Zum Inhalt springen
Start » Online-Artikel » Rubriken » Feuilleton » Besprechungen » Iris Wolff: So tun, als ob es regnet | Rezension

Iris Wolff: So tun, als ob es regnet | Rezension

PDF-Download

Iris Wolff: So tun, als ob es regnet. Roman in vier Erzählungen. Salzburg: Otto Müller Verlag 2017. 166 S.

Von Jürgen Israel

So tun, als ob es regnet – so nannte Henriettes Mutter einen Zustand von Abwesenheit ihrer Tochter, wenn sie „etwas langweilte oder sehr beschäftigte, andere im Gespräch waren oder auf sie einredeten, oder wenn sie ihr etwas auftrug, das sie nicht mochte“ (S. 77f.).

Auch Henriettes Enkeltochter „Hedda war oft gleichzeitig in dem Moment, den sie erlebte, und außerhalb. Handelnd und beobachtend, zuhörend und nachdenkend. Oder sie stahl sich in Gedanken ganz davon“ (S. 146f.).

Über die Fähigkeit, zwischen sich und der unmittelbaren Gegenwart eine Distanz aufzubauen, verfügen einige Figuren in Iris Wolffs Erzählungen. Und jede der Erzählungen könnte mit dem Einleitungssatz vieler rumänischer Märchen beginnen: „Es war einmal, und ist doch nie geschehen“.

Dabei erzählt Iris Wolff weder Märchen noch Traumgeschichten, sondern höchst realistische Ereignisse, die im Ersten Weltkrieg und in der sich anbahnenden Judenverfolgung Rumäniens spielen, die von den Bedrückungen durch die Securitate handeln und vom Leben einsamer Menschen, die eine geografische Heimat suchen, gleich ob sie Rumänien in Richtung Deutschland verlassen haben oder im Land geblieben sind.

Das Ereignis dieses Buches ist sein Stil: Die Erzählerin trägt ihre Geschichten in einem leichten, behutsamen Ton vor, als wäre sie unsicher, ob alles wirklich so geschehen ist. Könnte nicht alles auch ganz anders gewesen sein, könnte nicht alles auch ganz anders erzählt werden? Den tastenden Versuchen, der Wahrheit auf die Schliche zu kommen, stellt sie harte Fakten entgegen: Der Student Jacob wird im Ersten Weltkrieg eingezogen, er erlebt die fürsorgliche, verlässliche Freundschaft eines Kameraden, hat eine kurze sexuelle Beziehung zu einer Bäuerin, bei der er einquartiert wird, und erschießt einen feindlichen Soldaten nicht, dem er allein begegnet. „Noch vor wenigen Wochen hätte er mit dem Mann, der jetzt vor ihm stand und sich in der Wahrscheinlichkeit des Todes einrichtete, Freundschaft schließen können. Dann hatte das Königreich Rumänien den Mittelmächten den Krieg erklärt, und jetzt musste er schneller sein, kaltblütiger als sein Gegenüber“ (S. 24). Der Widersinn des Krieges wird in diesen Sätzen ohne jede belehrende oder argumentierende Haltung unwiderlegbar.

Der Fremde läuft weg. Jacob selbst wird später erschossen, als er an einer Quelle „mit der Hand Wasser schöpfte“ (S. 47). Eine Szene von fast archaischer Eindringlichkeit: Das Schmelzwasser kann er nicht trinken, da der Schnee die Toten zugedeckt und das Wasser sie nun hervorgewaschen hat. Es ist zum „Totenwasser“ (S. 46) geworden. Während er das saubere Quellwasser trinkt, das Wasser des Lebens, wird er erschossen.

Jacob, der Philologie studierte, weil ihm nichts anderes eingefallen war, erkannte in den Kriegsmonaten, „dass alles, was er erlebt hatte, eine Art innerer Besitz geworden war, zu ihm gehörte, ihn verändert hatte“ (S. 19). Die Veränderung bleibt freilich eine Behauptung der Erzählerin; worin sie besteht, erfährt der Leser nicht. Aber vielleicht bieten die knapp 40 Seiten dieser Erzählung dafür nicht genügend Raum.

Diesem bedächtigen, ruhigen, fast ein wenig verspielten Text folgt eine beklemmende Erzählung, die heiter, fast lustig beginnt: In einem bäuerlich geprägten siebenbürgischen Dorf treffen sich allnächtlich diejenigen, die nicht schlafen können, die „Gesellschaft der Schlaflosen“ (S. 52). Henriette ist eine der jüngsten davon. Ausgerechnet zu ihr kommt „eine Frau mit Pagenfrisur, Perlenkette und enganliegendem, dunkelblauen Kostüm“ (S. 74) und bietet ihr einen Ring zum Tausch an. „Brot, Speck, Butter, Käse“ (S. 76) will sie dafür. Henriette geht auf den Tausch ein, hält ihn aber vor ihrer Familie geheim. Sie hat ein schlechtes Gewissen, weil sie die Lebensmittel den Ihrigen weggenommen hat, damit sie einen außergewöhnlichen Ring bekommt, den sie nicht zu zeigen wagt. Erst viel später wird sie ihn ständig am Finger tragen. Er gehört so sehr zu ihr, dass ihre Enkelin Hedda aus der vierten Geschichte ihn sich oft erbeten wird, „um versuchsweise in ihre Haut zu schlüpfen“ (S. 153).

