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Temeswar und Wesprim: Zwei Europäische Kulturhauptstädte mit Flair

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Von Angela Ilić

 

Nach den Europäischen Kulturhauptstädten Rijeka/Fiume/St. Veit am Pflaum (2020/2021) und Neusatz/Novi Sad/Újvidék (2022) tragen 2023 sogar zwei Städte im Donau-Karpaten-Raum den Titel „Kulturhauptstadt Europas“: Temeswar (veraltet Temeschwar oder Temeschburg, rum Timișoara, ung. Temesvár, sr. Temišvar) und Wesprim (ung. Veszprém, sk. Vesprém) – wobei Letztere auch die gesamte Bakony-Plattensee-Region in deren unmittelbarer Nähe umfasst.[1]

Temeswar, das Klein-Wien an der Bega

Temeswar ist heute mit 320.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Rumäniens und das historische, kulturelle und wirtschaftliche Zentrum des rumänischen Banats. Die Stadt blickt auf eine bewegte Geschichte zurück, die durch zahlreiche Umbrüche und Zerstörungen geprägt war, unter anderem im Bauernkrieg, in den Türkenkriegen sowie als habsburgische Garnisonsstadt während der ungarischen Revolution 1848–1849. Bei der Revolution, die der Ceaușescu-Diktatur im Herbst und Winter 1989 ein Ende setzte, spielte Temeswar eine führende Rolle. Die mittelalterliche Burg hat mehrmals den Besitzer gewechselt, und auch die staatliche Zugehörigkeit der späteren königlichen Stadt änderte sich des Öfteren, am häufigsten im 20. Jahrhundert.

Historisch war die Stadt ein Zuhause für Vertreter verschiedener Nationalitäten und Konfessionen beziehungsweise Religionen. Im Jahr 1900 stellten die deutschen Muttersprachler mit 51,7 Prozent die absolute Mehrheit der zivilen Stadtbevölkerung. Ihnen folgten in der Statistik die Ungarischsprachigen mit knapp 36 Prozent, die Rumänischsprachigen mit knapp sieben Prozent sowie die Serbischsprachigen mit 2,8 Prozent. Die Sprecher dieser vier Sprachen machten insgesamt 97,5 Prozent der Stadtbevölkerung aus.

Temeswar war – und bleibt – ein wichtiges Zentrum für Angehörige verschiedener Konfessionen und Religionen, deren zahlreiche Sakralbauten das Stadtbild dominieren. Die rumänisch-orthodoxe Kathedrale der Heiligen drei Hierarchen ist zweifellos eines der Wahrzeichen der Stadt und Sitz der Banater Metropolie sowie des Erzbistums von Temeswar; der Dom ist die Kathedrale des römisch-katholischen Bistums von Timișoara; die Christi-Himmelfahrts-Kathedrale ist der geistliche Mittelpunkt der Serbisch-Orthodoxen Eparchie von Temišvar, und auch die Synagogen – vor allem die Synagoge in der Fabrikstadt – gehören zu den bekanntesten Gebäuden der Stadt. Um 1900 bildeten die römischen Katholiken (71,5 Prozent), die Juden (11,66 Prozent) und die Orthodoxen (zehn Prozent) die drei größten Glaubensgemeinschaften in Temeswar.

Die Verbindungen zur deutschen Sprache und Kultur waren besonders während der Zeit der Zugehörigkeit zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie evident. Diese ließen sich unter anderem durch die Veröffentlichung deutschsprachiger Zeitungen wie der Temesvarer Zeitung (seit 1852) und Zeitschriften wie Euphrosine. Erheiterungsblätter für Kunst, Literatur und gemeinnützige Unterhaltung (1851), durch das deutschsprachige Theater, das seine Wurzeln im 18. Jahrhundert hatte, im Bildungsbereich, in der kommunalen Politik sowie in zahlreichen weiteren Bereichen des Alltagslebens erkennen. Dank der zahlreichen imposanten Bauten, die die damaligen Trends der Wiener Architektur widerspiegelten, wurde Temeswar häufig als das „Klein-Wien an der Bega“ bezeichnet. Durch den Bau neuer Fabriken, den Zuzug von Arbeitern und die Eingliederung der Arbeitersiedlungen in die städtischen Strukturen wuchs die Einwohnerschaft der Stadt exponentiell.

Auch heute sind die Spuren der Multikulturalität und Multikonfessionalität, die Temeswar noch immer prägen, erkennbar. So kommt der seit 2020 amtierende Bürgermeister, Dominic Samuel Fritz, beispielsweise aus Deutschland. Im sozialistischen Rumänien fungierte Temeswar als eines der intellektuellen und künstlerischen Zentren der deutschen Minderheit, die durch ihre bereits bestehende Infrastruktur die Literatur-, Zeitungs- und Kulturproduktion ermöglichte.

