In der Zeit des Ostfränkischen Reiches, in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts, galten die immer wieder zu Heerzügen in den Westen aufbrechenden, zu dieser Zeit weder sesshaften noch christianisierten Ungarn als permanente Gefährdung. Dieser Zustand änderte sich erst, als Stephan I. sich taufen ließ und mit der noch jugendlichen Gisela von Bayern eine ottonische Prinzessin ehelichte. Dennoch hielt sich die Erinnerung an die vorausgegangene Zeit der Bedrohung im kulturellen Gedächtnis der bayerischen Bevölkerung noch über Jahrhunderte. Dieser Beitrag führt an einen Ort, an dem man diese Tradition bis heute nachvollziehen kann.
Im bewegten Moränen-Hügelland nordwestlich des Ammersees liegt das Pfarrdorf Eresing, vom ausgehenden Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert Sitz einer Hofmark mit niederer Gerichtsbarkeit. Seit dem 16. Jahrhundert war sie im Besitz der Familie von Füll. Das Umland von Eresing ist keine sehr reiche Gegend, die Böden sind eher karg. Gleichwohl ist in diesem Ort um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine der prachtvollsten Rokoko-Kirchen Oberbayerns entstanden. Ein bereits bestehender Vorgängerbau wurde unter der Leitung Dominikus Zimmermanns (1685–1766), des Architekten der weltberühmten Wieskirche, umgestaltet. Sein Schüler Nicolaus Schütz (1693–1785) aus dem nahen Landsberg am Lech schuf den überbordenden Wand- und Deckenstuck; als Maler gewann man hingegen den Künstler Franz Martin Kuen (1719–1771) aus dem schwäbischen Weißenhorn, der bei keinem Geringeren als Giovanni Battista Tiepolo (1696–1770) in Italien die Kunst der Freskomalerei erlernt hatte.
Die Pfarrkirche in Eresing ist dem heiligen Ulrich (890–973) geweiht, der ein halbes Jahrhundert lang, von 923 bis 973, das Bischofsamt in Augsburg bekleidete. In diese lange Zeit fallen besonders häufige Invasionen der Ungarn. Mithilfe ihrer wendigen Reitereinheiten plünderten und verwüsteten sie das Alpenvorland und gelangten bis vor die Tore Augsburgs. Ulrich, der mit den regierenden Ottonen in enger Verbindung stand, soll die Befestigung der Augsburger Stadtmauern vorangetrieben haben, die sich für die Ungarn als unüberwindbar erwiesen. Ein Engel, so berichtet die spätere Heiligenlegende, habe Bischof Ulrich ein Kreuz überreicht und ihm damit einen bevorstehenden Sieg angekündigt. Am 10. August 955 traten Ulrich und der ostfränkische König und spätere römische Kaiser Otto I. (912–973) mit einer großen Streitmacht den Ungarn auf dem Lechfeld bei Augsburg entgegen. Der Sieg des Königs und des Bischofs trug dazu bei, die Ungarn dauerhaft aus Bayern zu vertreiben. Er ebnete Otto 962 den Weg zur Kaiserkrönung in Rom und führte zur Heiligsprechung Ulrichs, 20 Jahre nach dessen Tod. Namentlich im süddeutschen Raum, aber auch darüber hinaus führen zahlreiche Kirchen das Patrozinium des heiligen Ulrich, ganz besonders im Bereich des Bistums Augsburg, zu dem auch Eresing gehört.
