Mit der Dschanga durch Länder und Zeiten
Sigrid Katharina Eismann: Dschangakinder (Lyrik-Reihe edition textfluss). Mit einem Nachwort von Lilia Antipow. Ulm: danube books Verlag 2022. 171 S.
Von Henrike Brădiceanu-Persem
Ein rotes Buch, dessen Titel vielen Lesern ungewohnt erscheinen mag – Dschangakinder. Es klingt verspielt, man weiß nicht genau, was es bedeutet. Abgebildet ist eine Straßenbahn – die Dschanga, wie sie in Sigrid Katharina Eismanns Kindheit genannt wurde, – auf der „Freidorf“ steht, ein verstecktes Liebesbekenntnis, das denjenigen auffällt, die wissen, dass die Autorin in diesem Viertel in Temeswar/Rumänien (rum. Timişoara) geboren wurde. Anders als bei der Straßenbahn ist Freidorf nicht das Ziel, sondern das Sprungbrett, das Eismann nach Deutschland katapultiert, nach Offenbach am Main, in eine Stadt, der sie ohne Hehl ihre Zuneigung gesteht.
Es geht in diesem Band aber nicht um die Orte an sich, sondern vielmehr um das, was die Autorin damit verbindet, und vor allem um die Atmosphäre und die daraus entstehenden Bilder. Die Gedichte beziehen sich teils auf Schicksale „fantastischer Frauen“, wie auch das erste Kapitel heißt, wobei die Autorin deren Kraft und Zerbrechlichkeit gleichermaßen hervorhebt: „Strass und Applaus, […], Narbenkleid, […] im Ausschnitt ein untrennbares Paar: / Atem und Angst […] Ein Haus aus Pailletten und Scherben“ (Im Ausschnitt ein Glas, S. 11), teils geht es um prägende Momentaufnahmen, sei es Temeswar, Rom, Reschitza, Budapest, Helsinki oder Belgrad. Hauptstädte wie auch Vororte oder Stadtviertel haben Geschichten, die die Autorin verschlüsselt erzählt. Während sie sich in vergangene Welten und Zeiten versetzt, kann sich der Leser sein eigenes Universum in den Strophen ausmalen, die die Regeln der Lyrik sprengen, in reimlosen Versen manchmal unvollständig oder vieldeutig wirken und die Gelegenheit bieten, selbst mitzudichten.
Die Grenze, das Überschreiten der Grenze, sei diese physisch oder metaphorisch, ist ein wichtiges Thema für Eismann, die nicht konform sein will und aufgedrängte Ordnung zurückweist. In der Heimat schwingt sowohl Nostalgie als auch Kritik mit, denn nicht das, woran man gerne zurückdenkt, hat einen zum Auswandern veranlasst. So ist das Gedicht Phönix – in die Freiheit, verschachtelt (S. 114) sowohl eine lyrische Schilderung der Flucht vor dem Kommunismus (Bemerkung unterhalb des Titels: „1977 floh die rumänische Band Phönix in Marshall-Lautsprecherboxen in den Westen“, S. 114) als auch ein Tribut an die symbolträchtige Temeswarer Rockband Phoenix, die mutige Musik gespielt und den Fans Hoffnung vermittelt hat.
Eismann lehnt sich gegen Diktatur und patriarchale Modelle auf, indem sie Frauen aus der Kunstszene in den Fokus rückt, deren Werdegang, Schaffen oder Haltung für ganze Generationen prägend waren oder sind. Aber genauso präsent sind die Frauen des Alltags, die Fratschelweiber, die Omas, die durch ihr Wirken in der Welt der Autorin, die – wie die Donau – eine Grenzgängerin ist, Geschichte(n) schreiben, die mit „Scharlachbacken“ und „von sieben Unterröcken gestärkt“ stolz ihre „Kopfskulptur“ tragen. (Trachtenspektakel, S. 23) In „der alten Heimat“ stellen sie die heile Welt dar, sie haben die Deportationen überstanden und bereiten „plissiert“, in ihrem typischen „Gwand“ den Kindern „Krempita“ und „Paradeis“ im Stadtviertel Fratelia vor, wobei ihr „Jahrhundert Erzählsamt / […] nicht aus der Mode [geht]“. (Dein Samtkleid, S. 24) Im Ausland angekommen, sind sie zwischen Westen und Osten hin- und hergerissen und erscheinen als Zeugen der Diktatur-Oppression, die trotz des Wunsches, sich in das neue Umfeld zu integrieren, tief in ihrer alten Heimat verwurzelt bleiben.
Weil sich Sigrid Katharina Eismann aber nicht darauf beschränkt, aus der kommunistischen Heimat, die sie in der Jugend verlassen hat, zu schöpfen, verbindet sie die Dschanga mit Szenen der Underground-Kultur, mit Punk-Rock-Ikonen wie Iggy Pop oder Pussy Riot, die im starken Kontrast zu dem „Verhör der Metaphern“ stehen, in dem das „Quittenlächeln“ vergeht, wenn es heißt: „[…] entträumt / Haus und davon[…]“. (Im Verhör der Metaphern, S. 28)
Die dargestellte Welt der Vergangenheit hat immer etwas mit dem Dörflichen, mit den Erlebnissen aus den Stadtvierteln Temeswars und den hier lebenden alten Tanten wie auch den Dschangakindern zu tun. Es ist nichts Verbittertes zu erkennen, es geht um genaue Beobachtung und Verarbeitung, die in die Aktualität der Autorin übergreift. Diese besteht aus Momentaufnahmen von Reisen, Ausstellungen, Veranstaltungen oder Geschehnissen des Alltags, die jeweils versteckte Facetten aufweisen und in der Gemeinschaft der Sinnesgleichen neue Dimensionen gewinnen – die Städte werden zu Gestalten, die die Verse begleiten. (Römische Haikus, S. 32; Unaufgeregter, Rom, S. 37)
Die erlebte Geschichte bezieht sich nicht nur auf die deutsche Gemeinschaft im Rumänien vor der Wende, sondern beschreibt verkappt auch Bräuche, Eigentümlichkeiten, Feste und Feierlichkeiten der hier lebenden Minderheiten oder der Mehrheitsbevölkerung. (Im Tubatrubel, S. 35) Der Bezug zu Rumänien ist fortwährend gegenwärtig, das Kulturleben im Banat ist Eismann nicht fremd, sie schreibt Texte, die an das Jazzfestival in Wolfsberg (rum. Gărâna) oder an die Literaturtage in Reschitza (rum. Reşiţa) angelehnt sind, lenkt dann aber das Augenmerk genauso gelassen auf die Kulturszene in Offenbach, wo im Text Vom Rapper & Klein Al Pacino (Kapitel Fünf Minuten Offenbach, S. 42) die Kinder auf so viele Weisen die Show stehlen.
Veranstaltungen und Ereignisse werden verdichtet und durch die Filter der Autorin dargestellt, sodass man das Gelesene manchmal erst abschminken muss, um den Ausgangspunkt der Gedankengänge zu erkennen. Doch dieser ist auch nicht ausschlaggebend, die Texte sind im steten Wandel. Wenn man nicht gewisse Kenntnisse aus der Vergangenheit oder aus dem Umfeld von Sigrid Katharina Eismann hat, kann es vorkommen, dass man beim ersten Lesen stutzig wird und erst alle Wörter und Wendungen (teilweise mit rumänischer Färbung) hinterfragt. Dann versteht man aber, dass die Aufgabe der Gedichte nicht darin besteht, der Leserschaft etwas zu erklären, sondern Atmosphäre und Eindrücke zu vermitteln, die sie zu einer eigenen Fantasiewelt verleiten sollen. Um jedoch den Kontext zu schaffen, gibt es einige Untertitel oder Anmerkungen, gewisse Ausdrücke sind übersetzt oder erläutert. Dadurch geht aber nichts von der Authentizität verloren. Man gewinnt eher Einblicke in eine Welt, in der idyllische Erinnerungen mit aktuellen Szenen harmonisch verflochten sind, das eine hätte ohne das andere nicht dieselbe Kraft.
Nicht wegzudenken sind aus den erzählten Geschichten die Nachbarländer, das ehemalige Jugoslawien oder Ungarn, die für die Banater im kommunistischen Rumänien als eine Art exotisches Freiheitsparadies erschienen. Andere Länder, denen die Autorin in diesem Band Aufmerksamkeit schenkt, wie zum Beispiel Georgien, Finnland, Italien, haben diese Prägung nicht, sondern zeugen von einer anderen Welt, die nichts mit der kommunistischen Periode zu tun hat, und dienen als Muse für eine Art lyrischen Reisebericht. (Ilkbahar im Kapitel Wortmund, S. 58) Auffällig ist dabei die Freude am Spiel mit der Sprache, an der Schöpfung neuer Wortverbindungen: „rückwärts Reisende oleandern / durch den September“. (Unaufgeregter, Rom, S. 37) Ein guter Beweis dafür ist auch die letzte Strophe des Gedichtes Karawansereise (S. 52): „mir tropft die Lyrik aus der Bluse / die Geografie meiner Zunge ist heimatlos / Caramba, mit poezia in die Dschanga, / im Balkan, Straßenbahn, hier fremdes Wort / im Gepäck ein Apfel, aufgestaute Granate / aus dem offenherzigen Offenbach“.
Der Mainbogen (Titel eines Kapitels) schlägt einen Bogen durch Kunstveranstaltungen, jüdische Friedhöfe, Landschaften und „Freilufttheater“ und ist eine Überleitung zur nächsten Haltestelle in der Fahrt mit der Dschanga: Grenzwert überschritten (ein weiteres Kapitel). Wie bereits angedeutet, wird das Thema Überwindung häufig im Band behandelt. In diesem Teil des Buches jedoch sind die Grenzen mit Corona-Themen verbunden: Impfung, (mangelnder) Mundschutz, Handschuhe und die Freude, all dies überstanden zu haben: „in den Schlosspark ohne Maske / fühlte mich wie ein König“. (Vogelfrei ins Hemmed gestiegen, S. 87) Weiterhin bringt uns das Klangscherbett (das nächste Kapitel) in die balkanische Szene des Auslands, von wo die Gedichte Drachen Orkestra (S. 90) und Balkangepolter (S. 92) eine Brücke in den Osten schlagen. Weitere Ost-West-Verbindungen entstehen dadurch, dass die Autorin die Exil-PEN-Veranstaltungen oder die Lesungen in Reschitza erwähnt – Vom nit verhätscheln Reschitz (S. 95), in dem liebevoll-lustig der Dialekt der Berglanddeutschen nachgeahmt und ein Einblick in die Tagung gewährt wird. Und somit wird auch mit Cam așa (S. 98) der Bogen aus Deutschland nach Rumänien gespannt.
Das Bindeglied zwischen vielen Ländern, die in diesem Band erwähnt werden, stellt die Donau dar, die das Kapitel Donau – die Nomadenbraut prägt. Die Autorin lässt sich die Gelegenheit nicht entgehen, die Donaureise in Verse zu fassen, indem sie Hauptmerkmale der Gegenden andeutet, von der „Nibelungensage“ über Wien bis hin zum „Bruderkuss“, „Paprikazauber“ „Deltagezwitscher“ „hinterm Vorhang aus Tempelsand und Licht“. (Donau, die Nomadenbraut, S. 103) Dieser Strom bringt uns im Kapitel Grenzgängerin erneut in die alte Heimat, aus der die Autorin offensichtlich „nie abgereist [ist] / ein Bündel Schlüssel im Tresor“. (Baustelle Heimat, S. 110) Man findet auch eine Anlehnung an Eismanns vorangehenden Roman, denn „ein Paprikaraumschiff landete / auf dem schiefsten Haus / mit den Ulmer Spatzen in den Balkan“ (Donaukilometer im Wortwechsel, S. 111), woraus erneut die nie verlorene Verwurzelung ersichtlich ist.
Wie die Donau ist auch die Dschanga das Transportmittel durch die alte und die neue Heimat, durch fremde Länder, gemischte Klangfarben. Sie begleitet die Grenzgängerin Auf dem geflickten Hosenboden der Donauschwäbischen Autobahn (ein weiteres Kapitel) vom Verlassenen Dorf (S. 120), in dem „[es] kätzchenwarm schnurrt im Gemäuer / aus Abfall und Verfall“, zum Eckhaus, in dem noch das Echo der Ausgewanderten zu vernehmen ist: „ein Blondschopf am Tor / sein Dialekt fast ausradiert / so riefen die Alten nach uns Kindern“ (Grenzgängerin, S. 121), und wo Hinter der Fliegentür (S. 122) das glückliche Beisammensein mit der Familie wartet. Das idealisierte Banat wird entblößt, „keine Sonntagsmesse / kein Messdiener im verlotterten Kleid / kein Paprikasch“ (Gold und Staub und Durst, S. 123), was man beim Auswandern zu Hause gelassen hat, findet sich nun „im Dunstglas / in der Tracht / aus dem Dachverband / der uns zusammenhält“ wieder. (Banater Heidi, S. 125) Weiter geht es mit anhaltenden Eindrücken, die diese Donauschwäbische Autobahn geprägt hat. Wenn die Paprika mit dem Mook (S. 126) in Erinnerung gerufen werden und die Schulmädchen wie damals in die Dschanga einsteigen, „die Pionierkrawatte aus Polyester / umgebunden“ (S. 126), und man sich im „leeren Wartesaal der Banater Heide“ (Auf der Durchreise nach Hopsenitz, S. 128) wiederfindet, In der Stube für Angereiste (S. 129) sitzt und sich an die Klassenzimmer, die Lehrer, an alles „geschichtet wie Doboschtorte“ (S. 129) erinnert, dann tritt der Banatblues (S. 130) ein, man wird in die alte Welt versetzt, in der „die Otas beim Pawlierer“ diskutierten, während man sich zu Hause noch mit Brunnenwasser wusch.
Zum Schluss kommen die Dschangakinder in einem neuen Kapitel zu Wort, in dem Menschen in der Straßenbahn kunterbunt zusammengewürfelt sind, von Fratschlerinnen zu Studenten bis hin zu „Mokkafürsten“ am Josefstädter Markt. (S. 139) Doch aus dieser Nostalgie gelangt man ruckartig in die Gegenwart, in der die Autorin 2015 im Deutschen Staatstheater Temeswar die Vorführung Niederungen besucht und als Anlass verwendet, die Stadt kritisch zu betrachten. (Donaukunstraum, S. 143) Dschanga Manga (S. 146) ist genau das, was man sich darunter vorstellen kann: ein Wirrwarr von Sprachen und fast vergessenen Temeswarer Wörtern bei einer Fahrt mit dem „Bicci“ (Fahrrad) entlang des Bega-Damms. Die Sehnsucht nach der Leichtigkeit der Kindheit in den schützenden Armen der Großmutter ist nicht zu verkennen, genauso wenig wie die Suche nach dem vertrauten Althergebrachten bei den Freidorfer Treffen. (Vorort verwortet, S. 149) Immer wieder erscheint die Verflechtung der Erfahrung aus Rumänien mit dem Alltag des Ausgewanderten: „die Häkeltaschen sind ausgewandert / mit den Emigranten / ihr Gepäck war so leicht […] / an der Haltestelle: / Sehnsucht und Flucht“. (sucht … die Wiener, S. 153f.) Die Autorin vermisst die ehemalige Kaffeekultur, die Konditoreien, verkneift sich nicht ein Temeswar ‒du bist so schön, aber (S. 156) und erinnert sich: „durch die Alleen der farblosen Diktatur / entgleiste die Dschanga im Akazienpuder“. (Im Wechselschritt, S. 152)
Damit der Leser allerdings genauer die Feinheiten des dichterischen Schaffens nachvollziehen kann, lädt die Autorin zur Fahrt in ihrer „Dschanga“ ein: „sie kommt / ein polentagelber Schlauch / rumpelt in die Innere / Dschangakinder aufspringen!“. (Dschangakinder, S. 158)
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2024), Jg. 19, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 217-221.