Historisch war der Fluss Bega vor allem ein Transportweg; heute werden er und seine Umgebung eher als Orte für Sport und Freizeit geschätzt. Die im Jahr 1962 gegründete West-Universität Temeswar mit ihren zehn Fakultäten zieht mehrere Tausend Studierende in die Stadt.

Wesprim, die Stadt der Königinnen

Das in Transdanubien, nördlich des Plattensees (ung. Balaton) und in der Nähe von Stuhlweißenburg (ung. Székesfehérvár) gelegene Wesprim (auch als Weißbrünn bekannt) ist Verwaltungssitz des gleichnamigen Komitats und eine pulsierende Kleinstadt mit 60.000 Einwohnern. Vor allem im Mittelalter spielte Wesprim eine wichtige Rolle für den neu gegründeten ungarischen Staat und zählte – gemeinsam mit Gran (ung. Esztergom, sk. Ostrihom) und Stuhlweißenburg – zu dessen bedeutendsten Städten.

Die Burg in Wesprim – ursprünglich wahrscheinlich eine fränkische Festung – gehörte gemeinsam mit den Burgen in Gran und Stuhlweißenburg zu den ersten, im ausgehenden 10. Jahrhundert errichteten Steinburgen auf dem Gebiet des heutigen Ungarn. Auch im Zuge der Christianisierung Ungarns stand Wesprim im Mittelpunkt, als die entscheidende Schlacht zwischen dem heidnischen Thronanwärter, Koppány und seiner Armee auf der einen Seite und dem pro-christlichen, mit der aus Bayern stammenden Prinzessin Gisela bereits verheirateten Stephan (ung. István) auf der anderen Seite in der Nähe der Stadt stattfand. Wesprim wurde im Jahr 1009 zum ersten Bischofssitz Ungarns. König Stephan I. schenkte die Stadt und ihre Ländereien seiner Gemahlin. Von da an war die Stadt im Besitz der regierenden Königin von Ungarn, und die ungarischen Königinnen wurden jahrhundertelang vom Bischof von Veszprém gekrönt – daher auch der Name „Stadt der Königinnen“. Die überlebensgroßen Statuen des ersten Königspaars stehen seit 1938 an einem Aussichtspunkt am Ende der Burgstraße, in der Nähe der von Gisela gegründeten Kathedrale St. Michael, und sind zum beliebten Symbol der Stadt geworden.

In Wesprim befand sich die erste Hochschule Ungarns, das im 13. Jahrhundert gegründete Kapitelkolleg. Neben Theologie und Jura bot es auch ein Studium der freien Künste an. Das Kolleg fiel der Zerstörung der Stadt im Jahr 1276 zum Opfer und wurde nicht wiederaufgebaut. Erst im 20. Jahrhundert, im Jahr 1949, wurde eine Fakultät der Technischen Universität Budapest in Wesprim gegründet, die ab 1951 als selbstständige Universität wirkte und seit 2006 den Namen Pannonische Universität (ung. Pannon Egyetem) trägt. Heute wird sie von 11.000 Studierenden besucht.

Die Stadt wurde im Laufe ihrer turbulenten Geschichte des Öfteren geplündert oder stark beschädigt, zum Beispiel im Jahr 1552 durch osmanische, 1704 hingegen durch habsburgische Truppen, und erlebte mehrmals einen Besitzerwechsel. Auch ein Erdbeben im Jahr 1810 fügte ihr Schaden zu, und Teile der Stadt wurden bei starken Kämpfen am Ende des Zweiten Weltkriegs zerstört. Zum Glück blieb das alte Burgviertel dabei weitgehend verschont. Zwischen 1945 und 1953 erfolgte ein Wiederaufbau, der Wesprim fast seine ursprüngliche Pracht zurückgab.

Zahlreiche Dörfer in der Umgebung Wesprims hatten durch ihre Geschichte deutschsprachige Einwohner. Der Anteil der deutschen Muttersprachler im Komitat Wesprim belief sich im Jahr 1890 auf 16,7 Prozent, danach sank er kontinuierlich: auf 14,6 Prozent im Jahr 1900, nach dem Ersten Weltkrieg auf 11,3 Prozent (1920) und weiter auf 9,4 Prozent (1930). Nach zahlreichen Umbrüchen und Tragödien, die die Ungarndeutschen betrafen, reduzierte sich ihre Zahl drastisch.

Heute ist Wesprim – vor allem dank seiner Lage nahe dem Plattensee – ein beliebtes Touristenziel, aber auch seine Umgebung bietet viel Interessantes: Die Stadt ist von einem der berühmten Weinbaugebiete Ungarns umgeben, und auch Orte wie Tihany mit seiner im 11. Jahrhundert gestifteten und in ihrer heutigen Form barocken Benediktinerabtei, Großwaschon (ung. Nagyvázsony) mit seiner Burg aus dem 15. Jahrhundert und Sirtz (ung. Zirc) mit seiner im 12. Jahrhundert gestifteten Zisterzienserabtei liegen alle in der Nähe.

