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Nadine Schneider: Wohin ich immer gehe | Rezension

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Gefühlstaube Herzhäuser

Nadine Schneider: Wohin ich immer gehe. Roman. Salzburg, Wien: Verlag Jung und Jung 2021. 260 S.

Nach ihrem 2019 erschienenen Debütroman Drei Kilometer legt Nadine Schneider ihr zweites Buch bereits 2021 vor. Wie den ersten siedelt sie auch ihren zweiten Roman am westlichen Rand Rumäniens, in der Nähe von Temeswar (rum. Timișoara), an. Obwohl die Autorin 1990, kurz nach der Ausreise ihrer Eltern in die Bundesrepublik, in Nürnberg geboren wurde, lässt sie Rumänien, das Herkunftsland ihrer Familie, nicht los, sodass sie mit ihrem Helden Johannes Seeler erneut einen Streifzug in die banatschwäbische Vergangenheit wagt. Das Panoptikum von Familiengeschichten bereichert die Autorin durch ein weiteres Psychogramm und zeigt eindrücklich, dass man seiner Verwandtschaft nicht entkommen kann: „Man konnte seine Familie verlassen, man konnte hunderte von Kilometern zwischen sich und die Orte seiner Kindheit bringen, man konnte gut vergessen üben, mit einem tückischen Fluss im Rücken, der einen trennte von den ganzen Verwandten und Verschwägerten, von den Blutsbanden, den Wie-aus-dem-Gesicht-Geschnittenen, aber eine Familie ließ sich nicht loswerden“ (S. 25).

Es liegen nicht nur einige hundert, es liegen gut über tausend Kilometer zwischen dem Herkunfts- und dem Ankunftsort, doch bedeutet für Johannes Seeler Zu-Hause-angekommen-sein etwas anderes. Was genau – das will er selber herausfinden. Und die Suche beginnt.

Der Fluss, der ihn von der Verwandtschaft trennt, ist kein beliebiges Flüsschen, sondern ein beeindruckender Strom. Die Donau sucht Johannes sogar in seinen Träumen heim und beschert ihm einige Traum-Tode. Warum „ein Tor aus Wasser, aus Strömungen und verborgenen Strudeln“ (S. 6) eisern heißt – diese Frage stellt sich Johannes immer wieder. Zwar ist er schon längst in einer anderen Welt gelandet, weit weg von seiner Familie, doch ihr Schatten verfolgt ihn. Nachdem er schwimmend seine Heimat verlassen hat, lernt er nun gehen – und steht nach kurzer Zeit auf eigenen Beinen. Das Eiserne Tor verheißt Öffnung, Freiheit, Experiment. Doch reicht ein Brief mit drei Zeilen, um viele Jahre zurückgeworfen zu werden. Ein Brief mit einem bekannten Schriftzug: „So schrieb nur sie.“ (S. 16) Seine Mutter teilt ihm mit, dass sein Vater „umgefallen und nicht mehr aufgestanden“ (S. 17) sei. Johannes wird Urlaub nehmen, seine Sachen packen, viele Kilometer mit dem Auto gen Osten fahren und in der Vergangenheit ankommen. Er wird viele Menschen treffen, die mit ihm verwandt sind, doch den einen Menschen, der ihm besonders nahestand, seinen Freund David, wird er nicht vorfinden. David bleibt verschwunden – der Freund, der Johannes die Angst vor dem Wasser nehmen und ihn auf der Flucht gen Westen begleiten wollte. Er war Johannesʼ erste große Liebe.

Obwohl Frühjahr ist und 1993 die Umbrüche im östlichen Europa bereits längst vollzogen sind, stellt sich in Johannesʼ Leben keine Leichtigkeit ein. Es liegt eine Schwere in der Luft – in der Atmosphäre des gesamten Buches. Johannes erfreut sich zwar am Garten der Nachbarn, den er – wenn sie verreist sind – mit Hingabe betreut; sein Beruf als Hörgeräteakustiker erfüllt ihn – und ist in einer innerlich tauben Welt symbolisch aufgeladen. In seiner Kollegin Giulia findet er eine Vertrauensperson, mit der ihn eine „Art vererbter Knigge“ (S. 36) verbindet – beide haben eine „geradezu naive Auffassung davon, was sich gehörte und was nicht“ (S. 36). Ihr muss er also auch nicht erklären, warum er – obwohl er zu seinem gewalttätigen Vater keinen Bezug hatte – dennoch auf seine Beerdigung nach Rumänien fahren möchte: „Allein schon der Mutter zuliebe. Der armen Mutter. Die hatte doch jetzt niemanden mehr“ (S. 37). Doch muss er schließlich zugeben, dass es auch der Mutter an einem echten Interesse an ihrem Sohn gebricht, und akzeptieren: „Es gab nichts mehr zu tun hier. Es war nicht nur der Vater gestorben, irgendwie hatte auch alles andere aufgehört zu leben, vor allem ein Gefühl, von dem Johannes gedacht hatte, er müsse es noch haben“ (S. 219).

Nadine Schneider nutzt ein gängiges Mittel – die Fahrt zum Begräbnis eines nahen Verwandten –, um eine narrative Rückwärtsrolle einzuleiten und die Familiengeschichte ihres Helden Johannes zu erzählen. Johannesʼ Reise an den Ort, an dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hat, beginnt in dem Augenblick, als er das Kuvert aus Rumänien in seinem Postkasten vorfindet. Tief blickt er in das „Herzhaus“ (S. 48) hinein, das Haus, in dem er aufgewachsen ist und in dem „man es sich in seiner Familie nicht einmal vor seiner Geburt erlaubt hatte, glücklich zu sein“ (S. 48). Schon vor seiner Abreise nähert er sich der Region, wo alles „flach und niedrig und klein“ (S. 56) ist, der Region mit den vielen „Herzhäusern“ (S. 56), vor deren Zäunen Knoblauchzöpfe hängen. Einen solchen Zopf will er Giulia mitbringen. Aber auch noch etwas will er ihr schenken: die Wahrheit über sich selbst. Wie zäh der Weg zu Letzterer sein kann, erfahren wir in Nadine Schneiders feinsinnigem Roman.

Ingeborg Szöllösi

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2022), Jg. 17, IKGS Verlag, München, S. 249–251.

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