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Tibor Várady: Weltgeschichte und Alltag im Banat | Rezension

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Tibor Várady: Weltgeschichte und Alltag im Banat. Fälle aus einem Anwaltsarchiv von der Monarchie bis zum Kommunismus. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag 2016. 280 S.

Von Loránd Mádly

Am Schnittpunkt zwischen einem der Zentren des multikulturellen Banats – Großbetschkerek, heute Zrenjanin (rum. Becicherecul Mare, ung. Nagybecskerek) – und der rasanten und wechselvollen Geschichte Südosteuropas findet sich die Geschichte der Anwaltsfamilie Várady, deren Agieren im Mittelpunkt des vorliegenden Buches steht.

Das Banat, eines der interessantesten Gebiete der einstigen Donaumonarchie, auf dem das Zusammenwirken von Ethnien, Konfessionen und gesellschaftlichen Gruppen im Sinne des Gleichheitspostulats der Aufklärung und des aufgeklärten Absolutismus infolge der verschiedenen Siedlungsvorhaben und Reformen Wirklichkeit geworden ist, ist eben der Ort, an dem sich die vorhandenen mannigfaltigen Facetten des Alltags und das Einwirken der Großereignisse am besten widerspiegeln. Der Erste und der Zweite Weltkrieg mit ihren Folgen, manche davon unverständlich für die meisten Banater, deren gewohnte Lebensweise stark beeinträchtigt wurde, haben die sozialen Strukturen dieses einzigartigen Gefüges zerrüttet, Individuen und Gruppen – ethnische und soziale – gegeneinander ausgespielt, und letztlich wurden einige von ihnen vertrieben. Die Aufteilung des Banats zwischen alles andere als friedlich und freundschaftlich sich gegenüberstehenden Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg, die Ereignisse der zwei Weltkriege, gekennzeichnet von Hunger, Hass und Tod, bis hin zum Kommunismus, wieder gelebt in verschiedenen Schattierungen je nach dem Nationalstaat, in dem sich Teile des Banats befanden, haben immer wieder wechselnde Beziehungen zwischen Personen, Gruppen und diesen und den jeweiligen Behörden herbeigeführt; stets aber stellten sich Personen und Gruppen in die Dienste der wechselnden Behördenstrukturen (der deutschen Besatzung, des sozialistischen Staats), was die Antagonismen noch weiter zuspitzte. Es entstanden Gegensätze, die häufig zu Rechtsstreitigkeiten führten und das Einschalten einer Anwaltskanzlei erforderten, um die jeweiligen Rechte gegenüber anderen Personen oder der Behördenwillkür geltend zu machen.

Nach dem Ersten Weltkrieg veränderten sich, wie fast überall auf den Gebieten der ehemaligen Doppelmonarchie, die Rahmenbedingungen radikal. Auch in Großbetschkerek, wo ­1910 die ungarischsprachige Bevölkerung leicht die Zahl der Serben übertraf, waren die Folgen der neuen »Nationalitätenpolitik« zu spüren, deren Züge den Banatern manchmal wie ein absurdes Theater vorkamen. Auf den Gebieten des ehemaligen Banats, die Rumänien und dem neu gegründeten Reich der Serben, Kroaten und Slowenen zugekommen waren, wurden nun aufgrund der neuen Regelungen (Numerus clausus, Sprachkenntnisse) viele der ehemaligen Beamten ihrer Posten enthoben und Maßnahmen auch gegen andere soziale Gruppierungen getroffen; diese Maßnahmen und deren Druck waren aber im neu gegründeten jugoslawischen Staat nicht so stark wie vorher im ungarischen Teil der Monarchie. Radikale Eingriffe in diesem Sinne fanden hauptsächlich während und nach dem Zweiten Weltkrieg statt, inmitten der gewaltigsten Umbrüche, gekennzeichnet durch Genozid, Kampfhandlungen und Vertreibungen. Hier werden hauptsächlich die Zustände im Nachkriegsjugoslawien dokumentiert; zum Beispiel aus der Perspektive der Vermögensaufteilungen und Enteignungen (S. 178), der Welle der mehr oder weniger fingierten Scheidungen zwecks Bewahrung von Rechten und Teilen des Vermögens. In einem solchen Raum, wo bereits seit Langem eine gewisse Interkulturalität herrschte und die von der jeweiligen Staatsmacht geforderte »ethnische Zugehörigkeit « nicht eindeutig war, setzten die Bewohner sowohl während der deutschen Besatzung als auch im Kommunismus nach dem Krieg viele Mechanismen in Gang, um ein ethnisch motiviertes Auseinanderreißen der Gesellschaft und wirtschaftliche Benachteiligungen wie die Enteignung zu verhindern. So werden hier viele Maßnahmen des sich etablierenden Nationalstaates, aber auch des »Kommunismus« als Vorgang dokumentiert (z. B. S. 129).

