Serhii Plokhy. Die Frontlinie. Warum die Ukraine zum Schauplatz eines neuen Ost-West-Konflikts wurde. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer u. a. Hamburg: Rowohlt 2022. 544 S.
Kurz nach der »Revolution der Würde« auf dem Kiewer (ukr. Київ) Maidan erschien 2015 in New York das bisher wohl bekannteste Buch Serhii Plokhys – The Gates of Europe. Am Vorabend des großangelegten Angriffs Russlands auf die Ukraine legte der jetzige Leiter des Harvard Ukrainian Research Institute dann den zu besprechenden Band vor, in dem er der Frage nachgeht, wie das einstige Tor Europas zur Frontlinie wurde. Mit Blick auf den Putinschen Umgang mit geschichtlichen Fragen soll das Buch Antworten zu »Geschichte, Kultur, Identität und vor allem [zu den] langen, stürmischen und häufig tragischen Beziehungen [der Ukraine] zu Russland« liefern. (S. 13) Der Band besteht aus einer Einführung und insgesamt 21 Beiträgen, die in vier Kapitel eingeteilt und mit drei Ausnahmen bereits in den 2010er-Jahren als Zeitschriftenartikel, einzelne Buchkapitel oder Rezensionen erschienen sind. Das Buch ist darüber hinaus mit Endnoten und einem Register ausgestattet.
Dass der Textsammlung eine eigens dafür verfasste, der ukrainischen Geschichtsschreibung gewidmete Einführung vorangestellt ist, zeigt, welch große Bedeutung der Autor den historiografischen Aspekten beimisst. Mit Blick auf die in Nordamerika geleistete akademische Forschung und die seit den 1960er-Jahren der Ukraine gewidmeten Diskussionen macht sich Plokhy für die Etablierung einer modernen Nationalgeschichte der Ukraine stark, die die Grenzen einer ethnonational orientierten Geschichtsschreibung überwinden soll. Der transnationale Charakter der der ukrainischen Geschichte geltenden Forschung soll aus Sicht des Autors deren Anschlussfähigkeit an neue Trends der aktuellen Geschichtsschreibung und damit ihre erfolgreiche Entwicklung ermöglichen.
Unter dem Titel »Kosakenstamm« umfasst der erste Teil des Buches vier zusammenhängende Abschnitte. Das Erscheinen der neuzeitlichen Ukraine auf der Landkarte Europas wird an dieser Stelle durch die tiefgehende Analyse einer einzigartigen, aus dem frühen 17. Jahrhundert stammenden Quelle (der sogenannten Radziwiłł-Karte) demonstriert, die unter anderem den Aufstieg der Kosaken in der polnisch-litauischen Adelsrepublik dokumentiert. Die Geschichte der Kosaken beziehungsweise des von diesen begründeten Staats (Hetmanat) wird in zwei Strängen verfolgt. Auf der einen Seite geht es um das historische Geschehen auf den ukrainischen Territorien, wobei die zwischen dem Hetmanat und dem Moskauer Zarentum (Perejaslav/Переяслав, 1654) beziehungsweise Polen-Litauen (Hadjač, 1658) geschlossenen Verträge einen zentralen Platz einnehmen. Auf der anderen Seite werden Mythen und Paradigmen thematisiert, die die russisch-ukrainischen Beziehungen über Jahrhunderte hinweg dominierten. Zu diesen gehörte zum Beispiel die »Wiedervereinigung der Ukraine mit Russland«, wie der in der Mitte des 17. Jahrhunderts erfolgte Anschluss der Kosakenukraine in der russischen und sowjetischen Historiografie interpretiert wurde. Diese von den meisten russischen Historikern bis heute geteilte Interpretation analysiert Plokhy ebenso wie die das Wiedervereinigungsparadigma ablehnende ukrainische Forschungstradition, indem er das Zustandekommen des Vertrags von Perejaslav bis zur Wende zum 17. Jahrhundert kritisch zurückverfolgt. Ein weiteres Ereignis auf dem Gebiet der Ukraine, das seit dem frühen 18. Jahrhundert maßgeblich zur Entstehung sowohl russischer als auch ukrainischer Geschichtsmythen beitrug, war die Schlacht bei Poltava (ukr. Полтава) im Jahr 1709. Die eng damit zusammenhängende Erinnerung an den Hetman Ivan Mazepa betrachtet Plokhy im Kontext der russisch-ukrainisch-europäischen Beziehungen.
