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George Guțu: Horizonte| Rezension

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George Guțu (Hg.): Horizonte. Über Hans Bergels literarisches Werk. (Literaturwissenschaft, Bd. 76.) Berlin: Frank & Timme Verlag 2019. 276 S.

Von Wolfgang Schlott

»Mein Leben ist Schreiben – oder es ist nichts.« Die Selbsteinschätzung des Schriftstellers und Publizisten Hans Bergel, am 26. Juli ­1926 in der siebenbürgischen Marktgemeinde Rosenau (rum. Râșnov) in der Nähe von Kronstadt (rum. Brașov) geboren, dient dem Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes, dem rumänischen Germanisten George Guțu, als treffliches Motto für die Wahrnehmung eines schöpferischen Werkes, das aufgrund seiner Fülle und seiner so unterschiedlichen Themen und Leitmotive einer Wertung zu entschlüpfen droht. Die »vielen Gesichter« (S. 142, Mariana Lazarescu) dieses Autors, die reiche Themenpalette in seinen Romanen und publizistischen Arbeiten erlauben unter Verweis auf die 22 Beiträge aus der Feder von zwanzig mit dem Werk von Hans Bergel wohlvertrauten Literaturwissenschaftlern und Literaturwissenschaftlerinnen dem Rezensenten nur eine kurze Kommentierung und Bewertung der vorliegenden Texte. Die aus einer breiten Zeitspanne zwischen den ­1970er- und 2010er-Jahren stammenden, bislang meist unveröffentlichten wissenschaftlichen Aufsätze, Buchbesprechungen wie auch Grußbotschaften greifen eine solche Fülle von Aspekten aus dem vielstimmigen Werk von Bergel auf, dass es schwer fällt, die auf vergleichbarem Niveau angesiedelten Beiträge angemessen zu würdigen. Ungeachtet solcher berechtigten Überlegungen gibt es eine Reihe von Artikeln, in denen neben der Evaluation des breiten Themenspektrums und der differenzierten Beschreibung der fiktionalen Horizonte in den Romanen und Erzählungen auch gattungsspezifische und gattungsübergreifende Aspekte aufgegriffen werden. Peter Motzan, der langjährige Freund und Kritiker der Bergel’schen Poetik, hebt unter Verweis auf dessen eigenständige Thematik und Stilistik hervor: »Eine Anpassung ans Stromlinienförmige verweigert er, Verlockungen der schillernden Moderne, die seinem ästhetischen Credo zuwiderlaufen, erliegt er nicht« (S. 15). Ana Blandiana, die sicherlich bedeutendste rumänische Dichterin, lernte das umfangreiche Werk von Bergel erst in der rumänischsprachigen Fassung kennen und kommt nach der Lektüre von Der Tanz in Ketten zu dem Ergebnis, dass dieser Roman »bis heute der komplexeste, der subtilste, der kenntnisreichste […] über den kommunistischen Terror im Rumänien der ­1950er Jahre« (S. 22) ist. Renate Windisch-Middendorf konzentriert sich in ihren beiden Beiträgen auf das Spätwerk von Bergel, indem sie den beiden Romanen Wenn die Adler kommen (­1996) und Die Wiederkehr der Wölfe (2005) bescheinigt, dass deren »weit ausholende Chronik und Analyse des südost- und zentraleuropäischen Raumes […] den zeitlichen Rahmen zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg absteckt« (S. 95). Und über das Verhältnis zwischen Romanhandlungen und Erzähler-Position schreibt sie, dass der Autor selbst sich hinter den Romanfiguren zu erkennen gebe. Dieser Spur folgt Olivia Spiridon in ihrem theoretisch fundierten Essay über Narration und Identität in Hans Bergels Trilogie-Projekt. Es handelt sich dabei um die ersten beiden Teile der Trilogie Wenn die Adler kommen, Die Wiederkehr der Wölfe, in denen ein besonderes Merkmal der Erzählinstanz zum Tragen kommt. Es ist, so Spiridon, die ständig wechselnde Perspektive des Erzählers, die »zwar aus der Ich-Perspektive der zentralen Gestalt erzählt, die personale Position des Erzählers wird jedoch auf lange Abschnitte aufgegeben, die Perspektive des im Roman Erlebenden verlassen, so dass ein Erzähler mit der Reife und Erfahrung der Erzählgegenwart die Zügel in die Hand nimmt und dem jugendlichen Ich-Erzähler helfend zur Seite steht« (S. 110).

