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Gábor Kerekes: Winterlamm | Rezension

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Gábor Kerekes (Hg.): Winterlamm. Studien zu Márton Kalász’ Roman. [MITTELEUROPA. Schriftenreihe zur Kultur, Bd. 1.] Pilisvörösvár: Muravidék Baráti Kör Kulturális Egyesület 2018. 116 S.

Von Márta Juhász

Im Juni 2018 erschien der erste Band der Buchreihe Mitteleuropa. Schriftenreihe zur Kultur mit dem Titel Winterlamm. Studien zu Márton Kalász’ Roman, der von Gábor Kerekes zusammengestellte Studien zum benannten Werk beinhaltet, die in deutschsprachigen Sammelbänden bereits erschienen und in Ungarn nur teilweise zugänglich sind.

Der Roman von Márton Kalász, einem der bekanntesten ungarndeutschen Dichter und Schriftsteller, entstand ­1986 in ungarischer Sprache mit dem Titel Téli bárány [Winterlamm] und wurde erst sechs Jahre später von Paul Kárpáti ins Deutsche übersetzt. Der Autor gehört beiden Kulturen an, er schreibt zwar in ungarischer Sprache, bekennt sich aber dabei zur ungarndeutschen Identität. Der Roman stellt die Schicksalsjahre der Ungarndeutschen von den 30er-Jahren bis zum Ende der 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts durch die Geschichte zweier in Südungarn lebender ungarndeutscher Familien in einem auf Reflexionen und Bewertungen verzichtenden Erzählstil vor. Durch die literarische Aufarbeitung dieser Zeitspanne wurde eine Lücke gefüllt, der Roman gilt als Klassiker der ungarndeutschen Vergangenheitsbewältigung.

Das Gedicht Mosaiksteine des ungarndeutschen Schriftstellers Josef Michaelis, das den Untertitel Über das Buch »Winterlamm « von Márton Kalász trägt, also vom Roman inspiriert wurde, eröffnet den Band, den ein Gespräch von Angela Korb mit Kalász schließt.

Der erste Beitrag von Anita Czeglédy setzt sich in drei Unterkapiteln mit den Themen Identität als Produkt von Vorerfahrungen, als Projekt mit Zukunftsoptionen und mit der Akzeptabilität von atypischen Identitätskonstruktionen auseinander. Die Autorin kommt zur Schlussfolgerung, dass Márton Kalász trotz der Ambivalenz der Sprachsituation und des multikulturellen Hintergrunds seiner Kindheit über eine stabile Identitätskonstruktion verfügt. Er habe das Trauma der deutschen Minderheit überwunden und vertrete in seinem Roman den universalen Humanismus, so Czeglédy, die auch feststellt, dass die Rezipierbarkeit bzw. Akzeptabilität des Schaffens von Kalász problematisch sei, da seine Werke weder in die ungarische literarische Öffentlichkeit – wegen der fremden Inhalte – noch in die ungarndeutsche Literatur – wegen der ungarischen Sprache – Eingang fänden.

Orsolya Erdody thematisiert die Vermittlerrolle des Romans Winterlamm. Da er zahlreiche autobiografische Elemente enthält, richtet sich die zentrale Fragestellung auf die Fiktionalität und den Dokumentarismus des Werkes. Die Geschichte schildert den Entwicklungsprozess des Ich-Erzählers von einem ungarndeutschen Bauernsohn zum ungarischen Schriftsteller und ist auch eine wahre Soziografie. Im Beitrag werden die Erzählperspektiven, der Aufbau, die Tempusformen, die Identitätsinhalte und die Sprache analysiert, zugleich Vorzüge und Besonderheiten hervorgehoben. Schließlich wird das Buch als eine auf authentischen Erinnerungen basierende Fiktion eingeordnet.

Eine sehr interessante Perspektive bietet dem Leser der Aufsatz von Gábor Kerekes, der elf Besprechungen der ungarischen Originalversion des Romans von zehn Rezensenten anspruchsvoller zeitgenössischer Periodika zwischen ­ 1986 und ­1988 vorstellt. Die literarischen und kulturellen Zeitschriften der politisch anders orientierten Zeit haben das Werk mit großer Aufmerksamkeit rezipiert. Die ausführliche Thematisierung der Rezeption des Romans erlaubt einen Einblick in den Zeitgeist, die kulturelle Atmosphäre und die Minderheitensituation im damaligen Ungarn.

In dem Artikel von Imre Kurdi wird auf Aspekte eingegangen, die im Roman von besonderer Bedeutung sind: auf den im Mittelpunkt der Geschichte stehenden, von Raum und Zeit determinierten Mikrokosmos; auf die konsequent von unten, das heißt von der Peripherie gesehene und gezeigte Geschichte; auf den Seiltanz zwischen Realität und Fiktion; auf die ständig miteinander kontrastierten zwei Erzählperspektiven; auf das Unterbrechen der Erzählung des historischen Prozesses durch kleine Episoden und auf die im Titel genannte Schlüsselmetapher.

Márta Müller behandelt in ihrem Beitrag Faktoren der kulturellen Identität der im Roman Winterlamm dargestellten Ungarndeutschen mit besonderem Augenmerk auf ihren Sprachgebrauch, ihre Sprachwahl beziehungsweise darauf, wie sich die Selbstdefinition dieser Volksgruppe, das Abheben von ihrer andersartigen Umgebung mit den immer neuen Schicksalsschlägen verändert. Durch die Analyse der Denkart und der Handlungsweisen der Figuren werden auch Einstellungen zur Fremdheit und ethnischen Zugehörigkeit zum Ausdruck gebracht.

Bei der Untersuchung der interdiskursiven Konstruktion ungarndeutscher Identität im Werk von Márton Kalász setzt sich Eszter Propszt zwei miteinander korrespondierende Ziele. Einerseits möchte sie eine psychologische Systematisierung der relevanten Motive durchführen, die die Entscheidung des Individuums für oder gegen die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft bewirken und zur Integration oder Desintegration verhelfen. Andererseits versucht Propszt die Erzählstrategie des Romans selbst als eine Interpretation zur Selbstverantwortung zu erläutern.

Dezső Szabó geht der Frage nach, ob es heutzutage überhaupt eine ungarndeutsche Literatur gebe. Zuerst stellt er sämtliche Faktoren dar, die im Hintergrund die Minderheitenliteratur bestimmen und sie als ein kompliziertes Bedingungsgefüge determinieren. Im Weiteren werden die Geschichte bzw. der Werdegang der ungarndeutschen Literatur, die Themen, die Probleme der Autoren – von den Anfangsschwierigkeiten bis zu der heutigen, mittlerweile etablierten Situation – erörtert.

Die Studiensammlung Winterlamm füllt eine Lücke, indem sie umfangreiches Hintergrundmaterial zum literarischen Diskurs bietet und zum besseren Kennenlernen des Romans von Márton Kalász dient. Der Band sollte in allen Bildungseinrichtungen gelesen werden, in denen ungarndeutsche Literatur und Geschichte behandelt und vermittelt wird.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2019), Jg. 14 (68), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 120–122.

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