Im zweiten Teil des Buches wird ein Sprung in das 20. Jahrhundert vollzogen. In den sechs Abschnitten des Kapitels »Das rote Jahrhundert« setzt sich der Autor mit der Geschichte der Revolution von 1917 und der Sowjetukraine der Zwischenkriegszeit auseinander. Eingangs verweist Plokhy auf den problematischen Charakter des Begriffs »Russische Revolution«, der zahlreiche Problematiken des multiethnischen Zarenreiches ausblende. Beim Zerfall des Russländischen Reiches sowie dem Niedergang der »großrussischen Nation« spielte die Ukraine eine Schlüsselrolle. Daher konnten sich nicht nur russische Nationalisten, sondern auch Vertreter der Provisorischen Regierung nicht mit der territorialen Autonomie der Ukraine (Juni 1917) sowie der im Januar 1918 proklamierten Unabhängigkeit des Landes abfinden. Im Gegensatz dazu sicherten die Bolschewiki mit Lenin an der Spitze der ukrainischen Bewegung ebenso wie anderen in den Randgebieten des Reiches ansässigen unterdrückten Völkern ihre Unterstützung zu. In seiner die künftige Struktur der Sowjetunion betreffenden Auseinandersetzung mit Stalin konnte Lenin die Nichteingliederung der Ukraine in die Russländische Föderation durchsetzen, was ihn nach Ansicht Plokhys »zum Vater der modernen russischen Nation« machte. (S. 145) Jedoch wurde die gegenüber den Nationalitäten verfolgte Politik mit der Zeit immer repressiver, als die neuen Machthaber der Machtsicherung endgültig den Vorrang vor ideologischen Zielen gaben. Die Stalinsche Ukraine-Politik kam 1932 zum Tragen, als er zum Angriff nicht nur gegen die Bauern und die lokale Parteiführung, sondern auch gegen die ukrainische Intelligenzija blies. Die aus dieser Politik resultierende Hungersnot unterschied sich von jener in anderen Regionen dadurch, dass sie zugleich auch ein Angriff »gegen die kulturellen Fundamente des ukrainischen nation building« war. (S. 147) Der Tragödie des Holodomor sind in dem Buch gleich zwei Abschnitte gewidmet: Nach einer lobenden Besprechung des Buches Roter Hunger: Stalins Krieg gegen die Ukraine von Anne Applebaum präsentiert Plokhy im nächsten Abschnitt erste Ergebnisse eines am Harvard Ukrainian Research Institute durchgeführten, GIS-gestützten Projekts zur Geschichte des Holodomor, die den aktuellen Kenntnisstand zu Ausmaß und regionalen Besonderheiten der Bevölkerungsverluste sowie dem zeitlichen Rahmen zweifellos erweitern und korrigieren werden.
Der nächste Teil des Buches ist dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums aus ukrainischer Perspektive sowie der postsowjetischen Zeit gewidmet. Der Zerfall des letzten Großreichs wird an dieser Stelle nicht als singuläres Ereignis, sondern als noch nicht abgeschlossener Prozess betrachtet. Der GAU von Tschernobyl (ukr. Чорнобил) gab starke Impulse für die politische Betätigung sowjetischer Bürger und brach damit das Monopol der Kommunistischen Partei. Die Katastrophe gab den Anstoß für das Aufkommen nationaler Bewegungen, wobei »der Zusammenhang zwischen Tschernobyl und dem einsetzenden politischen Aktivismus nirgends so deutlich wie in der Ukraine« war. (S. 274) Für die Versuche Russlands, die ehemaligen Sowjetrepubliken unter seine Kontrolle zu bringen, war die Ukraine wichtig. Deshalb traten die Grenzen der russisch-ukrainischen Verständigung bereits Anfang der 2000er-Jahre deutlich zu Tage, als sich die Ukraine immer mehr dem Westen zuwandte und nicht bereit war, den von der Russländischen Föderation angeführten internationalen Organisationen beizutreten. Das pluralistische politische System in Kiew und eine starke Zivilgesellschaft wurden in Moskau als Risiko für das zunehmend autoritäre Regime im Kreml empfunden. Die von Plokhy in diesem Abschnitt gelieferte ausführliche Beschreibung der Ereignisse der Jahre 2013–2014 ist insbesondere aus heutiger Sicht hilfreich, um die Vorgeschichte des russländisch-ukrainischen Konfliktes und die Gründe des russischen Angriffskrieges besser verstehen zu können.
