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Rayna Breuer: Platte 317 | Rezension

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Sehr entfernte Alltagswelt

Rayna Breuer. Platte 317. Roman. Mit Illustrationen von Dirk Breuer. Ulm: danube books 2021. 216 S.

„Bulgarische Autoren sind Einzelkämpfer“, bekannte kürzlich der renommierte Übersetzer Andreas Tretner in einem Interview aus Anlass der Veröffentlichung des Romans Die Sanftmütigen von Angel Igor. Noch mutiger sind Autorinnen wie Rayna Breuer, die ihr Heimatland Bulgarien nach 2000 verlassen hat, um nach einem Studium in Deutschland und Österreich als Journalistin für verschiedene Rundfunksender zu arbeiten. Ihr kürzlich im Verlag danube books erschienener Debütroman mit dem seltsamen Titel Platte 317 führt uns mitten in das Plattensiedlungsmilieu der bulgarischen Hauptstadt Sofia kurz nach der politischen Wende, als der Prozess gegen den kommunistischen Langzeit-Diktator Todor Schiwkow begann, als die Versorgung der total verunsicherten Bevölkerung katastrophale Ausmaße annahm, als der mutige Verteidiger des kommunistischen Regimes, Dimitar, in den Keller der Platte 317 flüchtete, als die Genossin Markova als Mitarbeiterin der Staatssicherheit keine Briefe auf dem Postamt mehr öffnen durfte, als … kurzum, in den Köpfen der bulgarischen Übergangsgesellschaft brodelt es. Ein Zustand, der sich bereits im Inhaltsverzeichnis widerspiegelt. Achtunddreißig Mal wird der Leser mit dem verheißungsvollen Wörtchen „ALS“ mit unterschiedlichen Akteuren nicht nur durch die Plattensiedlung 317 geschickt. Er freundet sich mit Viara, Stanka, Virov, Oma Nedka oder Dobrinka aus benachbarten Siedlungen an. Sie klagen ihm ihr Leid über fehlende Lebensmittel, über häufige Stromsperren, über ausgefallene Omnibusse und Schlaglöcher. Von ihnen erfährt er etwas über aufgewühlte Stimmungen und ewige Nörgler, die nicht an einen sozialen Wandel nach der politischen Wende glauben, die all diejenigen beneiden, die rechtzeitig aus Bulgarien geflüchtet sind, weil „deren Kraft zum Widerstand nicht ausreichte“ (S. 211). Umso couragierter ist die journalistische Berichterstattung von Rayna Breuer, die dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch des südosteuropäischen kommunistischen Regimes mit ihrer humorvoll ausgeschmückten Darstellung der „Übergangsleiden“ den Versuch unternimmt, die psychische und körperliche Befindlichkeit ihrer damaligen Landsleute mitteleuropäischen Leserinnen und Lesern zu erläutern. Bedauerlicherweise sind die Alltagsepisoden aber meist so aneinandergereiht, dass ein aufmerksamer Leser die alltäglichen Leiden der handelnden Personen nicht aus deren Innenperspektive nachvollziehen kann. Er wird von einem Ereignisstrang zum anderen geführt, ohne an dem Alltagsleid der Protagonisten beteiligt zu sein. Nur dann und wann leuchtet ein literarischer Strang kurz auf, wenn die allmählich geläuterte Genossin Markova sich der gesellschaftlichen „Realität“ nähert, weil ihr die Fakten einsichtig geworden sind.

Ein journalistisch gestalteter Episodenroman, der – mit Ausnahme des Paperback-Umschlags – leider nur mit geschönten Illustrationen ausgestattet ist. Er entführt Leserinnen und Leser in eine bereits sehr entfernte Alltagswelt im südosteuropäischen Bulgarien, in welcher sich der gesellschaftliche Wandel nur zögernd abzeichnet. Doch eben diese gefühlte Differenz zwischen der verwirrenden Wende und der enttäuschenden Befindlichkeit dreißig Jahre danach wäre ein aufreizendes literarisches Thema gewesen! Wie schade, dass die erfahrene Journalistin diese Chance nicht genutzt hat!

Wolfgang Schlott

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2022), Jg. 17, IKGS Verlag, München, S. 241–242.

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