis Japan und China. Die Beschäftigung mit phänomenologischen Grundfragen und mit der Kunst machte Biemel nicht blind für die politischen Spannungen und die konkreten Lebensumstände der Menschen; Kunst und Philosophie dienten ihm nicht für einen Rückzug aus der Geschichte, sondern als Raum der Freiheit. Biemel wurde noch im Ersten Weltkrieg geboren und überlebte den Zweiten Weltkrieg; was er aus der Erfahrung dieser Schrecknisse seinen Freunden schenkte, ist in erster Linie Freiheit. Was er an der Insel Hombroich als die »Harmonie von Kunst und Natur« und ein »Beispiel des möglichen Wohnens« schätzte, ist keine durch Feigheit und Wegsehen erworbene seelische Ruhe, sondern eine durch den Ausgleich von Kontrasten und Spannungen erkämpfte Harmonie, so wie auch Heidegger Hölderlins Harmoniebegriff gedeutet hatte.
Auch im Privatleben musste Walter Biemel die Überwindung von Schwierigkeiten lernen. Seine erste Frau, Marly Biemel, starb 1991. Später begegnete er nach mehr als fünfzig Jahren Dorothee (Thea) Solomonidis wieder, seiner ersten Verlobten aus Bukarest, und ehelichte sie im Alter. Aber auch seine zweite Frau starb vor ihm. Doch er hatte immer noch die mehr oder weniger jüngeren Freunde um sich, die die phänomenologische Richtung fortsetzten, die ihn würdigten und als Eröffnungsredner zu Tagungen einluden. Um nur ein Beispiel zu bringen: Im Jahr 2000 wurde Walter Biemel Ehrenpräsident der neu gegründeten Rumänischen Gesellschaft für Phänomenologie und Mitglied des internationalen Herausgebergremiums der Bukarester Zeitschrift Studia Phaenomenologica. Zweimal besuchte er auch Rumänien und hielt Vorträge anlässlich der Verleihung des Titels doctor honoris causa an den Universitäten Temeswar (rum. Timișoara) (1997) und Bukarest (2003). Im Jahr 2003 widmete ihm die Rumänische Gesellschaft für Phänomenologie auch eine Sondernummer der Zeitschrift Studia Phaenomenologica. Der Band Kunst und Wahrheit. Artă și adevăr. Festschrift für Walter Biemel zu seinem 85. Geburtstag enthält Aufsätze von Freunden und Kollegen aus verschiedenen Ländern, frühe Zeitschriftenartikel, Rezensionen und Kommentare von Walter Biemel, die zwischen 1938 und 1943 in verschiedenen Kulturzeitschriften Rumäniens erschienen sind, Interviews mit rumänischen Journalisten sowie auch Biemels fragmentarische rumänische Übersetzungen Heideggers.
Aber nicht nur seine Texte halten dem physischen Verschwinden Walter Biemels stand, sondern ebenso die Erinnerungen von Freunden und ehemaligen Studenten, die häufig ein Lächeln hervorrufen: Viele erinnern sich noch nach Jahren mit Genuss an seine Schachpartien mit Hans-Georg Gadamer und an seine »Harakiri«-Inszenierungen und Zauberkunststücke bei den philosophischen Tagungen, die den Abschluss der Fachdiskussionen bildeten und den Beginn des anschließenden informellen und freundschaftlichen Austausches markierten. Der Humor ist eine vielleicht noch seltenere Gabe in philosophischen Kreisen als die Solidarität, und Biemel wusste ihn zum richtigen Zeitpunkt einzusetzen, ohne den Ernst der philosophischen – und häufig, infolge Heideggers, auch gesellschaftskritischen – Auseinandersetzungen zu kompromittieren. Biemel besaß jene Tugend, die in der geistlichen Literatur als Unterscheidungsgabe bekannt ist, philosophisch gesprochen wohl das, was wir heutzutage nur noch von wenigen zu behaupten wagen: Weisheit. Er war jedoch weise auf eine spielerische Art, denn er spielte Bratsche, Schach und Tischtennis und spielte sogar seinen eigenen Tod in seinen Harakiri-Performances. Nun ist das Spiel des Weisen zu Ende, uns aber bleibt die Erinnerung.
Mădălina Diaconu
Mădălina Diaconu ist Privatdozentin für Philosophie an der Universität Wien und Herausgeberin von Kunst und Wahrheit. Artă și adevăr. Festschrift für Walter Biemel zu seinem 85. Geburtstag. Bukarest: Humanitas 2003
Walter Biemel (1918–2015) verbrachte seine Kindheit in Siebenbürgen, studierte Philosophie an der Universität Bukarest und begann sein Dissertationsstudium 1942 bei Martin Heidegger in Freiburg i. Br. Als Mitarbeiter der neu gegründeten Husserl-Archive in Löwen und dann in Köln gab er mehrere Bände der Husserliana heraus. Nach der Promotion über Heidegger und der Habilitation über Kants Ästhetik wurde er 1962 an die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen und 1978 an die Staatliche Kunstakademie in Düsseldorf berufen. Nach dem Krieg hat sich Biemel für die deutsch-französische Versöhnung eingesetzt und dazu beigetragen, Heidegger in Frankreich einzuführen. Er verfasste zahlreiche Publikationen zur Phänomenologie, Ästhetik und Gegenwartskunst und ist vor allem als Herausgeber von Husserl und Heidegger und als Autor der rororo-Monographien zu Heidegger und Sartre bekannt. In seinen letzten Jahren hat er den Aufbau des Museums »Insel Hombroich« unterstützt, wo sich auch sein Nachlass befindet. Er war Ehrenpräsident der Rumänischen Gesellschaft für Phänomenologie.
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2015), Jg. 10 (64), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 233–241.