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Albrecht Plewnia u. a.: Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Übersee | Rezension

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Albrecht Plewnia, Claudia Maria Riehl (Hgg.): Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Übersee. Tübingen: Narr Francke Attempto verlag 2018. 293 S.

Von Elisabeth Knipf-Komlósi

In der Öffentlichkeit ist es weniger bekannt, dass Deutsch neben seinen Rollen als Muttersprache, Fremdsprache und Zweitsprache auch bei Individuen deutscher Abstammung eine wichtige – wenn auch teils bröckelnde – Rolle als Minderheitensprache, als Sprache von Sprechern und Sprecherinnen deutschsprachiger Vorfahren auf allen Kontinenten der Welt einnimmt. Dieser Thematik hat sich erfreulicherweise das bereits ­1996 initiierte Handbuch-Projekt über Grenzminderheiten in Europa,[1]­ über deutschsprachige Minderheiten in Mittel- und Südosteuropa[2] bzw. über deutsche Minderheitengruppen in Übersee[3] gewidmet. Die drei Handbücher geben einen umfassenden Überblick zur Lage des Deutschen als Minderheitensprache und ihrer Sprecher und Sprecherinnen und schließen somit eine Forschungslücke in diesem Bereich der Sozio- und Kontaktlinguistik.

In den neun Artikeln des hier besprochenen dritten Bandes wird die allgemeine und die spezifische Situation der deutschen Sprache und ihrer Sprecher dargestellt, wobei sich eindeutig zeigt, dass sich die Kontakte dieser Gruppen mit dem Mutterland aufgrund der großen geografischen Entfernung völlig anders gestaltet haben als die der mittel- oder osteuropäischen deutschen Sprachminderheiten.

Zunächst werden die in Europa weniger bekannten, durch Kolonialisierung entstandenen Sprachinseln skizziert, um dann etwas ausführlicher auf die angesiedelten deutschen Sprachinseln einzelner Gebiete einzugehen. Wegen der großen Entfernung und der spärlichen Forschungslage ist die Situation in Ozeanien, wie Stefan Engelberg ausführt, weniger bekannt. Bei der Entstehung der deutschen Sprachinseln in dieser Region sind zwei Ursachen zu erwähnen: die zunehmende Überseeauswanderung deutschsprachiger Europäer im ­18.–19. Jahrhundert sowie die Migration deutscher Händler, Missionare und Beamter im Zuge der Überseekolonialisierung des Südpazifiks im späten 19. Jahrhundert (Neuguinea, Bismarck-Archipel, Mikronesien, Samoa etc.). Vor dem Hintergrund dieser äußerst heterogenen historischen und geografischen Situation wird die entstandene komplexe Sprachkontaktsituation in Ozeanien aufgezeigt, wo durch den intensiven Kontakt mit den einheimischen Sprachen und den Sprachen der anderen Kolonialmächte, die als Entlehnungsgrundlage dienten, deutschbasierte Kontaktsprachen entstanden, das so genannte Unserdeutsch und Ali Pidgin, von denen das durch die Missionierung entstandene Unserdeutsch kreolisierte. Die in jüngster Zeit entdeckten Sprecher dieser Varietät leben heute noch in Australien, ihre Erforschung wurde in den letzten drei bis vier Jahren intensiv vorangetrieben.[4] In den ersten zwei bis drei Generationen nach der Auswanderung hatte das Deutsche aufgrund der aktiven deutschen Handelskontakte noch eine wichtige Rolle durch Schule, Kirche und eine bestimmte kulturelle Infrastruktur gespielt, doch danach erfolgte der Sprachwechsel zum Englischen. Mit dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft nach dem Ersten Weltkrieg verlor das Deutsche schnell an Bedeutung, sodass bis Ende des 20. Jahrhunderts alle deutschen Sprachinseln verschwanden; erhalten blieb eine so genannte Heritage- Kultur mit einzelnen deutschen Lehnwörtern.