Diese Vielstimmigkeit eines mit reicher Erfahrung ausgestatteten Erzählers würdigt auch Markus Fischer mit dem Blick auf Bergels Siebenbürgen-Epos Die Wiederkehr der Wölfe. Es sei nicht »nur ein Heimat-, ein Bildungs- und ein Familienroman, sondern in einem ausgezeichneten Sinne auch ein europäischer Zeitroman « (S. 57). Wichtige zeitgeschichtliche Ereignisse würden vom Erzähler nicht nur berichtet oder erwähnt, sondern durch Verknüpfung mit verschiedenen Romanfiguren in das epische Geschehen mit einbezogen. Auf dieses strukturell verankerte implizite politische Bewusstsein der Protagonisten verweist Stefan Sienerth in seinem Interview mit Hans Bergel. Ausgehend von der Feststellung, dass Bergel ganz andere Wege als ein beträchtlicher Teil der deutschen Nachkriegsliteraten gehe und dadurch seine Wirkung als Schriftsteller möglicherweise aus diesem Grund eine Begrenzung erfahre, präzisiert der Interviewte seine schriftstellerische Position. Die sentimentale Esoterik der Deutschen, so Bergel, »die für ihre historische Ungeheuerlichkeit von ­1933 –­ 1945 ihre Dichtung, […] ihre Geistestradition verantwortlich machen, stößt mich ab, weil sie Feigheit offenbart. Ein Theorem wie das von der Stunde Null erschien mir infantil« (S. 45). Mehr noch, er wirft einer Literatur in der ökonomisch sorgenfreien, politisch abgesicherten Welt der westlichen Demokratie vor, »zum Gegenstand ästhetischer Verspieltheit und elitärer Kapriziösität zu verkommen und ihren uralten Auftrag zu übersehen: Mitteilung zu geben von den großen Themen der Menschen auf dieser Erde – von Ungerechtigkeit und Unterdrückung, von Verrat, Liebe, Treue und Treulosigkeit, vom Hunger, vom Existenzkampf, von der Gemeinheit und der Redlichkeit« (S. 45).