In den letzten beiden Abschnitten des dritten Kapitels werden geschichts- und erinnerungspolitische Aspekte behandelt, die seit den 2010er-Jahren die innenpolitische Agenda in der Ukraine, aber auch die russisch-ukrainischen Beziehungen maßgeblich prägten. Seit den 1990er-Jahren fand in der Ukraine die nationalistische Alternative zur alten kommunistischen Erzählung immer weitere Verbreitung, zuerst im Westen und später auch im Zentrum des Landes. Die Konkurrenz zwischen diesen Narrativen gipfelte in den Erinnerungskriegen und führte schließlich zu einer tiefen Spaltung der ukrainischen Erinnerungskultur entlang der Linie Stalin–Bandera. Doch das Fazit des Autors, der nach der Maidan-Revolution – allen regionalen Unterschieden zum Trotz – die Bildung eines gemeinsamen Erinnerungsraums zu beobachten glaubt, klingt optimistisch. Diese Beobachtungen werden vom Verfasser überzeugend mit der Haltung zum Abbau der Lenin-Denkmäler, aber auch den Holodomor oder die Rolle der OUN/UPA betreffenden statistischen Daten belegt.
Die Analyse der zwischen Politik und Erinnerungskultur in postkommunistischen Gesellschaften bestehenden Wechselbeziehungen bietet einen nahtlosen Übergang zum letzten Teil des Buches »Europäische Horizonte«, in dem sich der Autor, aufbauend auf den vorhergehenden Abschnitten, mit der so genannten russischen Frage auseinandersetzt – mit einem »Komplex von Problemen, mit denen die russische Nation während und nach dem Zerfall der Sowjetunion konfrontiert war«. Plokhy sieht Russland als ein Land, das sich in einer tiefen Identitätskrise befindet und seit 1991 »enorme Schwierigkeiten« hat, die eigene Identität mit den international anerkannten Grenzen in Einklang zu bringen. (S. 397) Der historische Überblick über die panrussische Idee vom Moskauer Großfürstentum bis hin zu Aleksandr Solženicyn macht deutlich, wie tief die Wurzeln dieser Selbstwahrnehmung im heutigen Russland sind und wie weit der Weg zu einer modernen russischen Identität noch sein kann. Darüber hinaus hilft dieser Überblick, die Entwicklung der europäischen Idee in der Ukraine seit dem 18. Jahrhundert in ihrer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Dimension zu verstehen, die im folgenden Essay systematisch dargelegt wird.
Die Textsammlung stellt das Zwischenergebnis der Arbeit eines renommierten amerikanischen Historikers dar, der es sich nicht zuletzt zur Aufgabe gemacht hat, einem westlichen – vornehmlich englischsprachigen – Publikum die Geschichte und Gegenwart der Ukraine zu erklären. Auf Grundlage seiner eine beeindruckende thematische und chronologische Breite und analytische Tiefe aufweisenden eigenen Forschungen gelingt es dem Autor, diese Aufgabe zu bewältigen.
Plokhy, der für eine transnationale ukrainische Geschichtsschreibung plädiert, demonstriert anhand seiner eigenen Forschung überzeugend die Vorteile eines solchen Ansatzes. Seine Beobachtungen sowohl zum Leben einfacher Menschen in der Ukraine als auch zu geopolitischen Veränderungen im 20. Jahrhundert sind immer in einen breiten Kontext eingebettet, wobei die Schlussfolgerungen, die von ihm noch am Vorabend der großangelegten russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 gezogen wurden, meistens Bestätigung finden.
Dmytro Myeshkov
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 134-137.