Südafrika wie auch Namibia sind wie die meisten afrikanischen Staaten vielsprachig geprägt: In Südafrika gibt es elf Amts- und mehrere Minderheitensprachen, darunter auch Deutsch, in Namibia existieren neben der Amtssprache Englisch elf anerkannte Nationalsprachen, darunter Deutsch. Trotz unterschiedlicher Sprachpolitik dieser Länder ist in beiden eine gesellschaftliche wie individuelle Mehrsprachigkeit beim Großteil der Bevölkerung vorherrschend. Englisch und Afrikaans als offizielle Verkehrssprachen spielen eine dominante Rolle, auch als Sprachen des sozialen Aufstiegs, in Namibia kommt aufgrund der wirtschaftlichen Bedeutung dem Deutschen heute noch eine wichtige Rolle zu. In beiden Staaten sind für das Deutsche die wichtigsten Kontaktsprachen Englisch und Afrikaans neben mehreren heimischen afrikanischen Sprachen, die zum Teil auch von den Deutschsprechenden in der Alltagskommunikation erlernt worden sind.

Deutsche in Südafrika (Katharine Harr) sind zum großen Teil die Nachfahren der niederländischen Kolonisten des ­17. Jahrhunderts bzw. durch Missionare und Siedler im frühen ­18. Jahrhundert aus Norddeutschland dort gelandete Einwanderer, die ihre eigenen Siedlungen mit Schule und Kirche gründeten. Diese Immigranten konnten Sprache und Kultur über Generationen hinweg erhalten: So wurde Deutsch seit 1830 in Südafrika an Schulen unterrichtet, und es herrschte ein reges Religions- und Kulturleben mit mehreren deutschsprachigen Printmedien. In Südafrika hat sich das Springbokdeutsche, eine spezifische Varietät des Deutschen, herausgebildet, die im Kontakt mit anderen Sprachen heute eine Art Reliktvarietät darstellt, beschränkt auf den häuslichen und evtl. kirchlichen Gebrauch, bestückt mit Transferenzen aus dem Englischen und Afrikaans für Sachmodernismen und zur Überbrückung der vielen Wortfindungsprobleme der Sprecher. Deutsch bleibt in diesem Land teils durch das Bewusstsein der Südafrikaner mit deutscher Herkunft präsent. Die Stellung des Deutschen in Namibia (Katharina Dück) geht zurück auf die Tätigkeit der Rheinischen Mission und teils auf die Kolonie Deutsch-Südwestafrika (­1884–1915/20), das heißt Missionare und der Kolonialismus haben die deutsche Sprache in dieses Land gebracht, wo sie heute noch vital ist. Da Namibia für viele deutsche Einwanderer attraktiv war, wurde von den Deutschstämmigen ein reges kulturelles Leben und ein Schul- und Publikationswesen aufgebaut. Der Großteil der Sprecher sind deutschstämmige Namibier, die überwiegend in urbaner Umgebung (Windhoek und Swakopmund) leben und deren positive Einstellung aufgrund ihres ausgeprägten Sprachbewusstseins zu ihrem Namdeutschen hervorsticht, das mehrere Varietäten hatte: eine standardnahe, kontaktbedingte Alltagsvarietät, Namslang genannt, sowie die Kontaktvarietät Küchendeutsch. Die Sprechergruppen des Deutschen sind zwar nicht homogen, doch werden diese Varietäten des Namdeutschen informell wie formell heute noch verwendet.

Von den durch größere Siedlungsprozesse entstandenen deutschsprachigen Regionen in Übersee wird der amerikanische Kontinent in drei Beiträgen behandelt. Der Beitrag von William Keel zu den USA gewährt uns einen umfassenden Einblick in die Geschichte von deutschsprachigen Siedlern aus Europa. So erfahren wir, dass die USA eine der größten Konzentrationen von Deutschsprachigen bzw. Sprechern von Varietäten des Deutschen außerhalb Europas haben, beginnend mit der Kolonialzeit über das 19. Jahrhundert, vor und nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Eine neuere Welle der Einwanderung erfolgte Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts von Mennoniten aus Chihuahua/Mexiko (vgl. S. 142). Die Ansiedlung deutscher Gruppen war auf mehrere Bundesstaaten verteilt. Durch die wirtschaftlich bedingte Mobilität der Siedler kam es oft zu einer sekundären Migration, welche zu neuen sprachlichen Umgebungen und auch einem Kontinuitätsbruch im Spracherhalt dieser Gruppen geführt hat. Von den zehn am meisten gesprochenen Sprachen in den USA steht Deutsch gegenwärtig auf Platz 8, wobei die Zahl der Deutschsprechenden in den letzten 30 Jahren um 32,7 Prozent gesunken ist. Die statistische Tendenz zeigt nämlich, dass nach Englisch als dominante und de facto Amtssprache der USA eher Spanisch oder eine asiatische Sprache gesprochen wird. Gegenwärtig wird Deutsch als Fremdsprache an den Schulen und Hochschulen gelehrt, und nur die über 75-jährigen zweisprachigen Sprecher deutscher Abstammung beherrschen noch eine der herkömmlichen deutschen Varietäten ausschließlich im familiären und Freundeskreis. Am besten ist der Spracherhalt bei den Amischen, Mennoniten und Hutterern zu sehen, die aufgrund ihrer Religiosität auch einen starken sprachlichen Zusammenhalt zeigen. Jüngere Generationen nicht religiöser Gruppen haben zwar noch ein Bewusstsein für das sprachliche und kulturelle Erbe ihrer Vorfahren, doch besitzen sie keine Sprach- und Kulturkompetenzen mehr.

