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Marion Acker: Schreiben im Widerspruch. Nicht-/Zugehörigkeit bei Herta Müller und Ilma Rakusa (Literarische Mehrsprachigkeit, Bd. 4) | Rezension

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Marion Acker: Schreiben im Widerspruch. Nicht-/Zugehörigkeit bei Herta Müller und Ilma Rakusa (Literarische Mehrsprachigkeit, Bd. 4). Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2022. 331 S.

Eine Dissertation ist selbst für eingefleischte Literaturleser eine Herausforderung, und die Autorin dieser vergleichenden Arbeit weiß um den Anspruch, den sie – höchst anspruchsvoll – so formuliert: »In Auseinandersetzung mit dem Werk zweier literarischer Gegenwartsautorinnnen, Herta Müller und Ilma Rakusa,«  entwickle  ihre  Studie »das affektpoetologische Programm eines Schreibens im Wi(e)derspruch, das literaturwissenschaftliche Verfahren erstmalig mit Ansätzen der sozialwissenschaftlich grundierten Zugehörigkeitsforschung verbindet und sich an ein interdisziplinär aufgeschlossenes Lesepublikum richtet« (S. 293). Doch auch wer sich nicht anheischig macht, diesem Publikum anzugehören, wer nicht auf einen »various academic background« (S. 294) zurückgreifen kann, darf sich von Marion Acker und über sie von den beiden Schriftstellerinnen bestätigen lassen, was er immer schon denkt, auch ohne Wissenschaft: Auch Literatur ist Leben.

In diesem Buch heißt das dann »Unzertrennlichkeit von Leben und Literatur« (S. 293); Müller und Rakusa verbinde der »Anspruch auf Autorschaft gegenüber dem eigenen Leben«. Irgendwie erhebt diesen Anspruch ja ein jeder, auch wenn er ihn so nicht in Worte fassen kann. Und so auch nicht: »Die konkreten Lebens- und Erfahrungszusammenhänge, die nicht nur Hintergrund, sondern maßgeblicher Beweggrund des Schreibens im Widerspruch sind, vermitteln fundamentale Einsichten in die Multidimensionalität des Zugehörigkeitsbegriffs, der unauflöslich mit seinem Gegenteil verbunden ist und sich mitnichten auf ein heimeliges Gefühl von Zuhause – »a sense of feeling ›at home‹« – reduzieren lässt.« (S. 18) Allerdings kann jemand, den Texte von Herta Müller und/oder Ilma Rakusa ansprechen, hier herauslesen, dass sein eigenes, diffuses Gefühl, irgendwo daheim zu sein und doch nicht ganz dazuzugehören, von bekannten, für ihre Sensibilität bewunderten Dichterinnen geteilt wird.

Bestätigt findet man sich also nicht in dem »heimelige[n] Gefühl von Zuhause«, sondern gerade in dem Empfinden für all das »Unheimelige«, dem man in keinem Zuhause entrinnt: »Müllers Poetik der Nicht-/Zugehörigkeit ist von einer grundlegenden Ambivalenz bestimmt: Einerseits ist diese Poetik von einem widerständigen Impetus geleitet. Andererseits signalisiert der stete Rekurs auf die dörfliche Lebenswelt eine geradezu ›verzweifelte Bindung‹ an diesen Raum.« (S. 84) Jener »Raum« aber ist nicht nur die »dörfliche Lebenswelt« im rumänischen Banat – er ist vielmehr überall, und sei es den ihm Verhafteten auch nicht so klar bewusst wie diesen Dichterinnen: »Bemerkenswerter Weise wird der schweizerische Lebensalltag von der Ich-Erzählerin in Mehr Meer als ähnlich bedrückend empfunden wie der Dorfalltag in Müllers ›Niederungen‹.« (S. 115) Sieht man von den inkongruenten Titelangaben (kursiv bzw. in Anführungszeichen) einmal ab, beeindruckt Marion Ackers Sensorium für Welten, die ihr fremd sein müssen, und die Stringenz, mit der sie diese sprachlich erfasst: »Der Sprachgebrauch des Dorfes erweist sich als nicht weniger ideologisch als die ›verordnete Sprache‹ des Regimes.« (S. 52) Man muss nicht im sozialistischen Rumänien aufgewachsen sein, um die Spannung nachzuerleben, die Müllers Texte vermitteln.

