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Tünde Katona: Von Lebenden und Toten. Medien der Gedächtnisbewahrung in der Frühen Neuzeit in Ungarn | Rezension

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Tünde Katona: Von Lebenden und Toten. Medien der Gedächtnisbewahrung in der Frühen Neuzeit in Ungarn. Berlin: Frank & Timme 2023. 239 S.

Die Verfasserin befasst sich mit drei verschiedenen Textsorten, die vor allem aus Oberungarn aus der Frühen Neuzeit stammen, nämlich mit einem Testament, durch das eine städtische Stiftung gegründet wurde, Leichenpredigten sowie schließlich Stammbucheinträgen. Obwohl die aufgeführten Textsorten auf den ersten Blick nicht zusammenpassen, können sie alle drei als Medien der Gedächtnisbewahrung betrachtet werden. Es war die Grundidee der Autorin, diese Texte unter einem vereinheitlichenden Aspekt zu betrachten. Da sich ab den 1960er-Jahren in den Geisteswissenschaften eine Tendenz zur interdisziplinären Betrachtungsweise entwickelte, begann sich die Frühneuzeitforschung mit einem erweiterten Literaturbegriff zu beschäftigen, wozu auch verschiedene andere Arten der Gebrauchsliteratur gerechnet werden können, unter anderem »Kochrezepte, öffentliche Verordnungen, Gesetze, Verträge, Stammbucheintragungen, Gelegenheitsschrifttum und eben auch Leichenpredigten«. (S. 65)

Bevor sich die Autorin aber diesen Texten zuwandte, beschäftigte sie sich erst einmal mit einem interessanten Beispiel aus der gemeinsamen Geschichte, nämlich einem bislang zwar bekannten, aber nie genau untersuchten historiografischen Werk mit dem Titel Tabulae continentes breuem hystoriam de statu religionis et reipublicae in Hungaria Transylvania et vicinis regionibus ab Anno Domini 1550 in subsequentes annos des Siebenbürger Sachsen Michael Sieger (gestorben 1585), welches als Handschrift im Bestand der ungarischen Széchényi-Nationalbibliothek erhalten blieb. Sieger widmete sein Werk Stephan Báthory (Fürst von Siebenbürgen 1571–1586, König von Polen 1575–1586), der sich bekanntlich für die Geschichtsschreibung interessierte. Jedoch wird im Werk bereits der erste Fürst von Siebenbürgen Johann Sigismund Zápolya (1570–1571) als einer, der Sorge für die Geschichtswissenschaft trug, beschrieben. Die Autorin vertritt die Meinung, dass man anhand der erwähnten Quelle die bekannte Auffassung überdenken könnte, dass »die Initiative einer eigenständigen siebenbürgischen Geschichtsauffassung« (S. 43) sich erst mit dem Namen von Stephan Báthory verbindet.

Als nächstes erwähnt die Verfasserin ein wichtiges Schriftstück aus der Oberungarischen Region Zips (sk. Spiš, ung. Szepesség), welches zu der »Dokumentation der memoria« (S. 45) einer zur gesellschaftlichen Elite gehörenden Familie gerechnet werden kann. Jedoch besteht seine Funktion nicht allein im Festhalten an der Erinnerung, sondern es weist auch auf Perspektiven in die Zukunft. Es ist Gegenstand einer Stiftung, begründet durch das Testament des königlichen Statthalters und Landesrichters Alexius Thurzó (1490–1543). Als Mäzen beeinflusste er »bewusst und intensiv die geistige Entwicklung des Zipser Deutschtums in dem Zeitalter des Humanismus und der Reformation«. (S. 47) Thurzó vermachte in seinem Testament von 1542 der Stadt Leutschau (sk. Levoča, ung. Lőcse) »eine Summe von 10.000 ungarischen Floreni (Gulden)«. (S. 49) Zu den benannten Zuwendungen gehören unter anderem »die Unterstützung der Gymnasialbildung zweier Schüler sowie die Förderung der Auslandsstudien ebenfalls zweier jungen Männer«. (S. 51) Katona behauptet: »Das Testament Thurzós, die darin enthaltene Stiftung und die kontinuierliche, bewusste Förderung von Gelehrten in der Stadt Leutschau führten dazu, dass diese königliche Freistadt im 16. und 17. Jahrhundert das geistige Zentrum der Zips und eines der wichtigsten politisch-kulturellen Zentren des Königreichs Ungarns wurde«. (S. 54)

Einer der prominentesten Stipendiaten war der spätere evangelische Geistliche Stephanus Xylander (Holtzmann, 1572–1619), der durch seinen wichtigen Beitrag zur Geschichtsschreibung der Zips bekannt ist. Er führte die Jahrbücher der sogenannten Bruderschaft der 24 königlichen Pfarrer1Vgl. András Péter Szabó: Stephan Xylander és a szepességi testvérületi jegyzőkönyvek [Stephan Xylander und die Protokolle der Zipser Bruderschaft]. In: Péter Kónya, Annamária Kónyová (Hgg.): Od reformácie po založenie cirkvi: k 400. výročiu synody v Spišskom podhradí = A reformációtól egyházalapításig: a szepesváraljai zsinat 400. évfordulójára [Von der Reformation bis zur Kirchengründung: zum 400. Jahrestag der Synode von Kirchdrauf]. Prešov 2015, S. 165–175, besonders: S. 167–168., der kirchlichen Organisation der Zips.