Eine detaillierte mikrosoziolinguistische Beschreibung eines eigenständigen sprachlichen Diasystems, des Pennsylvaniadeutschen (PeD), auch Pennsylfaanisch oder Deitsch der Amischen, Pennsylvania Dutch wird von Adam Thomas geboten. Mit dem nun schon eingebürgerten Kollektivbegriff Amischen wird eine überwiegend deutschstämmige und -sprachige religiöse, heute sehr heterogene Gemeinschaft verstanden, deren Mitglieder im ­17. Jahrhundert aus der Pfalz und der Nordschweiz in die religiös toleranten Gebiete der heutigen USA auswanderten und seitdem keine Kontakte zu ihren Herkunftsregionen pflegten. Ihrer bis heute bestehenden Abgeschiedenheit, der eigenen Religion und Schule, der traditionsgebundenen Wirtschaftsform, dem ruralen Lebensstil ist es zu verdanken, dass sie ihren typisch deutsch-englischen Siedler-Dialekt behalten konnten, den sie in der Alltagskommunikation heute noch gebrauchen und der eine stabile sprachliche Entität mit soziologischen, kulturellen und linguistischen Besonderheiten aufzeigt. Heute gibt es in den USA und Kanada etwa 300.000 Angehörige mit steigender Tendenz. Innerhalb des Pennsylvaniadeutschen sind zwei Gruppen zu unterscheiden: die Angehörigen der streng religiösen Gemeinschaften der Old Order Amish (und auch Old Order Mennoniten), die die Minderheit ausmachen; die größere Gruppe umfasst die German Americans (Deitsche), deren Vorfahren aus deutschsprachigen Gebieten Europas kamen und die sich in der amerikanischen Gesellschaft relativ schnell integrierten, ihre Kultur und Sprache fast völlig verloren haben. Im Gegensatz dazu sind die Angehörigen der religiösen Gemeinschaften in der Gesellschaft noch präsent mit eigenen, staatlich anerkannten 8-jährigen englischsprachigen Schulen und eigenen Lehrerinnen, wobei Hochdeutsch und der Bibelunterricht in deutscher Sprache erfolgt. Ihre Sprache ist ein Mischdialekt mit vielen Kontakterscheinungen im lexikalischen, phonologischen und morphosyntaktischen Bereich und zeigt eine von allen anderen Gruppierungen in Übersee abweichende Entwicklung: Das Pennsylvaniadeutsch hat unterschiedliche Ausgleichsvarianten, es ist eine eigenständige, voll funktionsfähige Sprache mit einer funktionalen Paradigmatisierung und einem dem Kontinentaldeutschen fremden Diasystem (vgl. S. 168).