Demgegenüber macht Marion Acker bei Ilma Rakusa zu Recht einen »deutlich optimistischere[n] Zugehörigkeitsentwurf« (S. 128) aus. Ob nun mehr oder weniger optimistisch, die hinterfragende Auseinandersetzung mit dem eigenen Standort inmitten der »Anderen« prägt »naturgemäß« die Sprache und das Verhältnis zu ihr, den Umgang mit ihr: »Anders als Rakusa, die Mehrsprachigkeit als eine additive Erweiterung ihres sprachlichen Repertoires begreift, assoziiert Müller ein ›Mehr‹ an Sprachigkeit weder mit einem ›Mehr‹ an Ausdrucksmöglichkeit noch an Zugehörigkeit. Vielmehr forciert Mehrsprachigkeit Sprachreflexion und Kritik.« (S. 220) Als ein drittes kreativ kritisches »Subjekt«, »das mit der Sprache spricht und sich von ihr auch affektiv ansprechen lässt, indem es kein Wort als selbstverständlich nimmt« (S. 226), gesellt Marion Acker ihren beiden untersuchten Autorinnen mit weit ausholendem Assoziationsvermögen die Japanerin Yokyo Tawada hinzu.

Nicht allein die Wortkunst dieser Erzählerinnen beeindruckt Leser ebenso wie die Exegetin, letztere greift auch hier auf eine Beobachtung zurück, die selbst durchschnittlichen Medienkonsumenten nicht fremd bleiben dürfte: Auch Dichter stehen nicht erst heute, sofern sie sich im Betrieb behaupten (wollen), in der Öffentlichkeit, in einem helleren oder dunkleren, manchmal schummrigen Licht und haben sich tunlichst nicht nur poetisch, sondern auch poetologisch, nicht nur lyrisch-selbstbezogen, sondern auch persönlich, bei Lesungen und Veranstaltungen, in Briefen und Interviews, nicht nur im Schreibstübchen, sondern auch vor Mikrophonen und Kameras zu äußern. Diese »hinsichtlich ihrer Literaturhaftigkeit prekären Gattungen« (S. 153) bewirken, dass sogar Literaturwissenschaft jenseits ihrer Deutungsbeflissenheit spannend sein kann. Dazu entwickelt Marion Acker »die These einer engen Verwobenheit und wechselseitigen Bezogenheit zwischen literarischen und poetologischen Texten, die Gattungsgrenzen durchlässig werden lässt und die Literarturwissenschaft vor große theoretische und methodologische Herausforderungen stellt« (S. 131). Diesen Herausforderungen begegnet sie mit methodischer Neugier und Lust.

Damit aber nicht genug. Die Forscherin begibt sich ins »gebrochene[n] Kontinuum der Nicht-/Zugehörigkeit« und ertappt ihre Forschungssubjekte beim »Tun der Wiederholung« (S. 235), mit dem sie es einander gleichtun: »Das formelhafte Sprechen kontrastiert einerseits mit der relationalen Dynamik des Sprachmaterials, die sich nur unter der Voraussetzung dialogischer Autorschaft entfalten kann. Andererseits hebt Müller, genauso wie Rakusa, die existenzielle Ankerfunktion ritueller Abläufe und formelhafter Wiederholung hervor.« (S. 239)

Schön, wenn man sich solchergestalt die germanistischen und »interdisziplinären« (vgl. oben, S. 293) Herausforderungen aussuchen kann und zu der umfassenden – und nicht minder herausfordernden – Überzeugung gedeiht: »Die Wiederkehr bestimmter Bilder und Szenen, Handlungen und Reflexionen […] erlaubt es meines Erachtens, die verschiedenen Texte als einen Gesamtzusammenhang zu betrachten, in dem die Spannung zwischen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit immer wieder neu austariert, gedeutet und zu einem Muster verdichtet wird, das sowohl die Kontinuität als auch die Variabilität affektiver Beziehungsverhältnisse sichtbar werden lässt.« (S. 272)

Ein Weniges zu viel an Variabilität »woker« Art dünkt einem sozialistisch Sozialisierten, und diese Bemerkung sei ihm gestattet, dann doch die Bezeichnung eines Handlungsorts in Müllers Herztier als »Studierendenwohnheim« (S. 80). Wenn das die einst dort tätigen Sicherheitsdienstleistenden von der Securitate gewusst hätten …

Georg Aescht

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 105-107.