Als nächste Vertreter der memoria werden drei Leichenpredigten der Zips angeführt. Die Leichenpredigten dienten dem menschlichen Bedürfnis, auch nach dem Tod im Gedächtnis der Nachwelt in Erinnerung zu bleiben, dessen Anspruch sowohl im Zusammenhang mit dem Verstorbenen als auch für den Verfasser der Predigten gültig war. Besonderheit der Gattung Leichenpredigt war, dass sie zunächst vor der Gemeinde vorgetragen und später gedruckt wurde, womit auch diejenigen Personen berücksichtigt wurden, die bei der Beerdigung nicht anwesend sein konnten. Wie weit die Texte dabei verändert wurden, ist für die Nachwelt nicht mehr erschließbar.

Es gibt in Ungarn um die 60 deutschsprachige Leichenpredigten aus dem 16. –17. Jahrhundert, von denen mehr als die Hälfte in der Zips, in Leutschau, gedruckt wurden. Diese Leichenpredigten bilden wiederum ungefähr ein Sechstel der deutschsprachigen Drucke aus dem Ungarn des 16. –17. Jahrhunderts. (S. 83)

Da die Verfasser dieser Predigten gelehrte protestantische Prediger waren, waren sie auch um die Aufrechterhaltung der geistlichen Literatur bemüht und benutzten dabei »profane Inhalte und Formen« (S. 67), wodurch sie auch ihre Kompetenzen im Bereich der Poesie bewiesen. Zu ihnen gehört zum Beispiel der in der Zips gebürtige evangelische Theologe Daniel Klesch (1624–1697), der Mitglied von deutschen Sprachgesellschaften war, mitunter sowohl der Fruchtbringenden Gesellschaft als auch der Deutschgesinnten Genossenschaft.

Die Verfasserin hat drei Predigten ausgewählt: eine über eine reiche Bürgerfrau, die andere über den bereits erwähnten Stephan Xylander und eine dritte über den ungarischen Palatin (nádor/ Statthalter des Königs) Stanislaus III. Thurzó (1576–1625). Die erste Predigt betrifft Anna Reuter (1577–1645), die Witwe eines Schemnitzer (sk. Banská Štiavnica, ung. Selmecbánya) Waldbürgers und Stadtrichters Udalrich/Ulrich Reuter (1563–1619). Anna Reuter hat zu Lebzeiten nicht nur kostbare Gegenstände der Schemnitzer Kirche vermacht, sondern stiftete 1642 auch ein Stipendium für mittellose Studenten, wodurch sie sich, wie es in der Predigt heißt, »einen unsterblichen Namen gemacht« (S. 72) hat. Der Prediger Valentin Rulich baut seine Predigt nicht nur auf einer Stelle aus dem apokryphen Buch Judit (16,25–29) sowie aus anderen Stellen der Bibel auf, sondern beruft sich auch auf wichtige weltliche Autoritäten wie zum Beispiel Herodot oder Aristoteles und erwähnt auch neuzeitliche Autoren, mitunter auch katholische wie den Franziskaner Antonio de Guevara (ca. 1480–1545) oder den protestantischen neulateinischen Dichter Johann Stigel/Stigelius (1515–1562). So hat Rulich in seiner Predigt durch »ein Geflecht von biblisch-religiösem und weltlichem Wissen mit Hinweisen und Anknüpfungen an die Biographie der Verstorbenen« (S. 77) nicht nur für die Verstorbene, sondern auch für ihn selbst ein würdiges Denkmal geschaffen.