Der kompakte Überblick über die Texasdeutschen im zweitgrößten Bundessstaat der USA stammt von Hans Boas. Die Zahl der Texasdeutschen, die Mitte des 19. Jahrhunderts im German belt siedelten, ist von ehemals ­140.000 bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts auf noch ca. 8.000–10.000 geschrumpft. Auch die älteste Generation hat Englisch als Hauptsprache, wenn sie auch Deutsch noch nicht ganz vergessen hat, die Jüngeren sprechen kein Deutsch mehr. Ab den ­1950er-Jahren haben Spanisch und andere Einwanderungssprachen an Bedeutung gewonnen. Durch die nach dem Ersten Weltkrieg amerikaweit verbreitete Deutschfeindlichkeit wurde das Deutsche aus dem öffentlichen Leben in den privaten Bereich gedrängt, die Nachfahren deutscher Einwanderer sind weitgehend in der englischsprachigen Bevölkerung assimiliert. Die Gründe dafür sind mehrschichtig: Teils gibt es keine Gelegenheiten mehr die deutsche Varietät zu gebrauchen, die in der Gemeinschaft selbst als negativ eingeschätzt und als schlechtes Deutsch ohne Zukunft betrachtet wird. Erfreulicherweise ist es Hans Boas und seinen Mitarbeitern[5] gelungen, in einem groß angelegten wissenschaftlichen Forschungsprojekt von 2001 bis 2014 die Sprachdaten von 450 Sprechern des Texasdeutschen zu dokumentieren; so konnten die linguistischen Besonderheiten dieser Varietät beschrieben werden, die ähnliche Kontakterscheinungen und grammatische Besonderheiten aufzeigt.

Im Beitrag von Heinrich Siemens werden die in Nord- und Südamerika lebenden Mennoniten in der Gegenwart in einem Zusammenhang dargestellt, wobei die Ostmennoniten im Mittelpunkt stehen. Wie die Amischen und Hutterer sind auch die Mennoniten aus der Täuferbewegung hervorgegangen und haben im Laufe der Jahrhunderte aufgrund ihrer religiösen Überzeugung (absolute Verweigerung der Wehrpflicht, besondere Kleidung, Ablehnung von elektrischem Strom, Autos etc.) mehrere Umsiedlungen nicht nur von Land zu Land, sondern auch von Kontinent zu Kontinent hinter sich gebracht. Diese Migrationsbewegungen werden in übersichtlicher tabellarischer Form ausführlich dargestellt. Ihre Selbstbezeichnung lautet auf Plautdietsch (Plattdeutsch) Mennisten, in Übersee werden sie von der Mehrheitsgesellschaft »Mennonites, Mennonitas« genannt, so wird auch im vorliegenden Beitrag von Mennoniten gesprochen, die in den letzten fast 500 Jahren im Laufe ihrer Migrationen in den jeweiligen Ländern als Fremde wahrgenommen wurden und immer noch werden. Ihre Zahl belief sich 2012 in Nordamerika auf etwa 529.000 inbegriffen 114.000 Amische und 22.000 Hutterer, in Lateinamerika betrug ihre Zahl etwa 186.000 getaufte Glaubensbrüder, die sich auf die Länder Paraguay, Mexiko, Bolivien, Honduras, Guatemala, Brasilien und Nicaragua verteilen. Ihre Einstellung zum Hochdeutschen als Prestigesprache ist eindeutig positiv, das Plautdietsche ist die Familien- und Alltagssprache mit einem weit geringeren Prestige. Die Sprachenkonstellationen in den einzelnen Ländern und selbst in den Mennonitengruppen sind sehr unterschiedlich; die Mennoniten in Nordamerika sind einer großen Assimilation ausgesetzt, wohingegen die additive Mehrsprachigkeit im spanischsprachigen Raum der Assimilation noch Widerstand leisten kann.

Der Beitrag von Peter Rosenberg zu Lateinamerika ist vom Umfang und seiner Komplexität her der größte, da es um mehrere Länder des Kontinents mit unterschiedlichen Minderheiten- und Sprachenkonstellationen, auch mit anderer Sprachpolitik geht, doch sind diese deutschstämmigen Bevölkerungsgruppen und deren Migrationsbewegungen der einzelnen Länder miteinander eng verflochten, so dass ein Zusammenhang zwischen ihnen besteht.