Auf diesen Aspekt im Schaffen von Bergel macht Günter Volkmer in seiner Bewertung der historischen Novelle Fürst und Lautenschläger (­1957) aufmerksam. Unter der Überschrift Das Motiv der Freiheit bewertet er die Erzählung als einen »Aufschrei in tyrannos« (S. 79), der zu Bergels langjähriger Verurteilung im berüchtigten Kronstädter Prozess, zusammen mit vier anderen Schriftstellern, führte und ihm die Bewertung einbrachte, »eines der seltenen Dokumente der Widerstandsliteratur der fünfziger Jahre in Rumänien« geschaffen zu haben. Dass Bergel nicht nur die ästhetischen Implikationen des Politischen in seinem literarischen Schaffen verankert, sondern auch stilistische und gattungsspezifische Komponenten kreativ gestaltet hat, wird in anderen Beiträgen des Sammelbandes explizit thematisiert. Die Bukarester Germanistin Raluca Rădulescu verweist auf die Elemente des magisch-phantastischen Realismus in Bergels Prosa. Sie würden sich als symbolisch-mythische Elemente mit der katalytischen Kraft des Zauberhaft-Phantastischen durchsetzen und seien oft die Gegenpole zu den grausamen Erfahrungen des XX. Jahrhunderts. Auf das viele Gesichter erfassende Siebenbürgen am Beispiel des »Homo Transsilvanus« macht Matthias Hakuba mit seiner Analyse des großen Essays Über die Zerrissenheit und Einheit Südosteuropas – Versuch der Erkundung eines Raumes und seiner Völker (­1995) aus Anlass des 93. Geburtstages von Hans Bergel aufmerksam. »Der Waldläufer« verleihe aufgrund seiner vielen Begegnungen in den Kerker- und Lagerjahren mit den unterschiedlichsten Männern aus allen Gesellschaftsschichten den Protagonisten in seinen Novellen und Romanen eine lebendige Echtheit. Sie komme nicht nur in den Notizen eines Ruhelosen. Tagesaufzeichnungen 1995 bis 2000 (2015) zum Tragen, sie widerspiegele auch die Widersprüchlichkeit und das vielschichtige Kolorit des südosteuropäischen Raumes. Dass der Siebenbürger Bergel ungeachtet seiner Affnität zu seinem angeborenen Lebensraum nach seiner schwierigen Ausreise aus Rumänien ­1968 benachbarte Kulturräume zu seinem »Wohnland der Seele« wählte, thematisiert Mariana-Virginia Lazarescu in ihrem Essay über Bergels Italien- und Griechenlandbild. Ihr Vergleich der vielstimmigen europäischen Mittelmeerlyrik mit Bergels Gedichten betont dessen »Südsehnsucht«, die nicht nur in einer teils emphatischen Huldigung antiker Welten, teils in der Symbiose von Natur und Geist, sondern auch in der Vertrautheit mit der Geschichte und Kultur des Mittelmeerraumes zum Tragen komme. Die mythenerfüllte Welt des Mittelmeers verdichtet Bergel auch bei seinen häufigen Besuchen in Israel, wo er vor allem mit dem 2014 verstorbenen Bildhauer, Lyriker und Philosophen Manfred Winkler viele Gespräche über das jüdischdeutsche Verhältnis geführt hat. Darüber berichtet Walter Schuller in seinem Artikel Faszination Israel.

Besprechungen von Sammelbänden können, zumal wie im Falle eines außergewöhnlich vielseitigen Autors, nur auf einige wenige Essays verweisen. Dass zum Beispiel Hans Bergel in einer professionell- musikalen Familie aufgewachsen ist (vgl. Lothar Ruudegasts Beitrag Zur Musik in Hans Bergels Texten), dass Walter Myss zur Synthese von Interpretations- und Erzählkunst im Werk von Bergel feinsinnig referiert, dass der Herausgeber Guțu unter den Stichworten Nationalität − Binationalität − Übernationalität über die Einordnung des vielstimmigen Werkes nachdenkt, muss wie manche andere Beiträge unkommentiert bleiben. Solche Verweise dienen der Aufforderung an Germanisten und Germanistinnen, Leser und Leserinnen, sich aus dem mannigfaltigen Werk von Hans Bergel besonders schmackhafte Rosinen zu picken. In diesem Zusammenhang sollten sie sich auch der Frage stellen, warum ein solch vielstimmiger, europäisch, trans- und multinational denkender und handelnder Schriftsteller in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eine vermittelnde Position einnimmt. Er ist zugleich ein renommierter literarischer Vertreter Südosteuropas, der die deutsch-rumänische Exil-Literatur in führender Position vertritt, und zudem ein Autor, der faszinierende Beiträge zu einer »südländischen« Sehnsuchtsliteratur liefert. Auf jeden Fall stellen die aus über hundert Artikeln ausgewählten Beiträge des Sammelbandes − mit der Umschlagabbildung der Bronze-Skulptur von Hans Bergel, angefertigt von Hans Wolfram Theil − eine in jeglicher Hinsicht umfassende und austarierte Darstellung des literarischen Werkes dar. Nicht zuletzt deshalb bilden sie die Grundlage für weitere literatur- und kulturwissenschaftliche Untersuchungen eines Werkes, dessen ästhetische und thematische Dimensionen bei weitem noch nicht ausgelotet sind.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2019), Jg. 14 (68), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 118–120.

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