Franz Martin Kuen schmückte 1757 die Langhausdecke der Eresinger St.-Ulrichs-Kirche mit einem Fresko, dessen szenischer Aufbau an eine Theaterkulisse denken lässt und den Betrachter durch seine extreme Perspektive zu einem Zeugen des Geschehens macht. In der Bildmitte verlassen hoch zu Ross Otto I. und Ulrich, der gerade von einem Engel das Siegkreuz erhält, die Stadt Augsburg, um die Ungarn anzugreifen. Bereits auf dieser Ebene spielen sich Einzelkämpfe zwischen panzerbewehrten Rittern und ungarischen Reitern ab. Die Ungarn tragen exotische, orientalisch anmutende Gewänder und eine turbanähnliche, federgeschmückte Kopfbedeckung. Sie kämpfen mit Säbeln gegen die Schwerter und Spieße der Ritter, wobei es der Freskant nicht an Drastik hat fehlen lassen: So hat einer der Ritter gerade einen Angreifer enthauptet, während ein ungarischer Reiter, dessen intensiver Blick Fanatismus ausdrücken soll, seinerseits zum tödlichen Schlag gegen den Ritter ausholt. Im untersten Bildbereich scheint ein Ungar auf seinem Pferd regelrecht aus dem Bild zu springen, während neben ihm ein zu Boden gestürzter Landsmann seinen Verletzungen erliegt. Der Sieg des von Otto und Ulrich angeführten Heeres wird nicht nur durch das Siegkreuz in der Bildmitte angedeutet. Das Kreuz erscheint auch am entgegengesetzten Ende des länglichen Freskos auf einer blauen Fahne, die ein Engel trägt, versehen mit der Umschrift »In hoc signo vinces«. Dieser berühmte Spruch – »In diesem Zeichen wirst Du siegen« – wird eigentlich mit dem legendären Sieg Konstantins des Großen (um 280–337) über seinen Konkurrenten Maxentius (um 278–312) in der Schlacht an der Milvischen Brücke im Jahr 312 n. Chr. assoziiert.
Besonders aufschlussreich ist die Art der Darstellung der Ungarn auf diesem Fresko. Sie sollten exotisch wirken, heidnisch und abschreckend. Der Künstler gab ihnen eine stark an osmanische Gewandungen erinnernde Bekleidung. Ganz offensichtlich wirkten auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die »Türkenkriege« noch lange im kulturellen Gedächtnis der Bevölkerung nach. So parallelisierte man die in den Quellen als besonders grausam überlieferten Gegner des 10. Jahrhunderts mit den 750 Jahre später auf dem Balkan bekämpften Osmanen. Auch wenn man nie persönlich, etwa als Angehöriger eines bayerischen oder österreichischen Heeres, mit den Osmanen in Kontakt geraten war, so war ihr stereotypisiertes Aussehen doch in unzähligen Bilddarstellungen, Drucken und Gemälden, verbreitet. Der Typ des »Osmanen« musste im 18. Jahrhundert als Inkarnation von Rohheit, Gewalt und Bedrohung herhalten, ganz gleich, welche geschichtliche Epoche mit dem jeweiligen Bild bezeichnet werden sollte. Ungarn, Hunnen und Mongolen erhielten in der populären Ikonografie ein »türkisches« Aussehen; sie wurden zu Prototypen der »Ungläubigen«, gegen die jedes Mittel recht war.
Eine weitere oberbayerische Ortslegende nimmt auf den Ungarneinfall von 955 Bezug: In Keferloh, einem Weiler im Münchner Osten, fanden in früheren Jahrhunderten überregional bedeutsame Pferdemärkte statt. Der Legende nach soll Graf Eberhard von Ebersberg nach der Schlacht auf dem Lechfeld über 17.000 Pferde getöteter Ungarn eingefangen und mit herrscherlicher Erlaubnis in Keferloh verkauft haben, wodurch der jedes Jahr ebenfalls am 10. August abgehaltene Pferdemarkt entstanden sei. Für diese Ursprungslegende gibt es keinerlei schriftliche oder materielle Belege.
Die Erinnerung an die Schlacht auf dem Lechfeld wird 2023/24 wieder wachgerufen. Mit einem Jubiläumsjahr begeht die Diözese Augsburg unter dem Leitwort »Mit dem Ohr des Herzens« den 1100. Jahrestag der Bischofsweihe und den 1050. Todestag des heiligen Bistumspatrons Ulrich. Heute können sich Augsburger, Bayern und Ungarn mit einem Augenzwinkern an die frühmittelalterliche Konfliktgeschichte erinnern, die nur noch in alten Chroniken und künstlerischen Artefakten wie dem Eresinger Kirchenfresko weiterlebt.
Tobias Weger
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 236–239.