Einen gravierenden Einschnitt bedeutete für die deutschsprachigen Minderheitengruppen in diesen Ländern – ähnlich der Situation in den USA und in den osteuropäischen Ländern –, dass infolge des Zweiten Weltkrieges das Prestige des Deutschen rapide schwand und die Minderheitenangehörigen – entsprechend ihrer Möglichkeiten in den Siedlungsgebieten, zum Beispiel rurale Abgeschiedenheit oder urbane Umgebung – zur Mehrheitssprache wechselten. Nach 1945 fanden viele Einwanderer aus Europa in den Hauptansiedlungsländern Argentinien, Brasilien, Chile, Paraguay eine neue Heimat in sozial differenzierten Einwanderungsgruppen: Es gab zum Beispiel eine Elitewanderung in die Städte nach Chile, in Brasilien überwog die Siedlungswanderung und in Argentinien die Arbeitswanderung. Die deutschstämmigen Bevölkerungsgruppen in fast allen Ländern Lateinamerikas sind heute schon bilingual und sprachlich assimiliert, Deutsch wird als Zweit- oder Fremdsprache institutionell überall mit Unterstützung der Bundesrepublik, der Goethe-Institute, des Auswärtigen Amtes, des DAAD, der Zentralstelle für Auslandsschulwesen spracherhaltend und sprachfördernd in Projekten angeboten.

Argentinien ist nach Brasilien das Land mit der größten Anzahl von Deutschsprachigen (Buenos Aires, Entre Rios). 1877/78 sind Wolga- und Schwarzmeerdeutsche nach Argentinien ausgewandert, die ihre wolgadeutschen Varietäten lange Zeit behielten. Heute noch wird in nicht-öffentlichen Sprachdomänen häufig eine dialektale Varietät gesprochen, die sich zu einer spezifischen argentiniendeutschen Varietät mit zahlreichen spanischen und russischen Entlehnungen entwickelt hat und als Trägerin einer einzigartigen ethnisch-kulturellen Identität fungiert (deutsch-argentinisch-russisch). Deutsch und seine Sprecher genießen in der Region ein hohes Prestige. Ein gut ausgebautes deutschsprachiges Schulnetz (Auslandsschulen, PASCH-Schulen), Lehrerbildungs- und Berufsausbildungszentren, Deutschstudium an 42 Hochschulen, intensive Austauschbeziehungen mit Deutschland, hervorragende DAAD-Aktivitäten stützen dieses Prestige und zeugen von den Bemühungen, Deutsch als Minderheiten- und Fremdsprache zu erhalten. In Chile leben etwa 20.000 Deutschsprachige. Mitte des 19. Jahrhunderts begann die Ansiedlung mit deutschen Einwanderern im völlig unerschlossenen Süden des Landes, aus dem die deutschen Siedler wirtschaftlich wie kulturell blühende »Musterkolonien« geschaffen haben, in denen sie ihre sprachliche wie kulturelle Eigenständigkeit aufrechterhalten konnten. Mit dem Anschluss des Südens an das Verkehrsnetz erfolgte ein Prozess der Assimilation der deutschsprachigen Bevölkerung, doch der soziale und ökonomische Status des Deutschen sowie das Prestige der Sprache ist noch sehr hoch, obwohl die Sprache im aktiven Vereinsleben und in den Kirchen (in den katholischen früher, in den evangelischen später) allmählich aufs Spanische übergeht.

In Paraguay sind ca. 1,8 Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschstämmige, von denen ein Großteil die Mennoniten sind, die aus Kanada, Russland und weitere Gruppen bis in die ­1980er-Jahre aus den USA, Mexiko und Belize nach Paraguay eingewandert sind. Sie gehören den so genannten fortschrittlichen Mennoniten an, die das Gebiet des Chaco zu einer wirtschaftlichen und kulturellen Prosperität führten. Ihre Alltagssprache ist noch die ostniederdeutsche Varietät bzw. die Molotschna-Varietät, doch auch das Hochdeutsche wird häufig im familiären Kontext verwendet. Die Rolle des Spanischen und Portugiesischen ist klar begrenzt. Die deutschen Varietäten dieser Länder werden heute noch intensiv erforscht und beschrieben.