Temeswar und Wesprim im IKGS und in den Spiegelungen

Das IKGS hat eine lange und enge Verbindung zu Temeswar: Im IKGS-Archiv und in der IKGS-Bibliothek befinden sich zahlreiche Bestände, Sammlungen und Nachlässe mit Bezügen zu Temeswar und seiner Umgebung. Diese Verbundenheit lässt sich auch daran erkennen, dass Beiträge zur Geschichte und zum Kulturleben der Stadt immer wieder in den Spiegelungen veröffentlicht werden. Anfang 2023 sind gleich zwei im IKGS entstandene oder betreute Bände im Verlag Friedrich Pustet in Regensburg erschienen: Temeswar/Timișoara. Kleine Stadtgeschichte von Konrad Gündisch und Tobias Weger sowie Kleine Geschichte des Banats. Umkämpfte Grenzen im östlichen Europa von Irina Marin. Letzteres Werk ist eine Übersetzung und Überarbeitung der ursprünglich englischen Ausgabe.

2021 wurde ein vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales unterstütztes Erschließungs- und Digitalisierungsprojekt im IKGS durchgeführt. Im Rahmen dieses Projekts konnten mehr als 1.000 Fotografien und historische Ansichtskarten erschlossen und für die Digitalisierung vorbereitet werden. Zusammen mit zahlreichen einschlägigen historischen Büchern, Zeitungen sowie Theaterplakaten aus der IKGS-Bibliothek wurden durch das Digitale Forum Mittel- und Osteuropa (DiFMOE) bis dato mehrere Hundert dieser Quellen bereits digitalisiert und der Öffentlichkeit in der Kulturhauptstadtsammlung Temeswar zur Verfügung gestellt.[2]

Die Veröffentlichungen und Projekte mit Bezug zu Temeswar (und den anderen Kulturhauptstädten) präsentieren wir im Laufe des Jahres 2023 bei zahlreichen Veranstaltungen. Details werden auf der IKGS-Website, in unserem Newsletter sowie auf Facebook rechtzeitig bekanntgemacht.

Auch in den Spiegelungen stellen wir, wie üblich, verschiedene Ereignisse, Personen und Themen aus beiden multikulturell geprägten Städten beziehungsweise Regionen vor. Dabei war es mir als Ressortleiterin wichtig, nicht nur die Städte selbst, sondern auch ihre historischen Verbindungen zueinander zu veranschaulichen. In diesem Sinne erschien im Heft 2/2022 bereits ein erster solcher Text über die Synagogenarchitektur Leopold Baumhorns in den drei Europäischen Kulturhauptstädten Rijeka, Neusatz und Temeswar.[3] Auch in diesem Heft setzen wird diese Sichtweise fort: Der Aufsatz von Tamara Scheer spannt einen Bogen von Temeswar nach Neusatz und stellt verschiedene Aspekte des Alltagslebens in den beiden habsburgischen Garnisonsstädten dar.

In der ersten Folge der neuen Rubrik „Südosteuropäische Spuren in Bayern“ beschäftigt sich Tobias Weger mit Gisela von Bayern, einem wichtigen Bindeglied zwischen Bayern und Ungarn im Mittelalter, die als erste Königin Ungarns ihre Spuren nicht nur in Süddeutschland, sondern auch in Wesprim hinterlassen hat.

Die Beiträge zu Temeswar und Wesprim sowie alle Beiträge zu den Europäischen Kulturhauptstädten in Südosteuropa seit 2020 finden Sie auch auf der Website der Spiegelungen unter www.spiegelungen.net. Die beiden Städte bleiben im ganzen Jahr im Mittelpunkt – so sind für das Heft 2/2023 weitere Beiträge zu diesem Thema geplant.

Lassen Sie sich nun auf eine spannende Zeitreise ein – ich wünsche Ihnen eine angenehme Lektüre!

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 188–192.

 

[1] Offizielle Programmseiten: <https://timisoara2023.eu/en/about/timisoara-2023/>, <https://veszprembalaton2023.hu/de>, 28.3.2023. Die griechische Stadt Elefsina (Eleusis) ist die dritte Europäische Kulturhauptstadt im Jahr 2023: <https://2023eleusis.eu/en/>, 28.3.2023.

[2] Kulturhauptstadtsammlung Temeswar, DiFMOE, <https://www.difmoe.info/projekte/sammlung-temeswar/>, 8.2.2023.

[3] Angela Ilić: Eine architektonische Brücke. Die Synagogenbauten Leopold Baumhorns in Rijeka, Neusatz und Temeswar. In: Spiegelungen 17 (2022) H. 1, S. 203–212, Online verfügbar unter <https://spiegelungen.net/architektonische-bruecke>,28.3.2023.