Die unbekannte, elegante Frau, die den Ring gegen Lebensmittel eintauscht, fährt nach dem Tausch mit zwei anderen Personen im Auto weg. Zwischen ihr und Henriette wird kein Wort zu viel geredet. Henriette weiß von ihr nichts und fragt auch nichts. Es bleibt ungewiss, weshalb die Fremde zu Henriette kommt. Hat sie jemand an das Mädchen verwiesen?

Die Erzählung spielt 1933. Zeichnet sich in Rumänien die Judenverfolgung bereits ab?

Um Verfolgungen geht es auch in der dritten Erzählung, um Verfolgungen Andersdenkender durch die Securitate, den kommunistischen rumänischen Geheimdienst. Frido, mit Henriettes Sohn Vicco befreundet, wird eingesperrt und gefoltert, weil er Texte eines regimekritischen Schriftstellers verborgen hat. Vicco versteht nicht, wie man seine „Zukunft wegen ein paar Gedichten aufs Spiel“ (S. 111) setzt. „Es sind nicht nur ein paar Gedichte“ (S. 111), erwidert Fridos Frau. Vicco selbst hat sich im engen Land eingerichtet. Als er erfährt, dass seine Mutter Henriette nach Deutschland auswandern will, entgegnet er ihr: „Ich bin hier frei. Und wenn ich es manchmal nicht bin, dann bin ich hier wenigstens zu Hause“ (S. 123). Aber er hat Freunde, „die die Grenzen ihrer Welt nicht so einfach hinnehmen konnten“ (S. 97).

In dieser dritten und auch der vierten Erzählung wird spürbar, wie tief das Trauma der Verschleppung der Siebenbürger Sachsen 1945 in die Sowjetunion und die dortige Zwangsarbeit bis in die Gegenwart reicht. „Die Verwechslung von Partei- und Volkszugehörigkeit“ (S. 104) hatte es nach dem Zweiten Weltkrieg möglich gemacht, „eine ganze Generation zu verschleppen“ (S. 104). Und noch unter Ceaușescu waren die Siebenbürger Sachsen als „Minderheit“ (S. 110) besonders gefährdet.

Die vierte Erzählung beschließt den Kreis: Hedda, Henriettes Enkelin, lebt zeitweise auf La Gomera, wo sie als Freiberuflerin Buchempfehlungen für deutsche Fach- und Bibliothekszeitschriften verfasst und mit einem Nebenjob auf der Insel gerade so über die Runden kommt. Ihre Mutter ruft an und bittet sie, nach Hause zu kommen, weil Vicco, der Vater, lebensgefährlich an Krebs erkrankt sei. Iris Wolff teilt ein weit verbreitetes Phänomen mit: dass sich die aus Siebenbürgen ausgewanderten Männer in Deutschland schwerer tun als die Frauen. „Vicco litt“ (S. 138). Hedda überlegt, was die Auswanderung mit ihr gemacht habe, sie weiß es nicht.

Für die Inselbewohner gibt es eine kleine Sensation, die sie tagelang beschäftigt: Ein unbekanntes Paar ist mit einem Fischerboot losgefahren und nicht wieder zurückgekommen. „Das Boot, der Fischer und das Pärchen blieben fort“ (S. 149). Hedda hatte die zwei am Strand gesehen, „ein Mann in kurzer Hose und Sandalen und eine Frau in einem bodenlangen, weißen Kleid. Es war zunächst dieses Kleid, das Heddas Aufmerksamkeit erregte“ (S. 129). Wenn Henriette auch ein wenig anders gekleidet war, erinnert die fremde Frau in Haltung und Kleidung doch an Heddas Großmutter. Sie verschwindet mit ihrem Begleiter und dem Fischer spurlos, ohne etwas zu hinterlassen. „Auf der Insel gab es kaum ein anderes Gesprächsthema als das Fischerboot. Es war einfach abhandengekommen, ohne Spur, ohne Zeichen der Not. Niemand konnte sich daran erinnern, etwas Ähnliches erlebt zu haben. Auf der Straße wurde, nach wenigen Sätzen, zu dem Ereignis übergewechselt. Neuigkeiten ausgetauscht, die kaum welche waren. Dann folgte bedauerndes, mitleidvolles Wiegen des Kopfes, als wäre etwas Unausweichliches eingetreten, etwas, das in seiner Tragweite vorherbestimmt war“ (S. 150).

Hedda trägt Henriettes Ring; Vicco stirbt. Die siebenbürgische Geschichte ist an ihr Ende gekommen. Die Fremden werden zeitgemäß mit einem Motorboot in die Unterwelt geleitet, nicht wie in der griechischen Mythologie mit einem Ruderboot.

„Bedeutet das etwas, fragt Hedda, wenn man die letzte war, die jemanden gesehen hat?“ (S. 160). Lollo, ihr Freund auf der Insel, weiß keine Antwort. Hedda ist in Iris Wolffs Roman die letzte, die siebenbürgisches Leben in seinen Resten kennengelernt hat. Sie hat keine Kinder. Mit ihr geht mehr als eine Familienüberlieferung zu Ende. Der Lebensweise der Siebenbürger Sachsen ist die ökonomische, geografische, soziale und kirchliche Grundlage innerhalb von drei Generationen verloren gegangen. Iris Wolffs Roman in vier Erzählungen ist eine wunderbare poetische Gestaltung dieses Prozesses, behutsam und stilsicher.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2020), Jg. 15, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 281–284.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments