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Andrea Tompa: Omertà | Rezension

Eine Rose ist eine Rose ist Ideologie

Andrea Tompa: Omertà. Buch des Schweigens. Roman. Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Berlin: Suhrkamp Verlag 2022. 954 S.

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Von Beate Tröger

 

Fast tausend Seiten umfasst die deutsche Übersetzung von Omertà Das Buch des Schweigens. Es ist der dritte Roman der 1971 im rumänischen Cluj-Napoca (dt. Klausenburg, ung. Kolozsvár) geborenen, heute in Ungarn lebenden Andrea Tompa, die als Schriftstellerin und Dozentin für Theaterwissenschaft tätig ist, letzteres in Klausenburg – und der erste, der von Terézia Mora aus dem Ungarischen ins Deutsche übersetzt worden ist. Nicht viel-, sondern vierstimmig ist dieser Roman, denn in vier Büchern und aus der Perspektive von vier Figuren wird die Zeit erzählt, in der Rumänien nach dem zeitweiligen Schulterschluss mit dem Nationalsozialismus, nach Ende des Zweiten Weltkrieges und nach dem Sturz und der Ermordung des Ministerpräsidenten Ion Antonescu unter den Einfluss der Sowjetunion gerät. Die Monarchie in Rumänien wird beendet und Nordsiebenbürgen, das zuvor zu Ungarn gehört hatte, fällt an Rumänien zurück.

In dieser Zeit setzt der Roman an und schildert die Zeit, in der die Landwirtschaft nicht nur in Rumänien kollektiviert wird, in der die kommunistische Doktrin in der Gesellschaft und all ihren Institutionen durchgesetzt werden soll, und die Art und Weise, wie dieser Umbau in Kolozsvár und in den umliegenden Dörfern vonstatten geht, jedoch stets vermittelt durch seine Figuren.

Die Handlung setzt ein mit Kalis Buch und damit der Stimme von Kali, einer nicht mehr ganz jungen Bauersfrau, die sich von ihrem alkoholkranken und gewalttätigen Mann absetzt und auf dem Markt nach einer Stelle Ausschau hält. Sie hat endgültig genug von der Willkür und der Tyrannei in ihrer Ehe. Kali findet bei dem Rosenzüchter Vilmos eine neue Anstellung und, wie sich bald herausstellen wird, auch einen neuen und behutsameren Liebhaber, dem sie abends wie Scheherazade Geschichten erzählt und der Kali etliche Verantwortung nicht nur für das Haus, sondern auch für die von ihm über alles geliebten Rosen überträgt. Bald ist Vilmos der vorherigen feinen, ennuyierten Geliebten aus der Stadt endgültig überdrüssig, denn in Kali hat er ein warmherziges und kluges Beinahe-Gegenüber gefunden.

Was für einen Moment wie eine Idylle wirkt, kippt jedoch bald. Vilmos, dessen besondere Fähigkeiten als Rosenzüchter der neuen Regierung nicht verborgen bleiben, wird vor den Karren der Machthaber gespannt: Sein Rosengarten soll zu einer staatlichen Forschungsanstalt umfunktioniert werden – ein Angebot, das Vilmos auszuschlagen nicht in der Lage ist, sieht er doch eine Karriere auf sich zukommen, von der er nur hat träumen können, eine Karriere, die gekrönt werden soll mit der Teilnahme an der großen internationalen Rosenschau in Paris, bei der die besten Züchtungen mit dem Diplȏme d’Or gekrönt werden.

Mit dieser Perspektive und der Hoffnung auf Berühmtheit schickt Vilmos Kali schließlich aus dem Haus, als diese von ihm schwanger wird und er ihre skeptischen Kommentare und letztlich auch ihre Nähe nicht länger erträgt, wovon er seinen Aufstieg zum Wissenschaftler, Professor und preisgekrönten Rosenzüchter bedroht sieht.