Die Anwaltskanzlei selbst  – der rote Faden und die agierende Kraft dieser Geschichte durch drei Generationen von Anwälten  – bildete einen einzigartigen Mittelpunkt gesellschaftlicher Interaktion. Selbst am Schnittpunkt zwischen sozialen Kategorien, Ethnien und Konfessionen und staatlichen Rechtssystemen gelegen, agierten die Anwälte als Vermittler zwischen diesen und waren in ein Kooperationsnetzwerk eingebunden, das auch Berufsgenossen aus anderen Regionen oder Staaten – jenseits der ethnischen Zugehörigkeit – umfasste. Hier sehen wir dieses Agieren, den Einfluss des Anwalts, der bis zur ministeriellen Ebene reichte und zugunsten der eigenen Gemeinde, der Mandanten oder für die Rechte der ungarischen Minderheit eingesetzt wurde. Hier sehen wir auch das heute meist weniger verständliche Bedürfnis der Menschen der Neuzeit, »ihren« Anwalt (aus ethnischem Blickpunkt oder als persönliche oder Familienbekanntschaft) zu haben, vor allem, wenn ein Anwalt häufig die letzte Chance seines Mandanten darstellte, der sich, wie in den Fällen unserer Geschichte, mit der Gefahr einer Enteignung und Entrechtung konfrontiert sah oder sich sogar in einem Lager befand, eine Situation, die in die physische Vernichtung des Individuums oder von ganzen Familien und gesellschaftlichen Gruppen münden konnte.

Da viele der Protagonisten mehr oder weniger enge Freunde der Familie waren, wird auch ein Licht auf die Mechanismen der multikulturellen Gesellschaft und der Eliten aus Großbetschkerek geworfen, auf die Interaktionen und die Kommunikation. Immer wieder wird auf die durch die Tagebücher der Vorfahren dokumentierten Geburtstagsfeiern hingewiesen. Diese vertraten immer mehrere soziale und ethnische Umfelder und stellten die gesellschaftliche Funktion des Anwalts in den Mittelpunkt. Der Anwalt nahm in diesem Umfeld Hinweise entgegen und übte auch einen gewissen Einfluss aus, arbeitete in vielen Fällen unentgeltlich und wickelte sogar kleinere Tauschgeschäfte im Kontext der starren, einander feindlich gesinnten oder sich sogar bekriegenden Nationalstaaten ab: das Senden von Lebensmittelpaketen nach Israel als Gegenwert eines aufgelösten Vermögens, das Begleichen von Zahnarztrechnungen gegen Dienstleistungen der Anwaltskanzlei, alles natürlich ethnienübergreifend. Die Anwälte der Familie Várady vertraten in diesen Zeiten bis zum Ende des Sozialismus freilich nicht nur ethnische Ungarn, sondern verstanden sich als Anwälte der Menschlichkeit in den aufeinanderfolgenden Wellen absurder historischer Wendungen und Ereignisse auch im Sinne der Auffassung der »alten Welt« der Habsburgermonarchie, die sie zu vertreten vermochten, der Zusammenarbeit und des Zusammenwirkens ohne Anfeindungen, Verhältnisse, die sich immer weniger in den jeweiligen Gesellschaftsordnungen wiederfinden ließen.

Die Strukturierung des vorliegenden Buches ist einfach; nach einem kurzen Vorwort von Richard Buxbaum, Emeritus der University of California, Berkeley, und einer Einleitung, beinhaltend hauptsächlich die allgemeinen Linien der Geschichte der Anwaltskanzlei Várady, folgen die eigentlichen Beschreibungen der Fälle. Der erste solche Fall, als eigenes Kapitel bearbeitet, behandelt eine Strafanzeige wegen einer ethnisch motivierten Beschimpfung mit dem Titel »Über die Relevanz der Geschichte«. Es folgen die Kapitel »Vom Rózsa zu Rózsa« (benannt nach den Namen einiger Protagonisten von Fällen wie dem Verursachen öffentlichen Ärgernisses wegen des Singens von Kaffeehausliedern, Prozessen gegen Schriftsteller und Journalisten), »Internierungen und Hausdurchsuchungen « (Fälle bedrängender Ausnahmesituationen der Kriege), »Drei Geschichten aus Betschkerek« (die Leiden der jüdischen Bevölkerung und die Versuche der Anwaltskanzlei, mit verschiedenen Mitteln zu helfen), »Banater ungarische Geschichten« (Fälle aus dem kulturellen Leben der Ungarn und kriegs- oder politisch bedingte Reibungen), »Wer ist Ungar« (Fälle im Kontext der Rechtsstellung der Ungarn und der Linien, die diese Gruppen trennen), »Wer ist nicht Deutscher« (wieder Fälle aus dem schwierigen Umfeld der forcierten Trennung oder Erfindung von Trennlinien in einer multikulturellen Gesellschaft), »Entlassung aus der Staatsbürgerschaft und aus der Vergangenheit« (Fälle um die Abgabe der Staatsbürgerschaft, meistens seitens Angehöriger der deutschen Minderheit nach dem Zweiten Weltkrieg) und »Ehescheidungen, Beinahe- Scheidungen und Schein-Scheidungen« (familienrechtliche Auswege, meistens in Fällen von »Mischehen« unter den schwierigen Bedingungen der Benachteiligung eines der Ehepartner).

Den Schluss bildet ein Nachwort (»Das Banat – Kolonistenregion und Vielvölkerlandschaft«) von Srđan Šarkić und Thomas Simon – eine kurze und bündige Beschreibung der Geschichte des Banats aus der Perspektive der Siedlungsgeschichte und der Bevölkerungsdynamik sowie der mit diesen verbundenen Aspekte wie Assimilation oder Sprachpolitik. Bereits am Anfang werden die Umbrüche mit der Änderung des Stadtnamens von Großbetschkerek über Petrograd bis Zrenjanin geschildert und der Anfang der Spannungen zwischen den vielen hier lebenden Ethnien, aber auch der politisch motivierten Aufteilung des Banats, zurückgeführt auf die Ereignisse der Revolution ­1848–1849.

Das vorliegende Buch gründet sich auf das Archiv der Anwaltskanzlei, welches im Laufe der Zeit in der Familienresidenz aufbewahrt wurde. Der Autor, selbst Jurist, kannte einige der Fälle und einige Personen aus seiner Kindheit und arbeitete später, wie seine Vorfahren, als Rechtsanwalt. Die Tätigkeit des Autors und seines Großvaters, des Gründers der Anwaltskanzlei, verlief aber nicht ausschließlich im Sinne des Schutzes ihrer Mandanten vor der Willkür der Staatsgewalt, sie waren auch im Bereich der Politik tätig; Imre Várady, aktiv für die Unabhängigkeitspartei in den Jahren der Doppelmonarchie, hatte eine wichtige Rolle in der Gründung der später verbotenen Ungarischen Partei gespielt und wurde ­1939 einziger Vertreter der ungarischen Minderheit im Senat. Tibor Várady war ­1992 für kurze Zeit Justizminister, übersiedelte in die Vereinigten Staaten, kehrte dann nach Europa zurück, wo er auch an der Central European University (CEU) in Budapest lehrte. Als international anerkannter Anwalt vertrat er Jugoslawien und später Serbien vor dem Internationalen Gerichtshof gegen die Klagen der Nachfolge- und Nato-Staaten, auch in den Prozessen um den Krieg in Jugoslawien, wobei er für die Interessen Serbiens eintrat. Die langwierige Aufarbeitung des Archivs der Anwaltskanzlei beinhaltete auch die Bemühungen, Kontakt zu den Protagonisten der geschilderten Fälle aufzunehmen, von denen viele Erinnerungen und wichtige Details eingebracht wurden; außerdem war es wichtig, aus Gründen des Schutzes der Personenrechte das Einverständnis der Nachfahren einzuholen; so wurden einige Fälle mangels Kontakt oder Einverständnis nicht in den Band aufgenommen.

Das Buch, erschienen in deutscher Fassung nach der ungarischen (2013) und serbischen (2015) Ausgabe, lässt sich einfach und flüssig lesen; die Fälle sind sowohl inhaltlich als auch in der Schilderung spannend, packen den Leser und bringen neues Detailwissen über einige der weniger bekannten Facetten einer so speziellen Region in den beschriebenen Umbruchzeiten.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2019), Jg. 14 (68), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 131–134.

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