Brasilien ist mehrsprachig mit 247 indigenen Sprachen, gesprochen von 305 Ethnien, und etwa 56 Einwanderersprachen und -varietäten von zehn verschiedenen Gruppen: Deutsch, Italienisch, Japanisch, Chinesisch, slawische Sprachen, Jiddisch, Hebräisch, Romanes, Spanisch, Kreolsprachen sowie Sprachen der Nachbarländer. Die Varietätenkonstellation des Deutschen ist komplex, die Differenzierung zwischen Land- und Stadtbewohnern ist groß; so konnten Sprechergruppen in ländlich-abgeschiedenen Siedlerkolonien dem Assimilationsprozess über sechs Generationen hinweg Widerstand leisten. Die Stigmatisierung und die Zäsur im Sprachgebrauch infolge des Zweiten Weltkrieges beeinträchtigten die Vitalität der deutschen Varietäten. Als dominante Varietät des Deutschen gilt das Hunsrückische, die intralingualen Ausgleichsprozesse (koexistierende Formen, Mischprozesse, dialektaler Ausgleich) laufen parallel mit den interlingualen Kontakten mit dem Portugiesischen, wobei ein deutlicher Rückgang der Deutschkompetenz und des -gebrauchs bei den jüngeren Generationen nicht zu übersehen ist.

Nach Australien (Claudia Riehl) sind Deutsche Ende des ­19. Jahrhunderts und Neuzuwanderer nach den zwei Weltkriegen gelangt, die vor allem im südaustralischen Barossa-Tal und in den östlichen Gebieten Australiens siedelten. Ein Teil der Deutschstämmigen lutherischer Konfession konnte Deutsch als Reliktvarietät durch die Religion relativ lange halten – so wurde die Konfession ein wichtiger Faktor des Identitätserhalts und der Zugehörigkeit zur Religions- und Sprachgemeinschaft, aber auch das durch die Kirche initiierte bilinguale Schulwesen bis zum Zweiten Weltkrieg garantierte solide sprachlich-kulturelle Grundlagen für einige Generationen. Ende der 1940er-Jahre kamen massenweise neue Zuwanderer, die als neuer Anschub des Spracherhalts galten. In der Gegenwart verlor das Deutsche weitgehend sein Kommunikationspotenzial in den Familien und in der Gemeinschaft, das Englische als wichtigste Alltags- und Kontaktsprache machte sich nicht nur im Wortschatz, sondern auch im morphologischen Bereich in Spracherosionsprozessen bemerkbar. Heute spricht man von einer Reliktvarietät. Deutschstämmige organisieren sich noch in der Barossa German Language Association und versuchen, ihre Sprache und Kultur zu pflegen.

Die hier angeführten Beispiele deutscher Sprachminderheiten, ihrer Varietäten des Deutschen, ihres Sprachgebrauchs zeigen viele Gemeinsamkeiten mit anderen deutschen Minderheitengruppen in Europa. Auf diese Weise bekommen wir einen Einblick in den Sprachwandel und die Entwicklungstendenzen der Sprachgeschichte des Deutschen außerhalb des geschlossenen Sprachgebietes.

Das Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Übersee ist nicht nur eine spannende Lektüre, es gewährt uns einen tieferen Einblick vor allem in die sprachliche, aber auch historische und kulturelle Entwicklung dieser Sprachminderheiten, wodurch wir gleichzeitig Zeugen einer Zeit- und vor allem Kulturgeschichte von Generationen und deren Nachkommen werden, die einst – aus welchen Gründen auch immer – das deutsche Sprachgebiet verlassen und sich in anderen Gebieten der Welt niedergelassen haben. Das Handbuch ist als Lektüre für Fachleute und Forscher, aber auch für Studierende und Interessenten schon aus dem Grunde ein solides Nachschlagewerk mit vielen Übersichtstabellen und Karten, weil zu diesen deutschen Minderheitengebieten auf den einzelnen Kontinenten nur spärliche Nachschlagewerke und Fachliteratur zur Verfügung stehen.

[1] Robert Hinderling, Ludwig Eichinger (Hgg.): Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten. Tübingen ­1996.

[2] Ludwig Eichinger, Albert Plewnia, Claudia Maria Riehl (Hgg.): Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Mittel- und Osteuropa. Tübingen 2008.

[3] Vorliegendes Handbuch.

[4] Peter Maitz: Unserdeutsch: Rabaul Creole German. Eine vergessene koloniale Varietät des Deutschen im melanesischen Pazifik. In: Alexandra Lenz (Hg.): German Abroad. Perspektiven der Variationslinguistik, Sprachkontakt- und Mehrsprachigkeitsforschung. Wien 2016, S. 211–240.

[5] Hans Boas u. a.: Texas German Dialect Project, <http://www.tgdp.org>, ­13.11.2019­‹.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2019), Jg. 14 (68), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 125–131.

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