Im zweiten Buch, Vilmosʼ Buch, erzählt Tompa den gleichen Zeitabschnitt von neuem, diesmal aus der Sicht des ehrgeizigen und eigenbrötlerischen Züchters. Davon, wie Vilmos zunächst von der Idee des Aufstiegs begeistert ist, und davon, wie ihm rasch dämmert, dass die Pläne der Regierung letztlich wenig mit seiner eigenen Leidenschaft in Übereinstimmung zu bringen sind, und davon, wie der erhoffte Triumphzug nach Paris zur Blamage des Hinterwäldlers wird, eine tragikomische und unvergessliche Sequenz des Romans.

Das dritte Buch ist Annuschka gewidmet, der wesentlich jüngeren Magd. Sie tritt an Kalis Stelle als Vilmosʼ Geliebte. Als sie Vilmos, dem sie treu und treuherzig zu Willen ist, darum bittet, ihre Schwester Eleonora aus dem Gefängnis zu holen, eine Nonne, die mit all ihren Ordensschwestern aus dem inzwischen aufgelösten Kloster inhaftiert worden ist, verweigert Vilmos ihr die Unterstützung. Die Liebschaft zwischen ihr und Vilmos versandet, verliert sich im Schweigen.

Durch die Stimme der Nonne Eleonora kommt im vierten Buch von Omertà noch einmal ein ganz anderer Ton auf. Hier fließt die spirituelle Weltsicht einer gläubigen Katholikin in den Roman ein, die sich von dem Spiel des Eros verabschiedet hat und gemeinsam mit ihren Glaubensschwestern den Vertretern der stalinistischen Herrschaft ein Dorn im Auge ist. Sie ist immensen Repressionen und Folter ausgesetzt und wird schließlich doch gegen ein Schweigegelöbnis freigelassen.

In einem Gespräch im September 2022 in Budapest berichtete Andrea Tompa, sie habe sich der erzählten Zeit mit der Vorstellung von vier Figuren angenähert, die aus einem Haus heraus durch vier verschiedene Fenster auf die gleiche Welt blicken, von ihr aber jeweils nur einen ganz bestimmten Ausschnitt sehen. Jede der Figuren, so Tompa, wisse zwar eine Menge über diese Zeit, aber in jeder der vier Erzählungen bleiben Leerstellen, sehen die gleichen Dinge durch die verschiedenen Perspektiven anders aus. Diese Leerstellen in der Lektüre produktiv zu machen, obliege den Lesern. Das Schweigen, von dem im Untertitel die Rede ist, ist also ein konstruktives Moment des Romans.

So paradox es noch an dieser Stelle klingen mag: Seinen immensen Reiz verdankt Omertà am meisten Andrea Tompas intensiver Spracharbeit und der übersetzerischen Leistung von Terézia Mora. Jede der Figuren trägt ein maßgeschneidertes Sprachkleid. Kali spricht im archaischen Szekler-Dialekt, Vilmos mal in der mürrischen Diktion des botanischen Nerds, später in der bemühten Gewundenheit eines Funktionärs, der sich beweisen und anbiedern möchte und schließlich auf der Reise zur Rosenschau in Paris als tumber Provinzler aus einem kommunistischen Land neben den Züchtern aus Frankreich und Amerika eine peinliche Figur abgibt. Annuschkas Sprache ist gekennzeichnet durch kurze, fast atemlose Sätze, die ihre Jugend und ihre Aufgewühltheit zum Ausdruck bringen, während Eleonoras Erzählung einen Ton der Ruhe und Entrücktheit anschlägt. Die Sprache einer Nonne zu entwickeln, die nicht als Nonne leben kann, habe ihr, so Tompa im Gespräch, das größte Kopfzerbrechen bereitet.

Wenn davon auch in der deutschen Lektüre nicht die leiseste Spur zu ahnen ist, so ist das Terézia Mora zu danken. Mora hatte sich gemeinsam mit Katharina Raabe dafür eingesetzt, den Roman, für den sich auch der wohl größte unter den lebenden ungarischen Autoren, Péter Nádas, zuvor schon stark gemacht hatte, ins Deutsche zu übersetzen. Die Büchner-Preisträgerin von 2018 hat noch einmal neue Sprachkleider geschneidert, hat die Provinzialität Kalis, den Opportunismus Vilmosʼ, die Atemlosigkeit Annuschkas und die Getragenheit Eleonoras im Glauben in der deutschen Sprache überzeugend nachgebildet.