Die nächsten zwei Predigten wurden von dem in der Zips tätigen evangelischen Prediger und Superintendenten der Oberungarischen fünf freien Städte (Pentapolis) Peter Zabler (vermutlich 1578–1646) verfasst. In der ersten Predigt gedenkt er seines berühmten Amtskollegen, des bereits erwähnten Stephan Xylander. Grundgedanke der Rede ist das Leben als Pilgerschaft, wobei er sich auf Genesis 47,9 sowie weitere Bibelstellen stützt; sein Gedankengang wird durch zwei Zitate aus Kirchenliedern abwechslungsreicher gemacht. Xylanders Leben wird als musterhaftes Vorbild für die Gemeinde dargestellt, wobei die Predigt einer »wissenschaftlichen Abhandlung ähnelt«. (S. 87) Die zweite Predigt von Zabler betrifft wie erwähnt den Palatin Stanislaus III. Thurzó, der ein gelehrter Mann war. Er studierte an den Universitäten von Padua, Bologna und Siena und sprach Ungarisch, Deutsch, Latein, Slowakisch und Tschechisch. Zabler benutzt eine Betrachtungsweise, die in der ungarischen kirchlichen Literatur des 16. Jahrhunderts des Öfteren erscheint: Ein geschichtlicher Schicksalsschlag wird als Strafe Gottes für die Sünden des Volkes gedeutet.2Vgl. Sándor Őze: »Bűneiért bünteti Isten a magyar népet«. Egy bibliai párhuzam vizsgálata a XVI. századi nyomtatott egyházi irodalom alapján. [»Für ihre Sünden straft Gott das Volk«. Untersuchung einer biblischen Parallele aufgrund der gedruckten kirchlichen Literatur des 16. Jahrhunderts] Budapest 1991. Er betrachtet den Tod des Palatins im Zusammenhang mit der Eroberung Ungarns durch die Osmanen und dass dem Land der Untergang droht, wenn der erste Mann nach dem König, der durch besondere Qualitäten gekennzeichnet ist, stirbt. Um die besondere Führungsqualität des Verstorbenen herauszustellen, werden neben den biblischen Bezügen auch Zitate antiker Autoren benutzt und schließlich auch die Karl dem Großen zugeschriebene Grabschrift des Helden Roland (gestorben 778), die in der deutschen Übersetzung zitiert wird. In der Leichenpredigt entwirft Zabler also ein Bild über Stanislaus Thurzó als beispielhaften Fürsten »und Anführer, der dank seiner herausragenden persönlichen Eigenschaften [gerade] in Notsituationen der ungarischen Geschichte mustergültig handelte«. (S. 101)

So dient die in der Leichenpredigt dargestellte Erinnerung auch der Aufrechterhaltung einer Stadtgemeinschaft, einer Region oder sogar der Nation.

Die letzte im Buch behandelte Gattung bilden die Stammbucheinträge, zu Recht, da diese über Jahrhunderte hinweg der Entstehung einer Gemeinschaft und der memoria eines Einzelnen sowie auch einer Gruppe dienen. Zur memoria einer Gruppe gehören die Stammbücher zweier protestantischer Pastoren aus Oberungarn, die wegen ihres Festhaltens an ihrem Glauben zu einer Galeerenstrafe verurteilt wurden. Die Alben sollen ihren Leidensweg festhalten und als »ein Monumentum, eine memoria der verfolgten Protestanten« (S. 111) dienen. Tünde Katona, die von Anfang an am Projekt Inscriptiones Alborum Amicorum (IAA) mitgearbeitet hat, stellt zum Schluss verschiedene Fälle der Grata vicinitas vor. Diese sind Albumeinträge, die durch spätere schriftliche Ergänzungen miteinander verbunden sind.

Der Anhang des Bandes leistet einen wichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen Abhandlung. Um den Lesern die Möglichkeit zu geben, sich in die untersuchten Quellen weiter zu vertiefen, werden hier Transkriptionen der zu der Darstellung benutzten Texte abgedruckt mit Ausnahme der Albumeinträge, die bereits in der IAA-Datenbank auffindbar sind. Einige dieser Texte wurden von der Verfasserin in früheren Publikationen schon veröffentlicht, jedoch transkribiert sie hier drei Leichenpredigten, die sonst nur in selten auffindbaren Drucken des 17. Jahrhunderts zugänglich sind und somit eine wichtige Quelle späterer Untersuchungen werden können.

Alles in allem bietet der Band anhand eines neuen und originellen Gedankengangs eine hervorragende Zusammenfassung der Ergebnisse der langjährigen wissenschaftlichen Tätigkeit der Verfasserin und stellt einen wichtigen Beitrag zu der memoria-Forschung im Ungarn des 16.–17. Jahrhunderts dar.

Klára Berzeviczy

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 121-124.

  • 1
    Vgl. András Péter Szabó: Stephan Xylander és a szepességi testvérületi jegyzőkönyvek [Stephan Xylander und die Protokolle der Zipser Bruderschaft]. In: Péter Kónya, Annamária Kónyová (Hgg.): Od reformácie po založenie cirkvi: k 400. výročiu synody v Spišskom podhradí = A reformációtól egyházalapításig: a szepesváraljai zsinat 400. évfordulójára [Von der Reformation bis zur Kirchengründung: zum 400. Jahrestag der Synode von Kirchdrauf]. Prešov 2015, S. 165–175, besonders: S. 167–168.
  • 2
    Vgl. Sándor Őze: »Bűneiért bünteti Isten a magyar népet«. Egy bibliai párhuzam vizsgálata a XVI. századi nyomtatott egyházi irodalom alapján. [»Für ihre Sünden straft Gott das Volk«. Untersuchung einer biblischen Parallele aufgrund der gedruckten kirchlichen Literatur des 16. Jahrhunderts] Budapest 1991.