Besonders beeindruckt aber auch, wie Tompa mittels der Rose, der Rosenzucht und des Rosenzüchters, in der Beschreibung der Techniken, der Möglichkeiten und Grenzen des Züchtens und Veredelns, in der Vereinnahmung dieses leidenschaftlichen Züchters für den gesellschaftlichen Umbau Rumäniens nichts weniger als einen allegorischen Roman geschrieben hat. Dazu gehört die prometheische Figur Vilmos, der als Handwerker dem Künstler nahe steht, der an dem Wunsch, wie Gott zu sein, ebenso scheitert wie das Regime letztlich daran scheitert, Menschen ganz konform zu machen. Dazu gehört auch die Rose als schönste und vielleicht umkämpfteste unter allen. Dazu gehören die dezidierten Exkurse zur Mitschurinschen Vererbungslehre, die im Osten lange Zeit gegen die im Westen bevorzugte Mendelsche Vererbungslehre unterrichtet wurde und die besagt, dass hybride Merkmale von Pflanzen vererbbar sind, was die ideologischen Grundlagen des Kommunismus viel besser stützte, als es die Mendelschen Regeln könnten.

Die umfangreichen Recherchen der Autorin finden in der überbordenden Fülle des Romans ihre Form stets in der Figurenrede, nichts wirkt hier angelesen, alles er- und durchlebt. Vilmos, dessen historisches Romanvorbild als Mitschurin von Cluj bezeichnet wurde, weil er Mitschurins Lehre glühend verfocht, erscheint dem Leser stets als besessen, Kali, für die Tompa eine Person aus ihrer Familie zum Vorbild wählte, tritt als Geschichtenerzählerin dem Leser höchst lebendig vor Augen.

Und immer schwingt eine Frage mit, die Tompa sich im Prozess des Schreibens stellte: Wie stark passen sich Menschen den Zeitläuften an? Sind sie nah an dem, was man Puls der Zeit nennt? Oder weit entfernt? Kann ein Mensch in seiner Zeit leben, ohne sich von den Zeitläuften belangen zu lassen, wie Eleonora es tut?

Bedenkt man diese Fragen, so wird Omertà auch lesbar als Kommentar der Autorin zur politischen Gegenwart Ungarns, zu der Frage, wie es sich leben lasse in einem Land, in dem eine illiberale Demokratie zum Modell erklärt worden ist. Die immense Spannung, die das Leben zahlreicher Künstler und Intellektueller in Ungarn heute bestimmt – auch sie wird in diesem Buch reflektiert, ohne direkt an- und ausgesprochen zu werden. Der Philosoph Ernst Bloch prägte einst die These vom „Dunkel des gelebten Augenblicks“. Mit ihr versuchte er begrifflich zu fassen, dass uns das real Allernächste meist das gedanklich Fernste ist. Zur Veranschaulichung zog er später den blinden Fleck des Gesichtsfeldes heran, der dazu führt, dass ein bestimmter Bereich nicht gesehen und meist nicht einmal als blinder Fleck wahrgenommen wird, weil das Hirn fehlende Informationen aus anderen Regionen der Retina hinzufügt. Dadurch entsteht der Eindruck, man wisse, was einem unmittelbar begegnet. Doch erst wenn der Augenblick vergangen ist oder wenn er kurz bevorsteht, können wir ihn erkennen. In gewisser Weise führen die Figurenkonstellationen in Andrea Tompas Roman genau dieses Paradox vor: vermeintlich zu durchschauen, was sie eben gerade nicht überblicken (können). Die Art und Weise, wie die Autorin diesen Umstand erzählend erhellt, ohne ihre Protagonisten vorzuführen, zeugt von einer feinen Klugheit und Humanität, die es ermöglicht, mit allen Figuren mitzufühlen, zu verstehen, was sie in die Irre treibt ‒ und im besten Fall auch wieder aus ihr herausführen könnte.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 238–241.